Titel:
rechtmäßige Ausweisung eines faktischen Inländers
Normenketten:
AufenthG § 11 Abs. 2, Abs. 3, § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a, § 55 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 3
GG Art. 6 Abs. 1
EMRK Art. 8
Leitsätze:
1. Bei strafrechtlich relevantem, suchtbasiertem Verhalten kann eine künftige nachhaltige Verhaltensänderung nur angenommen werden, wenn der Ausländer sowohl eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat als auch die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende bereits dadurch glaubhaft gemacht hat, dass er sich außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
2. Weder aus Art. 6 Abs. 1 GG noch aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ergibt sich bei der zu prüfenden Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung kein unbedingter, ein das Ermessen auf Null reduzierender Vorrang des Kindeswohls vor entgegenstehenden öffentlichen Interessen. (Rn. 65) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Herkunftsland Kosovo, Antrag auf Wiederherstellung und Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, Wiederholungsgefahr, Vaterbeziehung zu einem deutschen Kind, Vollzugsinteresse bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Drogendelikte, Suchttherapie, faktischer Inländer, Kindeswohl
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22015
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen seine Ausweisung und ein verhängtes Einreise- und Aufenthaltsverbot.
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Der im Jahr 1992 in der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien als ältester von vier Kindern geborene Antragsteller ist kosovarischer Staatsangehöriger. Er reiste 1994 mit seiner Mutter zur Asylantragstellung in die Bundesrepublik ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte zwar die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigter ab, stellte aber mit Bescheid vom 1. Juli 1994 das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 51 Abs. 1 AuslG a.F. sowie ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 2 - 4 AuslG a.F. hinsichtlich Jugoslawiens fest.
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Der Antragsteller erhielt erstmals am 30. Mai 1995 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AuslG, die mehrfach verlängert wurde. Nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes wurde ihm ab Mai 2005, jeweils befristet, zunächst eine Aufenthaltserlaubnis nach § 29 AufenthG, später nach § 31 Abs. 3 AufenthG und schließlich - mit Blick auf den Bescheid des Bundesamts vom 1. Juli 1994 - eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG erteilt. Am 19. Februar 2018 und am 20. Februar 2018 stellte der Antragsteller einen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und erhielt daraufhin eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG.
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Der Antragsteller verließ zunächst ohne Abschluss nach der achten Klasse die Hauptschule, konnte den einfachen Hauptschulabschluss aber über eine Maßnahme beim Kolpingwerk nachholen. Aktenkundig ist, dass der Antragsteller seit dem 14. Lebensjahr regelmäßig rauchte, ab einem Alter von 16 Jahren viel Alkohol und sodann auch in erheblichem Umfang illegale Drogen (zunächst Marihuana, dann Cannabis und Kokain) konsumierte. Strafrechtlich trat der Antragsteller vielfach, erstmals im Alter von 15 Jahren in Erscheinung (näher Rn. 8 ff.). Eine 2008 begonnene Lehre zum Maler und Lackierer brach er nach wenigen Tagen ab, einer geregelten Arbeit ging er bislang nicht nach; er bezog Arbeitslosengeld. Auch weitere Ausbildungs- und Arbeitsversuche in den nächsten Jahren waren allenfalls kurzfristig erfolgreich. Auch eine in der Haft begonnene Ausbildung wurde nach Haftentlassung nicht fortgeführt. Nach seiner Haftentlassung im Februar 2018 nahm er an einem Anti-Gewalt-Training teil, aus dem er 2019 wegen anhaltender Aggression entlassen wurde. Einen kurz darauf begonnenen Ausbildungslehrgang brach der Antragsteller nach wenigen Monaten ab und trat als regelmäßiger Spieler an Automaten in Erscheinung; im Jahr 2019 verspielte er rund 5.000 EUR.
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Mit Bescheid vom 7. März 2018 widerrief das Bundesamt die getroffene Feststellung eines Abschiebungshindernisses, stellte ferner fest, dass die Flüchtlingseigenschaft sowie subsidiärer Schutz nicht zuerkannt werden und keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen. Das hiergegen angestrengte verwaltungsgerichtliche Verfahren endete mit Einstellungsbeschluss vom 21. Juni 2021 (M 17 K 18.31344).
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Mit Schreiben vom 8. März 2018 teilte die zuständige Ausländerbehörde dem Antragsteller mit, dass der Erlass einer Ausweisungsverfügung geprüft werde und gab Gelegenheit zur Stellungnahme. Mit Schreiben vom 30. Mai 2018 ließ der Antragsteller vortragen, dass in seinem Fall ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gegeben sei. Nach Prüfung sah die Ausländerbehörde vom Erlass einer Ausweisungsverfügung ab, wies den Antragsteller allerdings mit Schreiben vom 27. Dezember 2018 eindringlich darauf hin, dass mit Blick auf seine Verurteilung im Dezember 2015 (Rn. 10) eigentlich ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse bestünde und im Fall der Wiederholung eine Ausweisung drohe.
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Am 29. November 2018 wurde der Antragsteller Vater einer Tochter. Diese besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Mit der Mutter der Tochter ist der Antragsteller nach seinen Angaben verlobt. Die Mutter versorgt die gemeinsame Tochter im Wesentlichen alleine. Die Mutter zeigte den Antragsteller wegen einer vorsätzlichen Körperverletzung zu ihrem Nachteil im Juni 2019 an. War der Antragsteller nicht inhaftiert, so lebte er mangels eigener Wohnung überwiegend bei Bekannten, gelegentlich bei der Mutter seiner Tochter sowie bei seinen Eltern.
8
Strafrechtlich trat der Antragsteller erstmals im Jahr 2007 in Erscheinung, indem er einen Betrug in Tatmehrheit mit der Unterschlagung geringwertiger Sachen beging; von der Verfolgung wurde gemäß § 45 Abs. 2 JGG abgesehen. Im Februar 2009 wurde er wegen Ladendiebstahls zu Jugendarrest und der Teilnahme an einem Antigewalttraining verurteilt; der Jugendarrest wurde im März 2009 verbüßt. Im Juni 2009 wurde er wegen vorsätzlicher Körperverletzung, im Februar 2010 wegen Diebstahls, im Juli 2011 wegen vorsätzlicher Körperverletzung und versuchter Körperverletzung jeweils durch das Amtsgericht verurteilt.
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Im April 2012 wurde der Antragsteller sodann u.a. wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls in Tatmehrheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln durch Urteil des Landgerichts München II vom 26. April 2012 (unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts vom Juli 2011) zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Diese Strafe wurde von Januar 2013 bis Juli 2014 verbüßt. Aus der Verurteilung ist noch eine Reststrafe von 368 Tagen offen, deren Aussetzung zur Bewährung bereits widerrufen wurde.
10
Im Dezember 2015 wurde er wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung unter Einbeziehung des Urteils des Landgerichts München II vom 26. April 2012 zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Strafe verbüßte er von Mai 2016 bis zur Entlassung auf Bewährung im Februar 2018. Der zum Tatzeitpunkt im November 2009 17-jährige Antragsteller vollzog mit einer 13-jährigen - seiner damaligen Freundin - den Geschlechtsverkehr; ein Jahr später verletzte er diese mit einem Messer schwer. Bis 2014 fügte der Antragsteller ihr immer wieder mit erheblichem Aggressionspotenzial teilweise schwere Körperverletzungen zu.
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Im März 2021 wurde der Antragsteller, der sich seit Dezember 2019 in Untersuchungshaft befand, durch das Landgericht München II u.a. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Darüber hinaus wurde gemäß § 64 StPO die Unterbringung in eine Erziehungsanstalt angeordnet. Seit April 2021 ist der Antragsteller nach § 64 StGB in einer Klinik untergebracht. Beabsichtigt ist eine Therapiedauer von ca. zwei Jahren. Der Verurteilung lag u.a. der Plan des Antragstellers zugrunde, zusammen mit einem Mitangeklagten Abnehmern vorzutäuschen, sie könnten 3 kg Marihuana für einen Preis von 18.000 EUR liefern; geplant war das Geld ohne Gegenleistung für sich zu behalten. Die Beute wurde vereinbarungswidrig aber nicht unter den beiden Tätern gleichmäßig aufgeteilt, sondern der Antragsteller behielt den größeren Teil für sich. In einem ähnlichen Fall täuschte der Antragsteller weitere Abnehmer über die Menge des jeweils veräußerten Marihuanas. Im Rahmen einer Hausdurchsuchung wurden im Kühlschrank des Antragstellers 47,24 g Amphetamin zum Zwecke der Veräußerung sowie 23,55 g eines Kokaingemischs zum Eigengebrauch gefunden.
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Mit Schreiben vom 7. September 2021 teilte die zuständige Ausländerbehörde dem Antragsteller und der Mutter seiner Tochter mit, dass erneut der Erlass einer Ausweisungsverfügung geprüft werde, und gab Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Bevollmächtigte des Antragstellers und der Mutter beantragte, eine weniger einschneidende Maßnahme zu verhängen. Nach Abschluss der Therapie des Antragstellers bestünde keine Wiederholungsgefahr mehr. Außerdem bestehe zwischen dem Antragsteller und seiner Tochter eine positive Vater-Kind-Beziehung, er würde faktisch mit der Kindesmutter gemeinsam die elterliche Sorge ausüben. Der Antragsteller bekräftigte ferner selbst mit Schreiben vom 25. September 2021, die Chance nutzen zu wollen, die die Drogentherapie biete.
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Die zuständige Justizvollzugsanstalt teilte mit Schreiben vom 15. September 2021 der Ausländerbehörde mit, dass die Führung bislang durchschnittlich, jedoch nicht beanstandungsfrei verlaufen sei. Wegen einer Sachbeschädigung sei der Antragsteller im August 2020 disziplinarische geahndet worden. Die Suchtmittelkontrollen hätten durchwegs negative Ergebnis ergeben. Monatlich erhielt der Antragsteller Besuch von seiner Lebensgefährtin und der gemeinsamen Tochter. Die Klinik, in der der Antragsteller untergebracht ist, berichtete mit gutachterliche Stellungnahme vom 7. Oktober 2021, dass der Antragsteller regelmäßig Besuch von der Lebenspartnerin und der gemeinsamen Tochter erhalte und zu beiden täglicher telefonischer Kontakt bestünde. Ferner bestünde regelmäßig Telefonkontakt zu den Eltern und einem Freund. Der Antragsteller zeige sich auf der Station angepasst, nutze die unterschiedlichen Angebote und halte sich an die Stationsregeln. Es sei bisher zu keinem Suchtmittelrückfall gekommen, es könne von einem positiven Verlauf der Therapie gesprochen werden, die Fortsetzung werde befürwortet.
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Mit Bescheid vom 15. März 2022, dem Bevollmächtigten des Antragstellers am 21. März 2022 zugegangen, wies die Antragsgegnerin den Antragsteller aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 1), ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an und befristete es auf fünf Jahre ab Ausreise (Nr. 2) und lehnte die Anträge auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis vom 19. Februar 2018 und 20. Februar 2018 ab (Nr. 3). Dem Antragsteller wurde angekündigt, dass er nach erfülltem Strafanspruch des Staates aus der Haft in die Republik Kosovo abgeschoben werde. Sollte er aus der Haft entlassen werden, bevor die Abschiebung durchgeführt werden könne, sei der Antragsteller verpflichtet, das Bundesgebiet bis spätestens drei Wochen nach Entlassung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung in die Republik Kosovo oder in einen anderen Staat, in den der Antragsteller einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, angedroht (Nr. 4). Die sofortige Vollziehung der Nummer 1 und - insoweit ausdrücklich unter Hinweis auf § 84 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG nur „rein vorsorglich aus Gründen der Rechtssicherheit“ - der Nummer 2 wurde angeordnet (Nr. 5).
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Den auf § 53 Abs. 1 AufenthG gestützten Bescheid begründete die Ausländerbehörde damit, dass der Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährde. Die Gefährdung ergebe sich sowohl aus spezialpräventiven als auch aus generalpräventiven Gründen. In spezialpräventiver Hinsicht verwies sie auf die zahlreichen schon frühen strafrechtlichen Verurteilungen. Die Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren drei Monaten verwirkliche ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG. Insgesamt habe der Antragsteller seit seiner ersten Verurteilung zu einer Jugendstrafe im Jahr 2007 seine Delinquenz kontinuierlich und massiv gesteigert und dabei eine breite „Deliktspalette“ abgedeckt (Eigentums-, Körperverletzungs- und Drogendelikte). Er habe einen deutlichen Hang zur Gewalttätigkeit, neige dazu, sich zu bereichern und um seines Vorteils willen Straftaten zu begehen. Selbst Hafterfahrungen hätten ihn nicht davon abhalten können, immer wieder neue Straftaten zu begehen; die Teilnahme an einem Aggressionstraining sei abgebrochen worden. Es bestehe die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller in absehbarer Zeit wieder Straftaten begehen werde, auch wenn derzeit ein Therapieerfolg als wahrscheinlich erscheine und somit die Sozialprognose günstig ausfallen. Die Wiederholungsgefahr sei dennoch zu bejahen, weil auch schon bei der vorhergehenden Inhaftierung eine positive Sozialprognose (für die Aussetzung der Restfreiheitsstrafe auf Bewährung) getroffen worden sei, die jedoch nicht eingetreten sei; weitere Straftaten seien begangen worden. Auch die geänderte private Situation infolge der Geburt der Tochter hätten den Antragsteller nicht veranlasst, weitere Straften zu unterlassen und - zwecks Finanzierung der Familie - Arbeit aufzunehmen. Selbst der kriminelle Handel mit Betäubungsmitteln zielte offenbar nicht darauf, die Familie zu unterstützen, sondern darauf, den Drogenkonsum und die Spielsucht zu finanzieren (und eine Rolexuhr als Statussymbol zu erwerben). Der Antragsteller habe überdies seine Lebensgefährtin vor den Augen der (noch sehr kleinen) Tochter im Jahr 2019 geschlagen; ein diesbezüglich eingeleitetes Strafverfahren habe nur deshalb mit einem gerichtlichen Freispruch geendet, weil der Antragsteller sich zwischenzeitlich mit der Geschädigten verlobt hätte und diese somit von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch habe machen können. Der Antragsteller habe sich auch nicht jeweils in einer besonderen Lage befunden, deren Wiederholung nicht zu erwarten sei.
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In generalpräventiver Hinsicht sei die Ausweisung gerechtfertigt, weil sie an Straftaten anknüpfe, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet sei, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Gerade bei vielfach verbreiteten Drogendelikten sei davon auszugehen, dass eine konsequente Ausweisungspraxis andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten abhalten könne. Das Ausweisungsinteresse sei auch noch aktuell.
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Auch die gebotene Abwägung falle zulasten des Antragstellers aus. Das Ausweisungsinteresse wiege wegen der Straftaten besonders schwer (§ 54 Abs. 1 Nrn. 1, 1a AufenthG) und überwiege das Bleibeinteresse, obwohl auch dieses besonders schwer wiege angesichts dessen, dass der Antragsteller sein Umgangsrecht hinsichtlich eines deutschen Familienangehörigen ausübe (§ 55 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 3 AufenthG). Im Ergebnis sei es dem Antragsteller zuzumuten, sich in der Republik Kosovo trotz seines knapp 30-jährigen Aufenthalts seit Kleinkindertagen im Bundesgebiet zumindest zeitweise zurechtzufinden, zumal er sich in Deutschland auch erwerbstätig kaum betätigt habe. Zudem habe er sich seit seiner Kindheit mehrmals in der Republik Kosovo zu Verwandtschaftsbesuchen aufgehalten, mit seinen Eltern spreche er albanisch und verstehe sich auch als Albaner. So habe er sich in Schreiben gegenüber seiner Lebenspartnerin zur albanischen Tradition bekannt („Ich bin albanisch […] kein deutscher Kartoffelsack“) und auch Heimweh geäußert. Soweit seine Sprachkenntnisse zwischenzeitlich mangelhaft seien, könne er sie auffrischen. Rechnung zu tragen sei den langjährigen Bindungen nach Deutschland durch eine Befristung der Ausweisungswirkung auf nur fünf Jahre. Zur Abmilderung etwaiger Härten bestünde zudem die Möglichkeit, Betretenserlaubnisse für das Bundesgebiet zu beantragen.
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Zur Begründung des Sofortvollzugs wurde ausgeführt, überwiegende öffentliche Belange, die es rechtfertigten, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, lägen vor. Es sei konkret damit zu rechnen, dass der Antragsteller im Fall eines Zuwartens bis zum rechtskräftigen Abschluss des verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahrens gegen die Ausweisung weiterhin die öffentliche Sicherheit durch Straftaten in schwerwiegender Weise beeinträchtige.
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Am 14. April 2022 erhob der Bevollmächtigte des Antragstellers Klage (M 2 K 22.2182) und beantragten, den Bescheid vom 15. März 2022 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die beantragte Aufenthaltserlaubnis zu verlängern. Gleichzeitig beantragte er,
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die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß Ziffer 5 des Bescheids anzuordnen.
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Zur Begründung wurde vorgetragen, dass der Antragsteller die albanische und auch die serbokroatische Sprache nicht beherrsche und im Falle einer Rückführung in den Kosovo völlig hilflos wäre. Er habe keinen Kontakt zu seiner Familie mehr, die mit ihm gebrochen habe. Es sei zwar richtig, dass der Antragsteller mehrfach straffällig geworden sei, er befinde sich jedoch seit einem Jahr (erstmalig) in einer forensischen Klinik; er sei sehr motiviert und therapiewillig. Derzeit befinde er sich bereits in fortgeschrittener Lockerungsstufe und gehe außerhalb der Klinik einer Arbeit nach und nehme zuverlässig an therapeutischen Maßnahmen teil. Es könne mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einem positiven Verlauf der Therapie ausgegangen werden. Ärztlicherseits werde die Therapiefortsetzung ausdrücklich befürwortet. Ferner sei der Antragsteller Vater einer im November 2018 geborenen Tochter, die bei ihrer Mutter, einer Deutschen, lebe, die auch nach erneuter Straffälligkeit die langjährige Lebenspartnerschaft zum Antragsteller ausdrücklich aufrechterhalte und sich sehnlichst wünsche, mit dem Antragsteller nach Entlassung zusammen mit der Tochter in familiärer Lebensgemeinschaft zu wohnen. Sie habe bislang auch faktisch die gemeinsame elterliche Sorge ausgeübt. Vater und Tochter würden täglich telefonieren, auch regelmäßige Besuche fänden statt. Der Antragsteller habe zwischenzeitlich seine schädlichen Neigungen und seine Suchterkrankungen therapiert und sein Leben in den Griff bekommen. Der Antragsteller habe auch die in seiner Kindheit und Jugend bestehenden schwerwiegenden Erziehungsdefizite erfolgreich nachgeholt. Ziel des Strafverfahrens und der Therapie sei die Resozialisierung des Antragstellers, nicht aber seine endgültige Entwurzelung. Es sei nicht zielführend, anzunehmen, dass nach erfolgreicher und vom Steuerzahler finanzierten Therapie der weitere Aufenthalt des Antragstellers eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Bundesrepublik darstelle.
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Mit Schreiben vom 6. Mai 2022 beantragte der Antragsgegner,
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den Antrag abzulehnen.
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Es sei nicht anzunehmen, dass der Antragsteller nicht über albanische Sprachkenntnisse verfüge. Es sei realitätsfremd, davon auszugehen, dass nach der Einreise die Eltern mit dem damals zweijährigen Antragsteller ausschließlich deutsch gesprochen hätten. Vielmehr sei davon auszugehen, dass der deutsche Spracherwerb des Antragstellers spätestens ab der Kindergartenzeit außerhalb des Elternhauses erfolgt sei, im Elternhaus aber weiterhin größtenteils albanisch gesprochen werde. Dass der Antragsteller seine schädlichen Neigungen und sein Leben in den Griff bekommen habe, sei nicht nachvollziehbar. Ausweislich der gutachterlichen Stellungnahme vom 24. März 2022 sei es Anfang Januar 2022 zu einem Rückfall auf Spice gekommen. Außerdem garantiere der von der Klinik erwartete positive Verlauf der weiteren Therapie in der Zukunft kein sucht- und straffreies Leben. Das Rückfallrisiko sei sehr hoch.
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Mit Schreiben vom 17. Juni 2022 teilte der Antragsgegner mit, dass die zuständige Staatsanwaltschaft am 19. Mai 2022 nach § 72 Abs. 4 AufenthG ihr Einvernehmen zur Abschiebung erteilt und am 14. Juni 2022 nach § 456a StPO von der weiteren Vollstreckung zum Zeitpunkt der Abschiebung des Antragstellers aus dem Gebiet der Bundesrepublik abgesehen und für den Fall der Rückkehr die Nachholung der Vollstreckung angeordnet hat. Der Antragsgegner habe am 17. Juni 2022 beim Bayerischen Landesamt für Asyl und Rückführung die Durchführung der Abschiebung mit Sicherheitsbegleitung beantragt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 2 K 22.2182, und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
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Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig, aber unbegründet. Die behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung bzgl. der Ausweisung in Nr. 1 des Bescheids ist formell ordnungsgemäß begründet (B.I.) und die materiell-rechtlich gebotene Interessenabwägung fällt wegen voraussichtlicher Rechtmäßigkeit des Bescheids zu Lasten des Antragstellers aus (B.II). Außerdem besteht ein Interesse am Sofortvollzug (B.III). Auch soweit die übrigen Regelungen des Bescheids Gegenstand des Verfahrens sind, erweisen sie sich bei summarischer Prüfung als rechtmäßig (C.).
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A. Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung einer Klage im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen und im Falle des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO anordnen.
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I. Hinsichtlich der behördlichen Anordnung des Sofortvollzugs gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO bezüglich der Ausweisung (Nr. 1 des Bescheids) prüft das Gericht zunächst, ob diese formell rechtmäßig ist. Sodann trifft es eine eigene Abwägungsentscheidung zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind vorrangig die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein mögliche summarische Überprüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers jedenfalls dann zurück, wenn zudem ein besonderes Vollzugsinteresse der Behörde besteht. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Soweit der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar ist, verbleibt es bei einer Interessenabwägung.
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II. Hinsichtlich der gesetzlichen Anordnung des Sofortvollzugs nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO nimmt das Gericht ebenfalls eine eigene Abwägungsentscheidung nach den vorstehenden Kriterien vor; vorliegend entfällt die aufschiebende Wirkung der erhobenen Klage aus verschiedenen Gründen. Sie entfällt hinsichtlich der Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nummer 2 des Bescheids wegen § 84 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG (vgl. zur Auslegung der Norm VGH BW, B.v. 13.11.2019 - 11 S 2996/19 - juris Rn. 40 ff.; VG München, B.v. 13.12.2021 - M 10 S 21.5216 - juris Rn. 42), so dass es einer Anordnung durch die Behörde „aus Gründen der Rechtssicherheit“ nicht bedurft hätte; hinsichtlich der Ablehnung der Verlängerung des beantragten Aufenthaltstitels in Nummer 3 des Bescheids entfällt sie wegen § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und hinsichtlich der Abschiebungsandrohung in Nummer 4 des Bescheids wegen Art. 21a Satz 1 VwZVG.
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Der gestellte Antrag richtet sich allerdings nur gegen die in Nummer 5 des Bescheids genannten Nummern 1 und 2 und damit nur gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Ausweisung und dem Erlass bzw. der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots.
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B. Der Antrag gegen die behördliche Anordnung des Sofortvollzugs bezüglich der Ausweisung ist unbegründet.
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I. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist formell ordnungsgemäß. Für eine Begründung nach § 80 Abs. 3 VwGO ist eine auf die Umstände des konkreten Falles bezogene Darlegung des besonderen Interesses gerade an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts notwendig. Die Begründung kann durchaus knapp gehalten sein, aus ihr muss jedoch hervorgehen, dass sich die Behörde des rechtlichen Ausnahmecharakters der Anordnung bewusst ist und warum sie in concreto dem sofortigen Vollziehbarkeitsinteresse Vorrang vor dem Aufschubinteresse des Betroffenen einräumt. Eine inhaltliche Kontrolle dergestalt, ob die von der Verwaltung angeführten Gründe zutreffend sind, erfolgt hingegen an dieser Stelle nicht (vgl. BayVGH, B.v. 11.1.2018 - 20 CS 17.1913 - juris Rn. 13; Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 33. EL, Stand: Juni 2017, § 80 Rn. 245).
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Die Vollzugsanordnung ist vorliegend mit einer auf den konkreten Fall abstellenden und nicht lediglich formelhaften schriftlichen Begründung versehen; in ihr wird deutlich, warum nach Auffassung des Antragsgegners ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung besteht. Dies genügt den gesetzlichen Anforderungen.
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II. Nummer 1 des streitgegenständlichen Bescheids ist nach summarischer Prüfung formell und materiell rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
36
Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer ausgewiesen, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet (1.) und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (2.).
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1. Der weitere Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung. In spezialpräventiver Hinsicht ist davon auszugehen, dass von ihm weiterhin die Gefahr der Begehung von erheblichen Straftaten ausgeht. In generalpräventiver Hinsicht ist ebenfalls von einer Gefahrverwirklichung auszugehen.
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a) Nach ständiger Rechtsprechung haben im Falle der gerichtlichen Überprüfung einer behördlichen Ausweisungsentscheidung die Verwaltungsgerichte eine Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen; sie sind dabei nach allgemeinen Grundsätzen nicht an die Prognoseentscheidung der Ausländerbehörde gebunden (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18; BayVGH, B.v. 8.2.2021 - 10 ZB 21.83 - juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 24.3.2020 - 10 ZB 20.138 - Rn. 2). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prognose ist der Tag der gerichtlichen Entscheidung.
39
(aa) Bei einer Prognose ist zunächst der zukünftige Sachverhalt bzw. Zustand zu identifizieren, auf dessen (Nicht-)Eintritt es kraft Gesetzes ankommt (Prognoseereignis). Sodann ist zu bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit dieses Ereignis (nicht) eintreten muss (darf). Schließlich bedarf es der Anwendung einer Prognosemethode, und zwar einer Anwendung auf gegenwärtig bekannte oder erst noch zu erforschende Tatsachen (sog. Prognosebasis), um einen zumindest validen Schluss auf den Eintritt oder Nichteintritt des Prognoseereignisses zu ziehen (vgl. zum Ganzen Riese in Schoch/Schneider, VwGO, Stand: 36. EL Februar 2019, § 114 Rn. 153; Ramsauer, NordÖR 2019, 157/163; Schönenbroicher in Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 40 Rn. 124).
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(bb) Maßgebliches Prognoseereignis ist ausweislich des § 53 Abs. 1 AufenthG u.a. eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Aufenthalt des Ausländers. Insoweit kommt es erstens - spezialpräventive Perspektive - darauf an, ob der Antragsteller selbst mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten begehen wird und zweitens - generalpräventive Perspektive - ob, auch dann, wenn von dem Antragsteller selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr ausginge, andere Ausländer ohne die Ausweisung des Antragstellers als Reaktion auf sein Fehlverhalten nicht wirksam davon abgehalten würden, vergleichbare Delikte zu begehen.
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An die maßgebliche Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind nach allgemeinen Regeln umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist; hierbei ist auch der Rang des (durch den Antragsteller bei einem Rückfall bzw. durch andere Ausländer als Nachahmer) bedrohten Rechtsguts zu berücksichtigen. An die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18; BayVGH, B.v. 8.2.2021 - 10 ZB 21.83 - juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 24.3.2020 - 10 ZB 20.138 - Rn. 2). Mit Blick auf die Straftaten des Antragstellers, die erhebliche Rechtsgüter beeinträchtigt haben, insbesondere die körperliche Unversehrtheit, ist keine besonders hohe Wahrscheinlichkeit erforderlich.
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Da vorliegend eine Prognose über menschliches Verhalten (insbesondere den konkreten Antragsteller) zu treffen ist, stehen als Prognosemethode letztlich nur heuristische Erfahrungssätze zur Verfügung, die auf der Annahme basieren, das Wiederholung den Verhaltenskanons des Menschen kennzeichnet. Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass jemand ein in der Vergangenheit liegendes Verhalten - das ist die Prognosebasis -, jedenfalls dann, wenn es wiederholt praktiziert wurde, auch künftig wiederholen wird, solange nicht aufgrund veränderter Umstände im Einzelfall davon auszugehen ist, dass das einschlägige Verhaltensmuster nachhaltig aufgegeben wurde. Insoweit sind die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände - bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt - zentrales Element der Prognose (vgl. BayVGH, B.v. 8.2.2021 - 10 ZB 21.83 - juris Rn. 9). Insoweit können auch aus den Umstände der bisherigen Tatbegehungen Erkenntnisse für ein zu erwartendes künftiges Verhalten gewonnen werden.
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b) Das bisherige Verhalten des Antragstellers begründet die hinreichend wahrscheinliche Annahme, dass er in Zukunft weitere vergleichbare Straftaten begehen, also die öffentliche Sicherheit und Ordnung selbst gefährden wird (Spezialprävention).
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Der Antragsteller hat bereits als 17-jähriger und seither in enger zeitlicher Folge eine Vielzahl an Delikten begangen. Die Tatausführungen lassen zu einem großen Teil auf ein planmäßiges und geübtes Vorgehen und damit erhebliche kriminelle Energie schließen. Das Spektrum der Taten ist weit, es umfasst u.a. Straftaten gegen das Eigentum, die persönliche Freiheit und gegen die körperliche Unversehrtheit. Der Antragsteller hat außerdem Straftaten nach § 29 BtMG begangen. Obwohl der Antragsteller mehrfach verurteilt und auch inhaftiert wurde, hat er sich nicht von jeweils weiteren Straftaten abhalten lassen. Er hat sein Verhalten nicht verändert, alle Versuche, ihn von der Begehung neuer Straftaten abzuhalten, scheiterten.
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Dass der Antragsteller sich nun dennoch von seiner Einstellung zur Rechtsordnung handlungsleitend und längerfristig abgewendet hat, ist nicht ersichtlich. Die gegenwärtige Teilnahme an einer Therapie, durchaus mit Erfolg und Motivation, aber auch nicht vollends beanstandungsfrei (vgl. das Schreiben der Justizvollzugsanstalt vom 15.9.2021, vgl. oben Rn. 13), bietet zwar Anhaltspunkte für eine günstigere Prognose als bisher, wenngleich zu berücksichtigen ist, dass der Antragsteller schon einmal therapeutisch angebunden war und dennoch weitere Straftaten begangen hat. Jedoch werden hierdurch die Prognosebasis und der maßgebende Erfahrungssatz nicht entscheidend verändert.
46
Selbst im Falle einer abgeschlossenen Therapie besteht bei Drogenabhängigkeit ein nicht erhebliches Rückfallrisiko, das es nicht ohne Weiteres rechtfertigt, von einer geänderten Prognosebasis auszugehen und ein verändertes Verhaltensmuster der Prognose zugrunde zu legen. Die Folge und Kennzeichen der meisten Suchterkrankungen ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit, nicht nur punktuell, sondern sehr schnell, umfassend und unkontrolliert in alte Verhaltensmuster zurückzufallen, sobald auch nur einmal dem drogeninduzierten Drang nachgegeben wird (vgl. zu wissenschaftlichen Erkenntnissen jüngst BayVGH, B.v. 14.5.2021 - 19 ZB 20.2345 - juris Rn. 28). Deshalb kann bei strafrechtlich relevantem, suchtbasiertem Verhalten eine künftige nachhaltige Verhaltensänderung nur angenommen werden, wenn der Ausländer erstens eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und zweitens die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende bereits dadurch glaubhaft gemacht hat, dass er sich außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat. Vorher können grundsätzlich kein dauerhafter Einstellungswandel und keine innerlich gefestigte Verhaltensänderung angenommen werden, die einer Wiederholungsprognose entgegenstünden (vgl. BavVGH, B.v. 13.10.2017 - 10 ZB 17.1469 - juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 6.5.2015 - 10 ZB 15.231 - juris Rn. 11).
47
Der Antragsteller hat seine Therapie noch nicht abgeschlossen, an einer Bewährung in seinem privaten Lebensumfeld fehlt es ohnehin. Die zeitliche Nähe zu seinen Taten und seinem lang eingeübten Verhaltensmuster ist damit noch groß, eine die Prognose entscheidend zu seinen Gunsten verändernde Situation liegt nicht vor.
48
Dass die Ausweisung, sollte sie den Plänen des Antragsgegners entsprechend zeitnah vollstreckt werden, dem Antragsteller die Möglichkeit nehmen wird, die Therapie zu beenden und seine vorgetragene und in der Klinik auch gelebte Veränderungsbereitschaft durch praktisches Verhalten auch innerhalb der Gesellschaftsordnung zu demonstrieren und so die Prognosebasis zu seinem Gunsten zu verändern, kann wegen des maßgeblichen Zeitpunkts - der Tag der gerichtlichen Entscheidung - die Prognose nicht beeinflussen. Die Enttäuschung einer Therapiehoffnung kann das Recht insoweit nicht berücksichtigen; sie ist im Übrigen auch kein bei der Abwägung maßgeblich zu berücksichtigender Aspekt (vgl. noch Rn. 63).
49
Grundlegend hat sich die Prognosebasis auch nicht durch die Geburt der Tochter verändert. Der Antragsteller hat dieses Ereignis nicht als Zäsur begriffen, weiterhin Straftaten begangen und hierbei auf seine neue Rolle keine Rücksicht genommen. Dass nun die Vater-Tochter-Beziehung grundlegend verändernd auf den Vater eingewirkt hätte, ist derzeit nicht ausreichend wahrscheinlich (zur konkreten Ausgestaltung und Gewichtung dieser Beziehung vgl. noch Rn. 64 ff.).
50
c) Von dem weiteren Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet geht auch in generalpräventiver Hinsicht eine Gefährdung aus.
51
§ 53 Abs. 1 AufenthG erfasst auch diese Gefahrenperspektive, da dem Wortlaut nach nicht vom Ausländer selbst, sondern von dessen Aufenthalt die Gefahr ausgehen muss. Der weitere Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann mit einer entsprechenden Gefahr verbunden sein, auch wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht; dies ist der Fall, wenn bei Unterbleiben einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer nicht wirksam davon abgehalten würden, vergleichbare Delikte zu begehen (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 - 1 C 21/18 - Rn. 17).
52
Eine Ausweisung aus Gründen der Generalprävention ist demnach (nur) zulässig, wenn durch die Ausweisung andere Ausländer von der Begehung solcher Straftaten abgehalten werden sollen, die Tat besonders schwer wiegt und ein dringendes Bedürfnis danach besteht, auch andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere - über eine strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung - abzuhalten. Lediglich bei einzigartigen Verfehlungen singulären Charakters können generalpräventive Erwägungen eine Ausweisung nicht begründen, weil dann nicht die Gefahr besteht, dass auch ein anderer Ausländer vergleichbare Straftaten begehen wird (BayVHG, U.v. 21.5.2019 - 10 B 19.55 - juris Rn. 33).
53
Ferner kann eine generalpräventiv gestützte Ausweisung nur an ein Ausweisungsinteresse anknüpfen, das noch aktuell, also zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch vorhanden ist; denn jedes generalpräventive Ausweisungsinteresse verliert mit zunehmendem Zeitabstand an Bedeutung und kann ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr herangezogen werden. Zur Bestimmung der zeitlichen Grenze wird das strafrechtliche Verjährungsregime herangezogen. Die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, bildet eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln. Bei abgeurteilten Straftaten bilden die Tilgungsfristen des § 46 BZRG zudem eine absolute Obergrenze, weil nach deren Ablauf die Tat und die Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr nach § 51 BZRG nicht mehr vorgehalten werden dürfen (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 - 1 C 21/18 - Rn. 19).
54
Das vorliegend (auch) generalpräventiv begründete Ausweisungsinteresse wiegt nicht nur nach der gesetzlichen Typisierung gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1, 1a AufenthG, sondern auch nach der individuellen Würdigung der Tat unter Einbeziehung des generalpräventiven Anlasses besonders schwer. Bei Drogendelikten handelt es sich um ein weit verbreitetes Delikt. Der Antragsteller ist zudem serien- und planmäßig vorgegangen. Es besteht daher ein Bedürfnis dafür, anderen Ausländern deutlich zu machen, dass solche Straftaten neben der strafrechtlichen Sanktion eine Ausweisung nach sich ziehen können, gerade weil die strafrechtliche Sanktionierung allein oft nicht abschreckend wirkt. Die Taten des Antragstellers weisen auch keinen singulären Charakter auf.
55
Die Verurteilung vom 11. März 2021, die der Antragsgegner zum Anlass der Ausweisung genommen hat, ist unter Berücksichtigung der strafrechtlichen Verjährungsfristen und der Tilgungsfristen noch aktuell und kann daher herangezogen werden. Sie ist auch geeignet, andere Ausländer durch eine einheitliche Ausweisungspraxis von der Begehung vergleichbarer Straftaten abzuhalten.
56
2. Die nach § 53 Abs. 1 AufenthG gebotene Abwägung fällt zu Lasten des Antragstellers aus. Für diese Abwägung sind zunächst das Bleibeinteresse (a) und das Ausweisungsinteresse (b) zu ermitteln und für sich zu gewichten. Anschließend sind diese Belange mit ihrem Gewicht in Beziehung zu einander zu setzen und gegeneinander abzuwägen (c).
57
Welche Aspekte seitens des Antragstellers für die Abwägung berücksichtigungsfähig sind, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Typisiert nennt § 53 Abs. 2 AufenthG folgende Umstände als berücksichtigungswürdig: die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat. Eine weitere Konkretisierung (und sodann typisierte Gewichtung) erfahren diese Belange durch § 55 AufenthG.
58
Das Ausweisungsinteresse wird sich regelhaft aus der Wiederholungsgefahr ergeben, die nach § 53 Abs. 1 AufenthG den Anlass für die Ausweisung bildet. § 54 AufenthG gewichtet das Interesse nach typisierten Kriterien.
59
a) Ein Bleibeinteresse ergibt sich für den Antragsteller zunächst daraus, dass er seit Kleinkindertagen, mithin seit rund 28 Jahren. in der Bundesrepublik lebt („faktischer Inländer“) und sich - bis zum durch den streitgegenständlichen Bescheid abgelehnten Antrag - hier rechtmäßig aufgehalten hat. § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG gewichtet dieses Interesse als schwer. Hinzutritt das vom Gesetz als besonders schwer qualifizierte Bleibeinteresse durch die Ausübung des Personensorgerechts und des Umgangsrechts für eine minderjährige ledige Deutsche; seine 2018 geborene Tochter besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit (§ 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG). Außerdem besteht als Bleibeinteresse das Interesse des Antragstellers, seine Therapie fortzuführen, um zum einen seine Drogenabhängigkeit steuern zu können und zum anderen die Gelegenheit zu erhalten, seine Veränderungsbereitschaft auszuleben.
60
b) Das dem Bleibeinteresse gegenüberstehende Ausweisungsinteresse ergibt sich insbesondere aus dem Gewicht der begangenen Straftaten. Es wiegt nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG besonders schwer, weil der Antragsteller wegen vorsätzlicher Straftaten zuletzt rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden ist und sich die verurteilten Straftaten u.a. gegen die körperliche Unversehrtheit und gegen die sexuelle Selbstbestimmung gerichtet haben. Außerdem begründet die beabsichtigte Generalprävention das Ausweisungsinteresse.
61
c) Die konkrete Zuordnung und Abwägung der gegenläufigen Interessen ergibt ein Überwiegen des Ausweisungsinteresses, auch wenn die Belange infolge der gesetzgeberischen Qualifizierungen im Wesentlichen jeweiligen als besonders schwer angesehen werden.
62
(1) Für ein Überwiegen des Ausweisungsinteresses sprechen zunächst die Höhe der verhängten Strafen, die Schwere der begangenen Straftaten und (erneut) die Umstände ihrer Begehung (vgl. BayVGH, B.v. 8.2.2021 - 10 ZB 21.83 - juris Rn. 9). Der Antragsteller hat über einen langen Zeitraum erhebliche Straftaten begangen, bei deren Ausführung er - soweit es um Betäubungsmittelstraftaten und damit auch verbundene Betrugstaten ging - sehr gezielt und planvoll vorgegangen ist, und ist hierfür zweimal zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Das Gericht verweist insoweit nach Maßgabe des § 117 Abs. 5 VwGO auf die Darstellungen im streitgegenständlichen Bescheid (S. 8 ff.).
63
(2) Im Rahmen der Abwägung setzt sich das zu Gunsten des Antragstellers zu berücksichtigende Interesse an der Beendigung einer Therapie nicht durch. Dieses nachvollziehbare Interesse ist normativ von sehr untergeordneter Bedeutung, weil es keinen - eine Ausweisung hindernden - Anspruch darauf gibt, seine Veränderungsbereitschaft gegenüber der Ausländerbehörde durch Therapieabschluss nachweisen zu dürfen (vgl. BayVGH, B.v. 13.3.2017 - 10 ZB 17.226 - juris Rn. 10), gleich ob es - worauf der Bevollmächtigte des Antragstellers hinweist - sinnvoll ist, die bereits eingesetzten und verbrauchten Haushaltsmittel insoweit zu frustrieren.
64
(3) Ferner hindert der Umstand, dass der Antragsteller Vater einer im November 2018 geborenen Deutschen ist, nicht die Ausweisung. Weder Art. 6 Abs. 1 GG noch Art. 8 Abs. 1 EMRK steht einer Ausweisung entgegen, insbesondere ist sie von der Schranke des Art. 8 Abs. 2 EMRK gedeckt. Sie dient dem Schutz eines der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Rechtsgüter, nämlich der Verhinderung von Straftaten, und ist in einer demokratischen Gesellschaft notwendig i.S.v. Art. 8 Abs. 2 EMRK.
65
Besteht zwischen dem von der Ausweisung betroffenen Ausländer und einem Kind auf Grund des gepflegten persönlichen Umgangs ein Eltern-Kind-Verhältnis, das von der nach außen manifestierten Verantwortung für die leibliche und seelische Entwicklung des Kindes geprägt ist, so verlangt die Rechtfertigung des mit einer Ausweisung verbundenen Eingriffs in Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK, die Belange des Antragstellers als Elternteil und des betroffenen Kindes umfassend zu berücksichtigen und dabei einzelfallgerecht zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für eine gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. Der Ausgangspunkt der hiernach gebotenen Abwägung ist mit Blick auf die Kinder-Eltern-Beziehung die Annahme, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes grundsätzlich dienen (BVerfG, B.v. 5.6.2013 - 2 BvR 586/13 - juris Rn. 14). Ein unbedingter Vorrang vor den Ausweisungsinteressen besteht allerdings nicht (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.2015 - 1 B 26/15 - juris Rn. 5; vgl. zum Maßstab ausführlich VG München, U.v. 10.5.2022 - M 4 K 21.4251 - juris Rn. 110 ff.).
66
Vorliegend ist der Antragsteller Vater einer rund dreieinhalbjährigen Tochter. Die Tochter lebt bei ihrer Mutter, die die Lebenspartnerin des Antragstellers ist. Das Sorgerecht steht gegenwärtig (noch) nur der Mutter zu. Ausweislich der Aussagen des Antragstellers und einer schriftlichen Bestätigung der Mutter besteht grundsätzlich täglicher Telefon- und auch regelmäßiger Besuchskontakt. Die Mutter selbst wünscht nach der Entlassung des Antragstellers die Weiterführung der Beziehung und eine aktive Rolle des Antragstellers in der Erziehung. Es besteht daher eine relativ enge, nachhaltige und ernsthafte Beziehung des Antragstellers zu seiner Tochter, die eine bloße „Gelegenheitsschwelle“ deutlich überschreitet.
67
Allerdings hat der Antragsteller in der Vergangenheit - vor seiner Inhaftierung - die etwa ein Jahr lang bestehende Möglichkeit für die Begründung einer engeren Beziehung zu seiner Tochter nicht genutzt. Er hat nach den nicht bestrittenen Ermittlungen des Antragsgegners nur gelegentlich bei der Kindsmutter übernachtet und sich offenbar nicht intensiv mit seiner Tochter befasst. Insoweit ist der Kontakt der Tochter zu ihrem Vater seit ihrer Geburt eher punktuell und zeitlich sehr begrenzt.
68
Mit dieser eher punktuellen Beziehung zwischen Vater und Tochter entfällt zwar der Schutz der Familie nicht, da ein gemeinsames Aufwachsen zwischen Eltern und Kindern kein Inhalt des verfassungs- bzw. völkerrechtlichen Familienbegriffs ist (vgl. BVerfG, B.v. 12.12.2010 - 1 BvL 14/09 - juris Rn. 59; Heiderhoff in von Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 6 Rn. 69; s. a. Art. 7 Abs. 1, 9, 18 Abs. 1 Satz 1 Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 [UN-Kinderrechtskonvention]). Gleichwohl verringert sich die Schutzwürdigkeit dergestalt, dass das Ausweisungsinteresse leichter überwiegen kann. Sowohl aus der Perspektive des Kindes und seines Wohls fällt der mit einer Ausweisung verbundene Verlust geringer aus, wenn schon bislang nur eine (auch, aber geringer schutzwürdige) Begegnungsgemeinschaft - und keine Erziehungs- oder Beistandsgemeinschaft - bestanden hat (vgl. BayVGH, B.v. 23.2.2021 - 19 ZB 20.696 - juris Rn. 41; s.a, die Nachweise bei Uhle in Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 51. Ed., Stand: 15.5.2022, Art. 6 Rn. 45) als auch aus der Sicht des Antragstellers als Vater. Dass das Bestehen der Vater-Kind-Beziehung für den Antragsteller nicht übermäßiges Gewicht hat, lässt sich auch daran erkennen, dass die Geburt der Tochter gerade keine „Zäsur“ bildete, die ihn an seiner weiteren erheblichen Delinquenz gehindert hätte (vgl. BayVGH, B.v. 23.2.2021 - 19 ZB 20.696 - juris Rn. 41). Hinzu tritt, dass der Antragsteller selbst vor den Augen des Kindes gegenüber der Mutter körperlich übergriffig geworden ist und diese vorübergehend gegen den Antragsteller ein Kontaktverbot erwirkt hatte (vgl. Bescheid, S. 20). Dass nun die Vater-Tochter-Beziehung grundlegend verändernd auf den Vater eingewirkt hätte, ist derzeit nicht ausreichend wahrscheinlich.
69
Der Umstand, dass die Tochter bereits jetzt gewöhnt ist, nicht allzu oft persönlich mit dem Vater aufeinanderzutreffen, sondern Telefonkontakte ein wesentliches Merkmal des Kontakts sind, verringert die Eingriffswirkungen einer Ausweisung. Eine vergleichbare Art an „Distanz-Umgang“ kann auch künftig telefonisch in das Ausland und - zumindest durch Urlaubsaufenthalte - im Ausland gepflegt werden; es kommen auch die vom Antragsgegner im Bescheid selbst erwähnten temporären Betretungsrechte für eine punktuelle Umgangsausübung im Bundesgebiet in Betracht. Es ist daher im vorliegend Fall nicht davon auszugehen, dass die noch kleine Tochter den eigentlich nur vorübergehenden Charakter der räumlichen (wenngleich mit fünf Jahren nicht kurzen) Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und ihn als endgültigen Verlust erfährt (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 30.7.2021 - 19 ZB 21.738 - juris Rn. 22). Vor diesem Hintergrund ist das vom Antragsgegner durch Abwägung gewonnene Ergebnis überzeugend und trägt der Bindung des Antragstellers zu seiner Tochter und deren Kindeswohl ausreichend Rechnung.
70
Ebenso ist die Ausweisung mit Art. 8 Abs. 1 EMRK vereinbar, weil sie in einer demokratischen Gesellschaft für die öffentliche Sicherheit notwendig ist. Denn die bei der Abwägung einzustellenden Interessen von Vater, Kind und Lebenspartnerin am weiteren Verbleib des Antragstellers in Bundesgebiet besitzen erheblich weniger Gewicht als die gegen einen weiteren Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet sprechenden Gründe. Insoweit wird Bezug genommen auf die bereits getätigten Ausführungen zur Gefährlichkeit des Antragstellers und nochmals dazu, dass die Geburt seiner Tochter seine Delinquenz nicht gehindert haben.
71
(4) Der Antragsteller ist zwar „faktischer Inländer“. Für diese besteht jedoch kein generelles Ausweisungsverbot (vgl. EGMR, U.v. 18.10.2006 - Üner gegen die Niederlande - Individualbeschwerde Nr. 46410/99 - Rn. 54; BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 19; B.v. 25.8.2020 - 2 BvR ä640/20 - juris Rn. 24; BayVGH, B.v. 21.5.2021 - 19 CS 20.2977 - juris Rn. 35). Vielmehr ist zu berücksichtigen, inwieweit der Ausländer unter Beachtung seines Lebensalters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist, wobei Integrationsleistungen in persönlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht, rechtlicher Status, Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, der Grund für die Dauer des Aufenthalts und Kenntnisse der deutschen Sprache in die Betrachtung einzubeziehen sind. Dies ist darüber hinaus in Beziehung zu setzen mit Faktoren der Entwurzelung vom Land der Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft, z.B. persönliche Befähigung und familiäre Anbindung (BayVGH, B.v. 21.5.2021 - 19 CS 20.2977 - juris Rn. 36).
72
Der Antragsteller hat weiterhin Kontakte in sein Heimatland gepflegt und in Kommunikation aus der Haft sein Selbstverständnis als (Kosovo-)Albaner auch formuliert („Ich bin albanisch […] kein deutscher Kartoffelsack“). Auch wenn solche in einer schwierigen Lebenssituation getroffenen Äußerungen nicht überbewertet werden dürfen, bringen sie doch das Bestehen emotionaler Beziehung zu seinem Herkunftsgerade auch als Heimatland zum Ausdruck, die der Annahme einer völligen Entwurzelung entgegenstehen. Hiergegen sprechen auch die Heimatbesuche des Klägers. Dass der Kläger angesichts seiner Vita und der Herkunft beider Eltern aus Albanien kein Albanisch sprechen soll, ist nicht plausibel (vgl. Schriftsatz des Antragsgegners vom 6.5.2022, S. 2), jedenfalls ist es ihm gegebenenfalls zuzumuten, die Sprache (wieder-)zuerlernen.
73
Insgesamt überwiegt vor dem Hintergrund der genannten Aspekte und ihrer Gewichtung das Interesse an der Ausweisung das Bleibeinteresse des Antragstellers.
74
III. Es besteht ein besonderes Interesse daran, den Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland noch vor Abschluss des Klageverfahrens zu beenden. Die materiellen - anders als die formellen Anforderungen nach § 80 Abs. 3 VwGO durch das Gericht auch inhaltlich zu überprüfenden - Anforderungen an die Anordnung des Sofortvollzugs liegen vor.
75
Die Ausweisung stellt eine schwerwiegende Maßnahme dar, deren Gewicht durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung noch erheblich verschärft wird, zumal die gerade verhaltensbezogene Prognose im Eilrechtsschutz ohne persönliche Anhörung des Antragstellers getroffen wird (vgl. BVerfG, B.v. 12.9.1995 - 2 BvR 1179/95 - juris Rn. 42 f.). Es muss daher - wie auch sonst in Fällen der behördlichen Anordnung des Sofortvollzugs - ein besonderes, über die Voraussetzungen für die Ausweisung selbst hinausgehendes Erfordernis vorliegen. Dies ist der Fall, wenn die begründete Besorgnis besteht, die von dem Ausländer ausgehende, mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr werde sich schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens realisieren (vgl. BVerfG, B.v. 13.6.2005 - 2 BvR 485/05 - NJW 2005, 3275; s.a. BayVGH, B.v. 21.5.2021 - 19 CS 20.2977 - juris Rn. 7; B.v. 14.3.2019 - 19 CS 17.1784 - juris Rn. 7 jeweils m.w.N.). Hierbei geht es nicht um die Abwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteressen, sondern um die Frage, ob das Risiko einer Verwirklichung der vom Antragsteller ausgehenden Gefahr noch vor Abschluss des Klageverfahrens ein Interesse am sofortigen Vollzug der Ausweisung begründet (vgl. OVG Bremen, B.v. 26.5.2021 - 2 B 119/21 - juris Rn. 37).
76
Vorliegend besteht ein solches materielles Sofortvollzugsinteresse. Aufgrund der vom Antragsteller ausgehenden erheblichen Wiederholungsgefahr muss sein Verbleib im Bundesgebiet bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache nicht hingenommen werden. Die Realisierung der spezialpräventiv abzuwendenden Gefahr droht nach den obigen Ausführungen schon während des Hauptsacheverfahrens und nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt. Der Antragsteller hat in den vergangenen Jahren eine Vielzahl an erheblichen Gewaltdelikten begangen und seine Delinquenz trotz strafrechtlicher Interventionen fortgesetzt. Die hohe Frequenz der Taten, die hohe Rückfallgeschwindigkeit verbunden mit der erheblichen kriminellen Energie sprechen dafür, dass die von ihm ausgehende Gefahr sich bereits vor Abschluss des Klageverfahrens gegen die Ausweisung zu verwirklichen droht. Der Antragsgegner hat auch nicht durch die Art und Weise der Durchführung seines Ausweisungsverfahrens zum Ausdruck gebracht, dass aus seiner Sicht keine besondere Dringlichkeit besteht (vgl. insoweit VG München, B.v. 13.12.2021 - M 10 S 21.5216 - juris Rn. 40). Der Antragsteller betreibt ferner die konkrete Ausweisung des Antragstellers; er hat beim Bayerischen Landesamt für Asyl und Rückführung die Durchführung der Abschiebung mit Sicherheitsbegleitung beantragt und zuvor das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft zur Abschiebung eingeholt, die nach § 456a StPO von der weiteren Vollstreckung zum Zeitpunkt der Abschiebung abgesehen hat.
77
Die Gefahr einer Begehung weiterer Straftaten durch den Antragsteller bis zum Abschluss des Klageverfahrens kann nach der obergerichtlichen Rechtsprechung auch nicht mit dem Argument verneint werden, dass er wegen der Unterbringung keine Möglichkeit zur Begehung von Straftaten habe (OVG Bremen, B.v. 26.5.2021 - 2 B 119/21 - juris Rn. 35). Zum einen genießt der Antragsteller bereits derzeit Lockerungen und besteht auch die Möglichkeit der Umsetzung weiterer therapeutisch gebotener Lockerungen. Weil ausländerrechtliche und straf(vollzugs-)rechtliche Regelungen insoweit getrennt zu betrachten sind und Entscheidungen auch unterschiedlichen Maßgaben folgen, ist anzunehmen, dass der Antragsteller bis zum (ohnehin noch nicht feststehenden) Termin zur Hauptsache die mit ihm verbundenen Gefahren mit hinreichender Wahrscheinlichkeit verwirklichen kann.
78
Demgegenüber ist der Antragsteller in wirtschaftlicher Hinsicht im Bundesgebiet nicht integriert. Der Sofortvollzug ist also nicht mit dem Verlust seiner wirtschaftlichen Existenz verbunden. Insoweit könnten die Wirkungen des Sofortvollzugs im Falle des Obsiegens im Hauptsacheverfahren weitgehend wieder rückgängig gemacht werden. Es sind keine Gründe ersichtlich, warum dem Antragsteller für diesen Fall keine Wiedereingliederung im Bundesgebiet möglich und zumutbar wäre.
79
C. Der Antrag ist ebenfalls unbegründet, soweit er sich auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Erlass und gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Nr. 2 des Bescheids) richtet. Diese Anordnungen begegnen keinen rechtlichen Bedenken.
80
I. Der Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots setzt eine der in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG genannten aufenthaltsrechtlichen Grundmaßnahmen voraus. Eine solche liegt hier mit der Ausweisung vor. Für den Erlass eines auf eine Ausweisung bezogenen Einreise- und Aufenthaltsverbots genügt grundsätzlich die Wirksamkeit der Ausweisung; aus § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ergibt sich, dass weder deren Bestandskraft noch deren - hier sogar gegebene - Vollziehbarkeit Voraussetzung für den Erlass des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist (vgl. VGH BW, B.v. 21.1.2020 - 11 S 3477/19 - juris Rn. 76). Doch selbst wenn man wegen der erheblichen Rechtsfolgen und des Gebots des effektiven Rechtsschutzes verlangt, dass die Ausweisung als Grundmaßnahme voraussichtlich rechtmäßig sein muss (vgl. VGH BW, B.v. 21.1.2020 - 11 S 3477/19 - juris Rn. 77; VG München, B.v. 13.12.2021 - M 10 S 21.5216 - juris Rn. 47), so ist diese Anforderung erfüllt; wie ausgeführt geht das Gericht von der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung aus.
81
II. 1. Die Dauer der Befristung ist ebenfalls rechtmäßig. Die Anordnung ist gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG bei ihrem Erlass von Amts wegen zu befristen. Die Befristung kann gemäß § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung versehen werden, insbesondere einer nachweislichen Straf- und Drogenfreiheit. Über die Länge der Frist entscheidet die Ausländerbehörde gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen. Sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten (§ 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG).
82
2. Da der Antragsgegner ermächtigt ist, nach seinem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht nach § 114 Satz 1 VwGO (nur), ob seine Anordnung rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde. Maßgeblich ist insoweit die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. VG München, B.v. 13.12.2021 - M 10 S 21.5216 - juris Rn. 51).
83
Bei der Bemessung der Frist ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in einem ersten Schritt eine prognostische Einschätzung im Einzelfall vorzunehmen, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. insbesondere an verfassungs- und menschenrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 GG; Art. 8 EMRK) gemessen und gegebenenfalls relativiert werden. Über dieses normative Korrektiv lassen sich auch bei einer Ermessensentscheidung die einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen begrenzen. Dabei sind von der Ausländerbehörde nicht nur die nach § 55 AufenthG schutzwürdigen Bleibeinteressen des Ausländers in den Blick zu nehmen, sondern bedarf es nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls einer umfassenden Abwägung der betroffenen Belange (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 27/16 - juris Rn. 23).
84
3. Gemessen an diesen Maßstäben erweist sich die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf fünf Jahre bei summarischer Prüfung als ermessensfehlerfrei.
85
Der Fristrahmen wurde beachtet; da der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen wird, darf die Frist gemäß § 11 Abs. 3 Satz 3 AufenthG i.V.m. § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG fünf Jahre, soll aber zehn Jahre nicht überschreiten. Der Bescheid hat damit von den Möglichkeiten einer Erhöhung der Frist keinen Gebrauch gemacht, sondern lediglich den regulären Fristrahmen des § 11 Abs. 3 Satz 3 AufenthG vollständig ausgeschöpft. Der Antragsgegner hat ausweislich seiner Begründung damit v.a. auf die familiären Bindungen des Antragstellers insbesondere zu seiner Tochter Rücksicht genommen. Dass die Frist sich beim Nachweis von Drogenfreiheit nicht weiter reduziert, begründet keinen Ermessensfehler.
86
D. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit Nrn. 1.5 und 8.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit von 2013.