Titel:
Reichweite der Rechtswegverweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit nach dem PAG
Normenketten:
GVG § 17a Abs. 2 S. 1
PAG Art. 18 Abs. 2, Art. 92 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 (idF bis zum 1.8.2021)
PAG Art. 16, Art. 17, Art. 18, Art. 97 Abs. 5, Art. 98 Abs. 2 Nr. 2
VwGO § 40 Abs. 1 S. 1, § 146 Abs. 1
Leitsätze:
1. Streitverfahren zur nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Freiheitsentziehung auf der Grundlage von Art. 17 PAG sind der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugewiesen (hier: „Herauszerren aus der Wohnung“, Festnahme, Fesselung, Verbringung auf die Polizeidienststelle, Festhalten auf der Polizeidienststelle für über zwei Stunden). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine nach dem Ende der Freiheitsentziehung erfolgte "Aussetzung vor der Polizeiwache“ - allem Anschein nach ein Platzverweis und (möglicherweise) dessen Vollstreckung im Wege des unmittelbaren Zwangs - ist von der Rechtswegverweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit nicht mehr erfasst. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beschwerde, Verweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit, Freiheitsentziehung durch die Polizei, Reichweite der Rechtswegverweisung, Rechtsweg, ordentliche Gerichtsbarkeit, Freiheitsentziehung, Polizei, Verweisung, Platzverweis
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 16.06.2021 – M 23 K 21.3175
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22147
Tenor
I. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 16. Juni 2021 wird aufgehoben, soweit sich das Verwaltungsgericht für die Entscheidung über die Klage der Klägerin zu 2. auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der „Aussetzung vor der Wache“ für unzuständig erklärt und den Rechtsstreit insofern an das Amtsgericht verwiesen hat. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II. Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Kläger zu 1. die Hälfte, die Klägerin zu 2. zwei Fünftel und der Beklagte ein Zehntel.
Gründe
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Die Kläger wenden sich mit ihrer Beschwerde gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, mit der dieses den Verwaltungsrechtsweg für die auf (nachträgliche) Feststellung der Rechtswidrigkeit polizeilicher Maßnahmen gerichtete Klage teilweise für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit insoweit an das Amtsgericht München verwiesen hat.
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Die Kläger waren bei einem Polizeieinsatz zur Vollstreckung eines familiengerichtlichen Beschlusses auf Herausgabe ihrer Kinder an einen Ergänzungspfleger am 18. November 2019 in Gewahrsam genommen, zu einer Polizeidienststelle verbracht und dort zwischen zwei und drei Stunden festgehalten worden. Die Klägerin zu 2. wurde darüber hinaus auch gefesselt. Nach Beendigung des Gewahrsams wurde gegenüber der Klägerin zu 2., die die Polizeidienststelle nicht ohne weitere Kleidung verlassen wollte, ein „Hausverbot“ (Darstellung der Klägerin zu 2.) bzw. ein „Platzverweis“ (Darstellung des Beklagten) ausgesprochen und möglicherweise (die Darstellung des Beklagten in der Verwaltungsakte einerseits und im gerichtlichen Verfahren anderseits widersprechen sich insofern) durch unmittelbaren Zwang auch vollstreckt.
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Die Kläger erhoben am 18. Dezember 2019 (Fortsetzungs-)Feststellungklage und beantragten
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hinsichtlich des Klägers zu 1. festzustellen, dass die Festnahme, die Verbringung zur Wache und die dortige Festsetzung rechtswidrig waren sowie
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hinsichtlich der Klägerin zu 2. festzustellen, dass das Herauszerren aus dem Haus, die Festnahme, die Fesselung, das Verbringen zur Wache, die dortige Festsetzung und die Aussetzung vor der Wache rechtswidrig waren und
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hinsichtlich beider Kläger festzustellen, dass die Mitwirkung bei der Durchsuchung der Wohnung rechtswidrig war.
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Mit einem in der mündlichen Verhandlung vom 16. Juni 2021 verkündeten Beschluss trennte das Verwaltungsgericht das Verfahren „hinsichtlich der Gewahrsamnahme (beginnend mit der Ingewahrsamnahme der Kläger bis zu deren Beendigung durch Verlassen der Polizeidienststelle)“ ab und führte das Verfahren insoweit unter einem neuen Aktenzeichen fort (Ziffer I. des Beschlusses - die Nummerierung im Tenor des später gefassten schriftlichen Beschlusses weicht hiervon ab). Darüber hinaus erklärte das Gericht den Verwaltungsrechtsweg hinsichtlich des abgetrennten Teils der Klage für unzulässig (Ziffer II. des Beschlusses) und verwies das Verfahren nach § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG i.V.m. § 173 VwGO an das örtlich zuständige Amtsgericht (Ziffer III. des Beschlusses).
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Die sofortige Beschwerde der Kläger vom 21. Juni 2021 wurde dem Verwaltungsgerichtshof erst am 25. Juli 2022 vorgelegt. Zur Begründung ihrer Beschwerde machen die Kläger im Wesentlichen geltend, der Schwerpunkt der polizeilichen Maßnahme habe auf dem „Eindringen in die Wohnung“ gelegen. Zwar bestehe zwischen der Festnahme als solcher und der Art und Weise der Ingewahrsamnahme ein sachlicher Zusammenhang. Dieser begründe aber ein Wahlrecht der Kläger. Ein Sachzusammenhang habe in gleicher Weise mit der Wohnungsdurchsuchung bestanden.
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Der Beklagte tritt der Beschwerde entgegen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten - auch im Berufungsverfahren 10 B 22.798, das die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Öffnen und Betreten der Wohnung der Kläger betrifft - Bezug genommen.
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Die zulässige Beschwerde der Kläger (§ 17a Abs. 4 Satz 3 GVG i.V.m. § 146 Abs. 1, § 147 VwGO) ist nur teilweise begründet.
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1. Der Senat geht davon aus, dass der Abtrennungs- und Verweisungsbeschluss des Verwaltungsgerichts vom 16. Juni 2021 trotz seiner mit Blick auf den Klageantrag unklaren Formulierung auch das von der Klägerin zu 2. erhobene Feststellungsbegehren hinsichtlich der „Aussetzung vor der Wache“ umfasst. Für eine davon abweichende Differenzierung geben die Beschlussgründe des Verwaltungsgerichts keinen Anhaltspunkt. Es ist auch nicht erkennbar, dass das Verwaltungsgericht diesen Streitgegenstand in irgendeiner Form im weiteren Verlauf des Ausgangsverfahren, das derzeit beim Senat als Berufungsverfahren 10 B 22.798 anhängig ist, gesondert behandelt hätte.
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2. Die Beschwerde ist unbegründet, soweit sie die Klage des Klägers zu 1, und die Klage der Klägerin zu 2, hinsichtlich der Streitgegenstände „Herauszerren aus dem Haus“, „Festnahme“, „Fesselung“, „Verbringen zur Wache“ und „die dortige Festsetzung“ betrifft.
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Insofern hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, dass schon der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht eröffnet ist, weil Streitverfahren zur nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung auf der Grundlage von Art. 17 PAG gemäß Art. 18 Abs. 2 i.V.m. Art. 92 Abs. 1 und 2 PAG in der zum Zeitpunkt der Klageerhebung am 18. Dezember 2019 und bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts (PAG-Neuordnungsgesetz) vom 18. Mai 2018 (GVBl. 2018 S. 301) am 31. Dezember 2019 geltenden Fassung (die entsprechenden Regelungen finden sich heute inhaltsgleich in Art. 18 i.V.m. Art. 97 Abs. 5 i.V.m. Art. 98 Abs. 2 Nr. 2 PAG n.F.) der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugewiesen sind (BavVGH, B.v. 1.8.2016 - 10 C 16.637 - juris Rn. 3; vgl. zu noch früheren Fassungen des PAG BayVGH, B.v. 27.10.1987 - 21 B 87.02000 - BayVBl 1988, 246 bestätigt durch BVerwG, B.v. 8.1.1988 - 1 B 168.87 - juris).
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Das Verwaltungsgericht ist zu Recht und von der Beschwerde nicht beanstandet davon ausgegangen, dass es sich bei der Ingewahrsamnahme, Verbringung auf die Polizeiwache und das Festhalten auf der Polizeiwache aufgrund der Dauer von über zwei Stunden, der Intensität der Freiheitsbeschränkung, der Fesselung (im Falle der Klägerin zu 1.) und der Verbringung an eine bestimmten Verwahrort jeweils um eine Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 18 PAG handelte (vgl. zu den Einzelheiten der Abgrenzung Schmidbauer in Schmidbauer/Steiner, PAG/POG, 5. Aufl. 2020, Art. 18 PAG Art. 18 Rn. 7 ff.; Grünewald in Möstl/Schwabenbauer, BeckOK PolR Bayern, Stand 1.7.2022, Art. 18 PAG Rn. 3). Eine Freiheitsentziehung liegt nämlich jedenfalls dann vor, wenn wie hier die - tatsächlich und rechtlich an sich gegebene - körperliche Bewegungsfreiheit durch staatliche Maßnahmen nach jeder Richtung hin aufgehoben wird (BaVGH, U.v. 20.3.2015 - 10 B 12.2280 - juris Rn. 83).
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Entgegen der Auffassung der Kläger steht die Freiheitsentziehung auch in keinem so engen Sachzusammenhang mit dem nachfolgenden Öffnen und Betreten der Wohnung der Kläger durch die Polizei, dass insofern die Annahme eines einheitlichen Rechtswegs zu den Verwaltungsgerichten gerechtfertigt wäre. Wohnungsdurchsuchungen und Freiheitsentziehungen können tatsächlich und rechtlich unabhängig voneinander erfolgen. Würde man schon jede zeitliche und räumliche Nähe beider Maßnahmen zueinander ausreichen lassen, um für Freiheitsentziehungen eine Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte anzunehmen, liefe die Rechtswegzuweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit in sehr vielen Fällen leer. Den Klägern steht entgegen ihrer Auffassung insofern auch kein Wahlrecht zu (BVerwG, B.v. 8.12.2021 - 5 B 1/21 - juris Rn. 26).
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Das Amtsgericht ist dabei für sämtliche hier streitgegenständlichen polizeilichen Maßnahmen (Festnahmen, „Herauszerren“ und Fesselung im Falle der Klägerin zu 2., Verbringung zur Polizeidienststelle, Festhalten auf der Polizeidienststelle) zuständig und nicht nur für die unmittelbare Entscheidung über die Ingewahrsamnahme nach Art. 17 PAG.
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Die Frage, wie weit die Rechtswegzuweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit reicht, wird unterschiedlich beantwortet. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH, U.v. 25.10.1988 - 21 B 88.01491 - juris Rn. 21) ist davon ausgegangen, dass für die Frage, ob Maßnahmen während der Ingewahrsamnahme rechtmäßig sind, derselbe Rechtsweg wie für die gerichtliche Überprüfung der grundsätzlichen Zulässigkeit (und Fortdauer) der Ingewahrsamnahme gegeben ist, nämlich die richterliche Entscheidung des zuständigen Amtsgerichts. Die vom Landesgesetzgeber für Freiheitsentziehungsmaßnahmen ausgesprochene Ausnahme von der für solche Maßnahmen an sich gegebenen Rechtswegzuständigkeit der Verwaltungsgerichte sei trotz Fehlens einer ausdrücklichen Regelung auch auf solche zusätzlichen polizeilichen Maßnahmen auszudehnen, die die Freiheit einer nach den genannten Vorschriften festgehaltenen Person weiter beschränken und die der Zweck der Freiheitsentziehung oder die Ordnung im Gewahrsam aus polizeilicher Sicht erforderten (so auch Schmidbauer in Steiner/Schmidbauer, PAG/POG 5. Aufl. 2020, Art. 92 PAG Rn. 41). Demgegenüber ist das Oberlandesgericht Celle (B.v. 23.6.2005 - 22 W 32/05 - juris Rn. 21) unter Berufung auf den Ausnahmecharakter der Rechtswegverweisung im niedersächsischen Landesrecht hinsichtlich der Ausgestaltung der Freiheitsentziehung („wie“) offensichtlich von einer diesbezüglichen Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts ausgegangen (in diesem Sinne für bestimme Maßnahmen während der Freiheitsentziehung wohl auch VG Augsburg, U.v. 10.12.2021 - Au 8 K 20.1952 - juris Rn. 19).
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Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung, ob an der bisherigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zur Reichweite der Rechtswegverweisung in vollem Umfang festzuhalten ist. Denn jedenfalls für die hier streitgegenständliche Konstellation, in der die zur Überprüfung gestellten Maßnahmen („Herauszerren aus der Wohnung“, Festnahme, Fesselung, Verbringung auf die Polizeidienststelle, Festhalten auf der Polizeidienststelle für über zwei Stunden) einen einheitlichen Lebenssachverhalt darstellen, der in seiner Gesamtheit ausschlaggebend dafür ist, „ob“ überhaupt eine Freiheitsentziehung - und nicht etwa eine bloße, von der Rechtswegverweisung des Art. 18 Abs. 2 i.V.m. Art. 92 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 PAG a.F. (Art. 18 i.V.m. Art. 97 Abs. 5 i.V.m. Art. 98 Abs. 2 Nr. 2 PAG n.F.) nicht erfasste Freiheitsbeschränkung - vorliegt, ist eine künstliche Aufspaltung in die Anordnung („ob“) der Ingewahrsamnahme und den Vollzug („wie“) der Ingewahrsamnahme nicht sachgerecht und daher fernliegend. Andernfalls drohte eine unterschiedliche Beurteilung eines einheitlichen Lebenssachverhaltes in unterschiedlichen Rechtswegen. Ob dies auch für polizeiliche Maßnahmen gilt, die für das Vorliegen einer Freiheitsentziehung selbst keine Bedeutung haben (z.B. Durchsuchung der Person, Modalitäten der Unterbringung während der Freiheitsentziehung etc.), kann im vorliegenden Fall dahinstehen.
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3. Die Beschwerde ist allerdings begründet, soweit das Verwaltungsgericht den Verwaltungsrechtsweg auch für die Klage der Klägerin zu 2. auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der „Aussetzung vor der Polizeiwache“ für unzulässig erklärt hat. Diese Maßnahmen, die allem Anschein nach einen Platzverweis (Art. 16 PAG) und (möglicherweise) dessen Vollstreckung im Wege des unmittelbaren Zwangs darstellten, fanden erkennbar nach dem Ende der Freiheitsentziehung statt und können von der Rechtswegverweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit nicht mehr erfasst sein.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO.
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Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, da sich die Beschwerdegebühr aus Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) ergibt. Der Senat hat davon abgesehen, die Gebühr zu ermäßigen, da die Klägerin zu 2. nur in geringem Umfang obsiegt hat.
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Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.