Inhalt

VG München, Urteil v. 21.06.2022 – M 2 K 19.1155
Titel:

Ermessensgründe für die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 3 S. 1 AufenthG

Normenketten:
AufenthG § 11
VwGO § 114 S. 1
BayVwVfG Art. 40
Leitsätze:
1. Die Ausländerbehörde muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten nach Ermessen festzusetzenden Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 3 S. 1 AufenthG das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, welches seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die insoweit ermittelte Frist ist zudem an höherrangigem Verfassungsrecht sowie an unions- und konventionsrechtlichen Vorgaben zu messen. Insoweit bedarf es nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einer umfassenden Abwägung aller im Einzelfall betroffenen Belange. Maßgeblicher Zeitpunkt ist die mündliche Verhandlung (vgl. BVerwG BeckRS 2017, 107083). (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Länge der Frist eines Einreise- und Aufenthaltsverbots, Ausweisungsinteresse, Verhältnismäßigkeit, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, strafrechtliche Verurteilung, gefährliche Körperverletzung, Ausweisungsverfügung, Höchstfrist, Ermessen
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22019

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen ein dreijähriges Einreise- und Aufenthaltsverbot.
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Der Kläger ist kosovarischer Staatsangehöriger und reiste am 10. Mai 2016 mit einem Visum zur Beschäftigung im Rahmen der sog. Westbalkanregelung ein. In der Folge erhielt er zunächst eine befristete Aufenthaltserlaubnis zur unselbstständigen Beschäftigung bei der Firma seines Bruders. Im Anschluss wurde auf seinen Verlängerungsantrag hin zunächst eine Fiktionsbescheinigung ausgestellt. Diese zog die Ausländerbehörde später ein, da sie davon Kenntnis erlangte, dass der Kläger bei einer anderen Firma beschäftigt sei, und stellte eine Duldung aus.
3
Mit Urteil vom 17. Oktober 2018 wurde der Kläger durch das Amtsgericht Augsburg rechtskräftig wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten auf Bewährung verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Kläger zusammen mit zwei anderen Personen in einer Augsburger Diskothek einen Dritten verletzte. Nachdem ein anderer Mittäter den Geschädigten im Anschluss an eine verbale Auseinandersetzung mit einem Cocktailglas attackiert hatte, hielt der Kläger zusammen mit dem dritten Mittäter den Geschädigte fest, sodass der ursprüngliche Angreifer noch mehrmals mit der Faust zuschlagen konnte. Gegen den Kläger war bei der Staatsanwaltschaft München ein weiteres Strafverfahren wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz anhängig, welches nur deshalb vorläufig eingestellt wurde, weil sich der Kläger nicht mehr im Bundesgebiet aufhielt.
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Der Kläger ist verheiratet und hat zwei minderjährige Kinder. Seine Frau und Kinder leben im Kosovo. Der Bruder des Klägers lebt in Deutschland; weitere enge familiäre Bindungen im Bundesgebiet bestehen nicht.
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Mit Bescheid vom 14. Februar 2019 wies die Beklagte den Kläger unter Anordnung des gegenständlichen dreijährigen Einreise- und Aufenthaltsverbotes aus, lehnte den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab, verpflichtete ihn unter Einräumung einer Ausreisefrist bis zum 14. März 2019 zur Ausreise und drohte die Abschiebung an.
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Zur Begründung des Einreise- und Aufenthaltsverbots wurden im Wesentlichen die strafrechtliche Verurteilung des Klägers und die aus der Tat resultierende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung angeführt. Bei der von dem Kläger verübten Straftat bestehe jedenfalls eine allgemeine Wiederholungs- und Rückfallgefahr. Zudem sei wegen des fehlenden sozialen Umfelds des Klägers in Deutschland nicht zu erwarten, dass er vor Ablauf der festgesetzten Frist die Gefahrenschwelle der §§ 53 ff. AufenthG unterschreiten werde.
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Gegen die Wiedereinreisesperre in Nummer 1 Satz 2 des Bescheids hat der Kläger mit Anwaltsschriftsatz vom 11. März 2019 Klage erhoben. Mit Schriftsätzen vom 11. März 2019 und 18. Juni 2019 trug er im Wesentlichen vor, dass die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots in ermessensfehlerhafter Weise zu lange angesetzt worden sei. Die Freiheitsstrafe sei auf Grundlage einer günstigen Sozialprognose zur Bewährung ausgesetzt worden. Der Straftat habe kein niedriger Beweggrund zugrunde gelegen, da der Kläger versucht hätte, den ebenfalls tatbeteiligten Familienangehörigen zu helfen. Dem Ausweisungszweck sei bereits durch die Ausreise Genüge getan und damit seien auch eventuell zu berücksichtigende generalpräventive Erwägungen abgegolten. Auch eine Wiederholungsgefahr drohe nicht, da der Kläger im Übrigen strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei. Etwaige weitere anhängige Ermittlungsverfahren seien bis zu einem rechtskräftigen Urteil nicht relevant.
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Der Kläger beantragt,
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Nummer 1 Satz 2 des Bescheids vom 14. Februar 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Einreise- und Aufenthaltsverbot unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu befristen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie trug vor allem vor, dass gerade bei Straftaten gegen Leib und Leben sowie die körperliche Unversehrtheit ein gewichtiges öffentliches Interesse an der Ausweisung bestehe und dies in der Folge wegen der generalpräventiven Wirkung der Ausweisung auch Auswirkungen auf die Dauer eines Einreiseverbots habe. Bei der Bemessung der Frist müsse der gesetzliche Rahmen zwar nicht vollständig ausgeschöpft werden, bei einer schwerwiegenden Straftat sei jedoch eine Frist angemessen, die deutlich über den bei geringfügigeren Straftaten - wie etwa einfacher Diebstahl oder unerlaubter Aufenthalt - anzuwendenden Fristen liege.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 21. Juni 2022, die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage hat keinen Erfolg. Nummer 1 Satz 2 des Bescheids ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten; ein Anspruch auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts besteht nicht (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO).
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I. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Für den Erlass genügt die Wirksamkeit der Ausweisung. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot soll im Falle der Ausweisung gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung erlassen werde (§ 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Nach § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen, wobei die Frist nach Satz 4 der Vorschrift mit der Ausreise beginnt. Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden; sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten (§ 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Nach § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG soll die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
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Die behördliche Befristungsentscheidung unterliegt als Ermessensentscheidung nach Art. 40 BayVwVfG einer gerichtlichen Kontrolle in den Grenzen von § 114 Satz 1 VwGO. Die Ausländerbehörde muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, welches seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die insoweit ermittelte Frist ist zudem an höherrangigem Verfassungsrecht sowie an unions- und konventionsrechtlichen Vorgaben zu messen. Insoweit bedarf es nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einer umfassenden Abwägung aller im Einzelfall betroffenen Belange. Maßgeblicher Zeitpunkt ist die mündliche Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 27.16 - juris Rn. 23).
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II. Die von der Beklagten unter Anwendung pflichtgemäßen Ermessens verfügte Sperrfrist begegnet unter Berücksichtigung des eingeschränkten gerichtlichen Prüfungsmaßstabs hinsichtlich der behördlichen Ermessensentscheidung (§ 114 Satz 1 VwGO) keinen rechtlichen Bedenken. Auch wurde sie gemeinsam mit der - inzwischen bestandskräftigen - Ausweisungsverfügung in Nummer 1 Satz 1 des Bescheids erlassen. Zudem bewegt sie sich in dem hier wegen der strafrechtlichen Verurteilung des Klägers wegen gefährlicher Körperverletzung anwendbaren Rahmen des § 11 Abs. 3 Satz 2, Abs. 5 AufenthG, der eine Höchstfrist von zehn Jahren vorsieht.
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Ermessenfehler bei der Festsetzung der konkreten Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots vermag das Gericht nicht zu erkennen. Insoweit ist die prognostische Einschätzung der Behörde am oben dargelegten Maßstab nicht zu beanstanden und ergibt sich ein abweichendes Ergebnis auch nicht aus sonstigen Vorgaben des höherrangigen Rechts. Der Kläger hat keine besonderen Bindungen in der Bundesrepublik vorgetragen. Die Ehefrau des Klägers und seine beiden Kinder leben im Kosovo. In Deutschland lebt allein der Bruder des Klägers; weitere enge familiäre Bindungen im Bundesgebiet sind nicht ersichtlich. Der Wunsch des Klägers, in Deutschland zu leben und zu arbeiten, ist kein relevantes Ermessenskriterium. Demgegenüber steht die erhebliche, durch strafrechtliche Verurteilung festgestellte Straftat des Klägers und die damit einhergehende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit. Die Straftat richtet sich gegen das gewichtige Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit. Zudem wurde sie mittäterschaftlich, also im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit anderen Beteiligten, begangen. Eine etwaige familiäre Beziehung der Mittäter untereinander vermindert die Gefährlichkeit der Straftat nicht. Selbst vor dem Hintergrund dieser gewichtigen Straftat bleibt die Behörde mit einer Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf drei Jahre noch deutlich unter der nicht erhöhten Höchstfrist von fünf Jahren (§ 11 Abs. 3 AufenthG), die für nicht auf einer strafrechtlichen Verurteilung beruhende Ausweisungen anwendbar ist. In einer Gesamtabwägung vermag die vorliegende Anlassverurteilung für sich genommen vor diesem Hintergrund ein dreijähriges Einreise- und Aufenthaltsverbot zu tragen. Entsprechend hat die Behörde den Bescheid auch nicht auf ein potentielles weiteres Ermittlungsverfahren gestützt, sodass es auf dessen Berücksichtigungsfähigkeit nicht ankommt.
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Im Ergebnis ist die Frist von drei Jahren auch unter Heranziehung höherrangigen Rechts erforderlich und angemessen, um der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu begegnen. Das festgesetzte dreijährige Einreise- und Aufenthaltsverbot ist rechtmäßig und der Kläger hat keinen Anspruch auf eine Herabsetzung der Frist bzw. Neubescheidung.
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Die Klage ist mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.