Titel:
Unzulässigkeit einer isolierten Anfechtungsklage gegen negativen Asylbescheid
Normenkette:
VwGO § 88
Leitsatz:
Allein die offensichtliche prozessuale Notwendigkeit eines Verpflichtungsantrags genügt nicht, dem ausschließlich in Gestalt eines Anfechtungsantrags formulierten Willen des anwaltlich vertretenen Klägers einen zusätzlichen Verpflichtungsgehalt – gerichtet auf die Gewährung irgendeiner Form des asylrechtlichen Schutzes – zu geben. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Afghanistan, Auslegung einer anwaltlichen Klageschrift, Unzulässigkeit einer isolierten Anfechtungsklage, statthafte Klageart, isolierte Anfechtungsklage, Verpflichtungsklage, fehlendes Rechtsschutzbedürfnis, Auslegung, anwaltliche Klageschrift, Unzulässigkeit, Herkunftsland Afghanistan
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22018
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Nach eigenen Angaben reiste der Kläger, ein afghanischer Staatsangehöriger, im Dezember 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er stellte am 6. Juni 2016 einen förmlichen Asylantrag.
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Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 11. Oktober 2016 gab er an, Afghanistan im September 2015 wegen Schwierigkeiten mit den Taliban verlassen zu haben.
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Mit Bescheid vom 19. April 2017, am 21. April 2017 zugestellt, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 4) und drohte dem Kläger mit einer Ausreisefrist von 30 Tagen die Abschiebung nach Afghanistan an (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Am 5. Mai 2017 erhob der Kläger durch eine bevollmächtigte Rechtsanwaltskanzlei Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München mit dem Antrag,
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den Bescheid des Bundesamts aufzuheben.
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Die Klage wurde nicht begründet.
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Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
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Mit Beschluss vom 14. April 2022 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen, § 76 Abs. 1 AsylG.
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In der mündlichen Verhandlung am 1. Juli 2022 war der Kläger weder persönlich anwesend noch durch einen Bevollmächtigten vertreten. Die Beklagte war ebenfalls nicht vertreten.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung, die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung anwesend oder vertreten waren. Denn in den ordnungsgemäßen Ladungen ist auf diese Möglichkeit hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
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I. Die Klage ist unzulässig.
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Der Kläger hat innerhalb der Klagefrist des § 74 Abs. 1 AsylG lediglich eine Anfechtungsklage, aber keine Verpflichtungsklage erhoben (1.). Für eine isolierte Anfechtungsklage fehlt das Rechtsschutzbedürfnis (2.).
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1. Statthafte Klageart ist vorliegend allein die Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage. Eine solche wurde nicht erhoben. Der anwaltlich vertretene Kläger nahm vorliegend entsprechend dem Gebot des § 82 Abs. 1 Satz 2 VwGO in die Klageschrift vom 5. Mai 2017 den für die Antragstellung in der mündlichen Verhandlung (§ 103 Abs. 3 VwGO) vorgesehenen Klageantrag auf, formulierte diesen jedoch ausdrücklich und ausschließlich als Anfechtungsantrag.
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Eine Auslegung bzw. Umdeutung zum Verpflichtungsantrag kommt nicht in Betracht. Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden; es hat vielmehr das tatsächliche Rechtsschutzbegehren zu ermitteln. Maßgebend für den Umfang des Klagebegehrens ist das aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel. Insoweit sind die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze (§§ 133, 157 BGB) heranzuziehen. Maßgebend ist der geäußerte Parteiwille, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und den sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück. Neben dem Klageantrag und der Klagebegründung ist auch die Interessenlage des Klägers zu berücksichtigen, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und sonstigen für das Gericht und die Beklagte als Empfänger der Prozesserklärung erkennbaren Umständen ergibt. Der gestellte Antrag ist danach so auszulegen bzw. umzudeuten, dass er den zu erkennenden Interessen des rechtsschutzsuchenden Bürgers bestmöglich Rechnung trägt (so BVerwG, U.v. 1.9.2016 - 4 C 4/15 - juris Rn. 9 m.w.N.). Ist der Kläger bei der Fassung des Klageantrages anwaltlich vertreten worden, kommt der Formulierung des Antrags allerdings gesteigerte Bedeutung für die Ermittlung des Gewollten zu. Selbst dann darf die Auslegung jedoch vom Antragswortlaut abweichen, wenn die Klagebegründung, die beigefügten Bescheide oder sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Klageziel von der Antragsfassung abweicht (so BVerwG, B.v. 13.1.2012 - 9 B 56/11 - juris Rn. 8).
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Aus diesen Anforderungen ergibt sich, dass eine Ermittlung des „wahren“ klägerischen Begehrens stets an dessen schriftliche oder gegebenenfalls mündliche Äußerungen im gerichtlichen Verfahren (und nicht etwa im vorgelagerten Verwaltungsverfahren; vgl. insoweit auch VG München, U.v. 6.4.2022 - M 28 K 17.44385 - Rn. 16) anknüpfen muss. Nur insoweit, aber nicht ohne einen solchen Anknüpfungspunkt kann sie das Gericht bei der Auslegung der Anträge und sonstiger Prozesserklärungen im Interesse des Klägers am rechtlich Gebotenen orientieren.
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Allein die offensichtliche prozessuale Notwendigkeit eines Verpflichtungsantrags genügt somit nicht, dem ausschließlich in Gestalt eines Anfechtungsantrags formulierten Willen des Klägers einen zusätzlichen (Verpflichtungs-)Gehalt - gerichtet auf die Gewährung irgendeiner Form des asylrechtlichen Schutzes (Art. 16a GG, §§ 3 ff., § 4 AsylG, § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG) - zu geben. Der anwaltlich vertretene Kläger hat nur formuliert, dass der streitgegenständliche Bescheid aufgehoben werden solle. Ein darüber hinausgehendes Klagebegehren lässt sich diesem Schriftsatz nicht (auch nicht etwa im Betreff) entnehmen. Auch eine Klagebegründung, aus der sich ein Verpflichtungsbegehren ergeben könnte, fehlt. In der mündlichen Verhandlung erfolgte, da weder der Kläger noch sein Bevollmächtigter anwesend waren, ebenfalls keine Präzisierung, so dass offen bleiben kann, ob diese mit Blick auf die Klagefrist überhaupt noch möglich gewesen wäre (vgl. VG München, U.v. 6.4.2022 - M 28 K 17.44385 - Rn. 18 ff.).
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2. Für die daher gebotene Auslegung des Antrags als isolierte Anfechtungsklage besteht in der vorliegenden Fallkonstellation - Ablehnung eines Asylantrags durch das Bundesamt als inhaltlich unbegründet - kein Rechtsschutzbedürfnis (vgl. BayVGH, B.v. 7.7.2016 - 20 ZB 16.30003 - juris Rn. 12; VG München, U.v. 6.4.2022 - M 28 K 17.44385 - Rn. 17 m.w.N.).
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II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.