Titel:
Asyl, Nigeria: Erfolglose Klage im Zweitantragsverfahren
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71a
VwVfG § 51
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsätze:
1. Der Kläger kann sich abseits des Einflussbereiches der ihn verfolgenden muslimischen Gruppe eine, wenn auch bescheidene, Existenz aufbauen. Mangels eines funktionierenden Meldesystems in Nigeria ist nicht erkennbar, wie der Kläger bei Aufenthalt in einer der Millionen- oder Großstädte Nigerias aufgefunden werden könnte. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass der volljährige, gesunde und arbeitsfähige Kläger in der Lage sein wird, den Lebensunterhalt für sich zu erwirtschaften. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die COVID-19 Pandemie und die befürchteten wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie in Nigeria führen nicht zur Annahme eines Abschiebungsverbotes. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl Nigeria, Weigerung, vom Vater, Priesteramt in Kult zu übernehmen (Gott, Igbahon), Angst vor Verfolgung durch Sekte, Erfolgloser Abschluss eines Asylverfahrens im sicheren Drittstaat (hier: Italien), Zweitantrag, Keine Wiederaufgreifensgründe, Keine Abschiebungsverbote
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22004
Tenor
I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger ist nach seinen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger vom Volk der Bini. Er stellte am 15. Oktober 2013 in Deutschland Asylantrag.
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In seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 12. Oktober 2016 gab der Kläger an, bereits in Italien Asylantrag gestellt zu haben. Es liegen vom Kläger zwei EURODAC-Treffer für Italien vor, nämlich vom 31. Oktober 2008 und vom 29. Oktober 2012. Der Kläger legte eine Beschwerdeschrift seiner italienischen Rechtsanwälte vom 13. Mai 2013 vor, aus der hervorgeht, dass ein erster Asylantrag des Klägers in Italien im Jahr 2008 und ein weiterer Asylantrag (Folgeantrag) in Italien aus dem Jahr 2012 abgelehnt wurden. In der Anhörung gab der Kläger weiter an, dass er Nigeria im Jahr 2008 verlassen habe. Grund seien Verfolgungen durch Mitglieder eines Kults gewesen. Er sei auch seitens der Familie seines Vaters verfolgt worden, weil er die Übernahme der Position seines Vaters als Priester des Kults, also als Vermittler zwischen den Menschen und dem Gott Igbahon, abgelehnt habe.
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Mit Bescheid vom 13. Juni 2017 wurde der Antrag als unzulässiger Zweitantrag abgelehnt und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Nigeria oder in einen anderen aufnahmebereiten oder aufnahmeverpflichteten Staat angedroht. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Asylantrag des Klägers nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abzulehnen gewesen sei, weil es sich bei dem Antrag um einen Zweitantrag nach § 71a AsylG handle, da der Kläger bereits in einem anderen sicheren Drittstaat ein erfolglos abgeschlossenes Asylverfahren betrieben habe. Dieser Zweitantrag führe nicht zu einem weiteren Asylverfahren in Deutschland, weil die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht vorlägen. Die Gründe für das Asylbegehren beruhten auf Ereignissen vor der Ausreise des Klägers aus Nigeria, also vor den beiden Asylantragstellungen in Italien. Die Gründe seien also bereits im italienischen Verfahren geltend gemacht worden bzw. hätten dort geltend gemacht werden können. Eine Änderung der maßgeblichen Sach- oder Rechtslage sei also nicht eingetreten. Nationale Abschiebungsverbote lägen nicht vor.
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Gegen den Bescheid erhob der Bevollmächtigte des Klägers mit Fax vom 2*. Juni 2017 Klage zum Verwaltungsgericht München (21. Kammer, Az. M 21 K 17.45028; nach Übernahme des Verfahrens durch die 13. Kammer zum 1.1.2018 erhielt das Verfahren das Az. M 13 K 17.45028; nach Übernahme des Verfahrens durch die 32. Kammer zum 1.1.2022 erhielt das Verfahren das Az. M 32 K 17.45028). Die Klage wurde mit Schriftsatz vom 7. Dezember 2017 begründet. Das Bundesamt habe nicht hinreichend seine Annahme, beim Antrag des Klägers handle es sich um einen Zweitbescheid nach § 71a AsylG, begründet. In weiteren Schriftsätzen ergänzte und vertiefte der Bevollmächtigte des Klägers seine Argumentation auch unter Hinweis auf nigerianische Quellen und Rechtsprechung.
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Mit unanfechtbarem Beschluss vom 11. September 2018 ordnete das Gericht auf Antrag des Bevollmächtigten des Klägers die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung an (Az. M 13 S 17.45030), weil sich aus dem zum Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Kenntnissen nicht hinreichend ergebe, dass ein im Sinne des § 71a AsylG erfolgloser Abschluss eines Asylverfahrens des Klägers in Italien vorliege.
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In Reaktion auf diesen Beschluss bat das Bundesamt in einem förmlichen Informationsersuchen vom 26. September 2018 die zuständige italienische Behörde, den genauen Asylstatus des Klägers in Italien mitzuteilen. Mit Schreiben vom 25. Oktober 2018 teilte das italienische Innenministerium (Immigrationsbehörde) mit, dass die Asylbegehren des Klägers in Italien zweimal abgelehnt worden seien, und zwar am 28. April 2009 und am 27. Oktober 2012. Der Asylbewerber habe Straftaten begangen und sei mit Verfügung vom 10. März 2011 ausgewiesen worden. Das Asylverfahren des Klägers sei endgültig und von Gesetzes wegen abgeschlossen.
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Mit Schriftsatz vom 4. Februar 2019 teilte der Bevollmächtigte des Klägers mit, dass der Kläger neue Dokumente von seinem Rechtsanwalt aus Nigeria erhalten habe, wonach der Kläger weiterhin bzw. akut durch Kultisten bedroht sei. Zwei Sektenmitglieder hätten den Onkel des Klägers aufgesucht und ihn nach dem Aufenthaltsort des Klägers befragt. Sie hätten den Onkel auch misshandelt. Unterlagen und Fotos von dem Vorfall wurden vorgelegt. Nunmehr lägen neue Tatsachen und Beweismittel vor, die ein weiteres Asylverfahren in Deutschland erforderlich machten.
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Mit Schriftsatz vom 11. März 2019 legte das Bundesamt einen polizeilichen Bericht über einen Vorfall in der Münchner S-Bahn am 1*. Oktober 2018 vor. Mit zwei Freunden habe der Kläger gegen die Scheiben der S-Bahn getreten und randaliert. Am Endhalt sei die Gruppe ausgestiegen und habe mehrere Fahrgäste belästigt. Beim Eintreffen der alarmierten Polizei habe sich der Kläger geweigert, seine Personalien anzugeben. Da er sich der Personalienfeststellung habe entziehen wollen, habe er an den Armen festgehalten und wegen seines Widerstands zu Boden gebracht und gefesselt werden müssen. Beim Transport zum Polizeiwagen habe er erneut körperlichen Widerstand geleistet. Ein Strafverfahren gemäß § 113 StGB sei eingeleitet worden.
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Mit Schriftsatz vom 3. Mai 2019 legte das Bundesamt weitere Unterlagen vor.
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Mit Schriftsatz vom 19. Mai 2022 rügte der Bevollmächtigte des Klägers unter Hinweis auf Rechtsprechung wiederum die Annahme des Bundesamts, das Asylverfahren des Klägers in Italien sei erfolglos abgeschlossen.
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An der mündlichen Verhandlung vom 12. Juli 2022 nahmen der Kläger und sein Bevollmächtigter nicht teil.
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Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage bleibt ohne Erfolg.
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Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO.
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Das Gericht folgt der zutreffenden Begründung des streitgegenständlichen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und führt lediglich ergänzend aus:
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1. Nach § 71a Abs. 1 AsylG ist dann, wenn ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag stellt (Zweitantrag), ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) vorliegen. Andernfalls ist der Antrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abzulehnen und gemäß § 31 Abs. 3 AsylG eine Entscheidung über die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zu treffen.
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§ 71a AsylG geht von einer Zweistufigkeit der Prüfung von Zweitanträgen aus. Bei der Beachtlichkeits- oder Relevanzprüfung geht es zunächst - im ersten Prüfungsschritt - darum, festzustellen, ob das Asylverfahren wiederaufgegriffen werden muss, also die erforderlichen Voraussetzungen für die Durchbrechung der Bestandskraft der Erstentscheidung erfüllt sind. § 51 Abs. 1 VwVfG fordert einen schlüssigen Sachvortrag, der nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet sein darf, zur Asylberechtigung (Art. 16a GG) oder zur Zuerkennung des internationalen Schutzes (§§ 3 ff., 4 AsylG) zu verhelfen. Es genügt schon die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufgreifensgründe (dazu BVerfG, B. v. 3.3.2000 - 2 BvR 39/98 - juris Rn. 32). Liegen die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens dagegen nicht vor, darf kein weiteres Asylverfahren durchgeführt werden und dem Kläger steht - weil § 71a Abs. 1 AsylG den § 51 Abs. 5 VwVfG nicht in Bezug nimmt - auch kein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung über die Eröffnung eines neuen Asylverfahrens nach den §§ 48, 49 VwVfG zu (BVerwG; U.v. 15.12.1987 - 9 C 285.86 - juris Rn. 21). In diesem Fall ist zwingend der Asylantrag in der Form des Zweitantrags gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abzulehnen.
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Ein erfolgloser Abschluss des in einem sicheren Drittstaat betriebenen Asylverfahrens setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig - d.h. ohne die Möglichkeit einer Wiederaufnahme auf Antrag des Asylbewerbers - eingestellt worden ist (BVerwG, U.v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 - juris Rn. 29 ff.). Dabei muss sich das im sicheren Drittstaat erfolglos abgeschlossene Asylverfahren auch auf die Gewährung des unionsrechtlichen subsidiären Schutzes beziehen (ebenso: VG München, B. v. 3.4.2017 - M 21 S 16.36125 - juris Rn. 18 m.w.N.). Maßgeblich für die entsprechende Beurteilung ist die Rechtslage in dem betreffenden sicheren Drittstaat (BVerwG, U.v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 - juris Rn. 33 ff.). Diese Voraussetzungen müssen feststehen, bloße Mutmaßungen genügen nicht (Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 71a AsylG, Rn. 3 und 9 m.w.N). Ist dem Bundesamt der aktuelle Stand des Verfahrens in dem sicheren Drittstaat nicht bekannt, muss es diesbezüglich zunächst weitere Ermittlungen anstellen, insbesondere im Rahmen der für den Informationsaustausch vorgesehenen Regelung über den sog. Info- Request (vgl. Art. 34 Dublin III -VO; BayVGH, U.v. 13.10.2016 - 20 B 14.30212 - juris Rn. 39 ff.; U.v. 13.10.2016 - 20 B 15.30008 - juris Rn. 42 ff.). Erforderlich sind danach stets die Informationen zum Verfahrensstand und zum Tenor einer ggf. getroffenen Entscheidung in dem sicheren Drittstaat (vgl. Art. 34 Abs. 2 Buchst. g Dublin III-VO). Die Klärung des Vorliegens eines erfolglosen Abschlusses des Asylverfahrens im sicheren Drittstaat ist aber nicht nur Sache des Bundesamts, sondern auch des Ausländers, den gemäß §§ 15, 25 Abs. 2 Satz 2 AsylG eine Mitwirkungspflicht trifft (Camerer in BeckOK MigR, 7.Ed. 1.1.2021, AsylG § 71a Rn. 8 und 9; Dickten in BeckOK AuslR, 28. Ed. 1.1.20211, AsylG § 71a Rn. 3; Houben in BeckOK AuslR, 28. Ed. 1.1.2021, AsylG § 15 Rn. 8 und 12; Schönenbroicher/Dickten in BeckOK AuslR, 28. Ed. 1.1.2021, AsylG § 25 Rn. 5), ebenso wie gemäß § 71a Abs. 2 AsylG entsprechend bei der Klärung, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist.
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a. Nach diesen Maßstäben liegt ein endgültig erfolglos abgeschlossenes Asylverfahren des Klägers vor. Dies ergibt sich eindeutig aus der auf förmliche Anfrage des Bundesamts erfolgten Antwort der italienischen Immigrationsbehörde vom 25. Oktober 2018, wonach das Asylverfahren endgültig und von Gesetzes wegen abgeschlossen sei. Die dagegen vorgebrachten Argumente der Klägerseite überzeugen vor dem Hintergrund dieser klaren amtlichen Äußerung nicht.
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b. Die Voraussetzungen des § 71a Abs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG liegen nicht vor.
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Nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn im Falle eines Zweitantrags nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Ein weiteres Asylverfahren ist durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen (§ 71a Abs. 1 AsylG). Gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG müsste sich die Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Klägers geändert haben (Nr. 1) oder neue Beweismittel vorliegen, die eine für ihn günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (Nr. 2) oder Wiederaufnahmegründe nach § 580 ZPO bestehen (Nr. 3). § 51 Abs. 1 VwVfG fordert einen schlüssigen Sachvortrag, der nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet sein darf, zur Asylberechtigung (Art. 16a GG) oder zur Zuerkennung des internationalen Schutzes (§§ 3 ff., 4 AsylG) zu verhelfen. Es genügt schon die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufnahmegründe (dazu BVerfG, B. v. 3.3.2000 - 2 BvR 39/98 - juris Rn. 32). Außerdem ist der Antrag gemäß § 51 Abs. 2 und 3 VwVfG nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren geltend zu machen und er den Antrag binnen drei Monaten nach Kenntnis des Grundes für das Wiederaufgreifen gestellt hat.
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Die Klageseite hat - nach intensiver und kritischer Sichtung und Würdigung des vorgelegten Materials durch das Gericht - keine in diesem Sinne rechtlich relevanten neuen Gründe vorbringen können. Die den Onkel betreffenden Vorfälle und die Zeitungsausschnitte genügen den auch im Verfahren nach § 71a AsylG geltenden Maßstäben hinreichend verlässlichen und verifizierbaren Vortrags nicht. Außerdem spielte sich der Vorfall mit dem Onkel nach den Angaben des nigerianischen Rechtsanwalts am 18. Oktober 2018 ab, also weit über drei Monate vor der gerichtlichen Geltendmachung des Vorfalls durch den Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 4. Februar 2019 (§ 51 Abs. 3 VwGO).
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2. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.
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a. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2018 - 13a B 18.30632 - juris Rn. 26; BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 25).
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Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht.
26
Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2018 - 13a B 18.30632 - juris Rn. 26). Dies ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger nichtstaatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will (EGMR, Urteile vom 21.01.2011 - 30696/09 - (M.S.S./Belgien und Griechenland), NVwZ 2011, 413 und vom 28.06.2011 - 8319/07 und 11449/07 - (Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681). Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt und „nichtstaatliche“ Gefahren für Leib und Leben im Zielgebiet aufgrund prekärer Lebensbedingungen vorliegen, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK als unmenschliche Behandlung zu qualifizieren sein (BVerwG, U.v. 13.06.2013 - 10 C 13.12 - Rn. 24 f.; VGH BW, U.v. 24.07.2013 - A 11 S 697/13 - juris Rn. 79 ff.).
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Eine derartige unmenschliche Behandlung droht dem Kläger bei seiner Rückkehr nach Nigeria nicht. Der Kläger kann sich abseits des Einflussbereiches der ihn verfolgenden muslimischen Gruppe eine, wenn auch bescheidene, Existenz aufbauen (vgl. § 3e AsylG). Mangels eines funktionierenden Meldesystems in Nigeria ist nicht erkennbar, wie der Kläger bei Aufenthalt in einer der Millionen- oder Großstädte Nigerias aufgefunden werden könnte. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass der volljährige, gesunde und arbeitsfähige Kläger in der Lage sein wird, den Lebensunterhalt für sich zu erwirtschaften.
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Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist - wie im Rahmen von §§ 3 ff. und § 4 AsylG - der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Auch im Rahmen des Art. 3 EMRK ist nach der Rechtsprechung des EGMR eine tatsächliche Gefahr („real risk“) erforderlich, aber auch ausreichend, d.h. es muss eine ausreichende reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr bestehen. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen dabei ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreichen; diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 11). Bei „nichtstaatlichen“ Gefahren für Leib und Leben ist ein sehr hohes Gefahrenniveau erforderlich ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 21.11.2018 - 13a B 18.30632 - juris Rn. 27 m.w.N.). Des Weiteren ist für die Beurteilung, ob außerordentliche Umstände vorliegen, die nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung des Ausländers verbieten, grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 26). Ausgangspunkt für die Gefahrenprognose ist eine möglichst realitätsnahe, wenngleich notwendig hypothetische Rückkehrsituation. Erforderlich ist eine Gesamtschau und auf den konkreten Einzelfall bezogene Prüfung unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte (darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ankunftsort sowie an dem Ort, an den der Betroffene letztlich dauerhaft zurückkehren soll) und persönlicher und familiärer Umstände. Relevant kann dabei sein, ob die Person in der fraglichen Region eine familiäre Anbindung hat. Bei der Prüfung, ob der Abschiebung eines erfolglosen Asylbewerbers Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegenstehen, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bei der Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle einer Abschiebung in den Heimatstaat drohen, bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris Rn. 16). Von einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband ist für die Rückkehrprognose in der Regel auch dann auszugehen, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris Rn. 19).
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Zwar sind die allgemeinen Lebensbedingungen in Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Staat Afrikas mit ca. 200 Millionen Einwohnern, schwierig. Es besteht aber dennoch für Rückkehrer in Nigeria die Möglichkeit, ökonomisch eigenständig zu leben und ohne Hilfe Dritter zu überleben. Das Gericht verkennt nicht, dass nach der derzeitigen Erkenntnislage die allgemeine wirtschaftliche und soziale Lage für die Mehrheit der Bevölkerung in Nigeria problematisch ist. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung, nach den vorliegenden Erkenntnissen ca. 70% der Bevölkerung, lebt am Existenzminimum (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand: September 2019, S. 8, 21), der größte Teil der Bevölkerung hat nur unter erschwerten Bedingungen Zugang zu Wasser und Strom, es existiert kein staatlich organisiertes Hilfsnetz für Bedürftige und Leistungen der allgemeinen Kranken- und Rentenversicherung kommen nur Beschäftigen im formellen Sektor und damit schätzungsweise nur 10% der Bevölkerung zugute. Die medizinische Versorgung ist zudem gerade auf dem Land mangelhaft und liegt auch in den Großstädten in der Regel unter europäischem Standard (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand: September 2019, S. 22). Darüber hinaus werden die Rechte des Kindes in Nigeria nur unzureichend gewährleistet; zwei Drittel der Kinder werden nicht richtig oder unterernährt. Die staatlichen Schulen sind im Allgemeinen in einem schlechten Zustand und Gewalt und sexuelle Übergriffe gegenüber Schülerinnen und Schülern sind an den meisten Schulen Alltag. Schließlich besuchen nur gut 60% der Kinder die Primarschule und nur 40% die Sekundarstufe. Kinderarbeit und -prostitution, Vernachlässigung und Aussetzung von Kindern sind verbreitet (Auswärtiges Amt, Stand: September 2017, S. 15 sowie Stand: September 2019, S. 14). Ferner ist die Situation für alleinstehende Frauen in Nigeria - und damit auch für deren Kinder - nach den vorliegenden Erkenntnismitteln besonders schwierig. So ist davon auszugehen, dass sie trotz der in der Verfassung verankerten Gleichberechtigung von Mann und Frau in vielen Rechts- und Lebensbereichen benachteiligt und diskriminiert werden. Da es in Nigeria keine staatliche finanzielle oder soziale Unterstützung gibt, sind alleinstehende Frauen meist von finanziellen Zuwendungen durch die (Groß-)Familie, Nachbarn oder Freunde abhängig. Jedoch ist es auch für den Personenkreis der alleinstehenden Frauen nicht unmöglich bzw. ausgeschlossen, sich eine wirtschaftliche Grundexistenz zu schaffen und ohne Hilfe Dritter zu überleben, so etwa im Südwesten des Landes und in den Städten, in denen alleinstehende Frauen eher akzeptiert werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand: September 2017, S. 16 f. sowie Stand: September 2019, S. 14 f.). Auch insoweit kann nur in besonders gelagerten Einzelfällen ein Abschiebungsverbot bestehen (vgl. VG Aachen, U.v. 24.5.2012 - 2 K 2051/10.A - juris Rn. 32).
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Vorliegend bestehen jedoch keine ernstlichen Zweifel daran, dass beim Kläger kein außergewöhnlicher Fall vorliegt, bei dem die humanitären Gründe gegen die Abschiebung zwingend sind. Bei einer Gesamtschau der Lebensverhältnisse des Klägers ist auch unter Berücksichtigung der zweifellos schwierigen wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Bedingungen, die für den Großteil der Bevölkerung Nigerias bestehen, die Befürchtung nicht gerechtfertigt, der Kläger könnte im Fall der Rückkehr nach Nigeria keine zumindest auf niedrigem Niveau gesicherte Lebensgrundlage haben. Es ist davon auszugehen, dass er im Fall einer Rückkehr nach Nigeria auch in einer anderen nigerianischen Großstadt bzw. in einem anderen Landesteil in der Lage sein wird, durch Arbeitsaufnahme jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das Existenzminimum sicherzustellen.
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Die COVID-19 Pandemie und die befürchteten wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie ändern an dieser Beurteilung nichts.
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Laut den allgemein zugänglichen Quellen gibt es gegenwärtig in Nigeria 65.457 bestätigte Corona-Fälle (Deutschland: 815.746), davon 4.120 aktuelle Fälle (Deutschland: 285.546) und 1.163 Todesfälle (Deutschland: 12.814), Stand: 17.11.2020;
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siehe etwa Nigeria Centre for Disease Control, https://www.ncdc.gov.ng/;
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https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-07-14-de.pdf? blob=publicationFile),
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was angesichts einer Gesamtbevölkerung von ca. 200 Millionen (Deutschland: 83 Millionen) einem Prozentsatz von etwa 0,000327 (Deutschland: 0,009828) entspricht).
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Bei diesen Zahlen fehlen zum jetzigen Entscheidungszeitpunkt greifbare Anhaltspunkte für eine ein Abschiebungsverbot rechtfertigende so erhebliche Verschlechterung der humanitären Lage und der allgemeinen Lebensbedingungen durch die Covid-19 Pandemie, dass von einem ganz außergewöhnlichen Fall und zwingenden humanitären Gründen gesprochen werden könnte. Auch wenn sich die wirtschaftliche Situation in Nigeria aufgrund der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie verschlechtert hat (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderinformation COVID-19-Pandemie, Die Gesundheitssysteme in den Top-10-Herkunftsländern, Stand: 06/2020, S. 28 f.; EASO Special Report: Asylum Trends on COVID-19 vom 11.6.2020, S. 15; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Afrika, COVID-19 - aktuelle Lage vom 10.6.2020, S. 3 und 8 f.), hält es das Gericht zum jetzigen maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht für hinreichend beachtlich wahrscheinlich, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse derart negativ entwickeln werden, dass von einer grundsätzlich abweichenden Beurteilung der Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ausgegangen werden kann. Hierzu führte bereits das Verwaltungsgericht Würzburg mit Gerichtsbescheid vom 1.7.2020, Az. W 8 K 20.30151 - juris Rn. 35 folgendes aus: „Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass gerade hinsichtlich der wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie ein Gegensteuern des nigerianischen Staates erkennbar ist. So wurde ein Notfallfonds für das „Nigeria Centre for Disease Control“ eingerichtet, ebenso wie Konjunkturpakete, um die Auswirkungen für Haushalte und Betriebe zu lindern; außerdem wurden Nahrungsmittel verteilt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderinformation COVID-19-Pandemie, Die Gesundheitssysteme in den Top-10-Herkunftsländern, Stand: 06/2020, S. 28 f.; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Afrika, COVID-19 - aktuelle Lage vom 10.6.2020, S. 3 und 8 f.; https://reliefweb.int/report/nigeria/nigeria-humanitarian-fund-allocation-covid-19-and-humanitarian-response, vom 16.6.2020; https://www.theafricareport.com/26444/coronavirus-recession-in-nigeria-likely-despite-measures-in-place/, vom 20.4.2020). Darüber hinaus hat der internationale Währungsfonds Soforthilfen für Nigeria in Höhe von 3,4 Milliarden US-Dollar gewährt (https://www.imf.org/en/News/Articles/2020/04/28/pr20191-nigeria-imf-executive-board-approves-emergency-support-to-address-covid-19, vom 28.4.2020)“. Diesen Ausführungen schließt sich das Gericht an.
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Dass der Kläger an dem Virus erkranken könnte und die Erkrankung einen so schweren Verlauf nehmen könnte, dass insoweit das Existenzminimum des Klägers nicht mehr sichergestellt werden könnte, ist angesichts der derzeitigen Kenntnisse somit nicht beachtlich wahrscheinlich.
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Insgesamt liegen daher die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte und Grundfreiheiten der EMRK kann angesichts des Vortrags des Klägers und der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel nicht festgestellt werden.
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b. Anhaltspunkte für ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind nicht ersichtlich.
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Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Unerheblich ist dabei, von wem die Gefahr ausgeht und auf welchen Umständen sie beruht. Für die Annahme einer „konkreten“ Gefahr im Sinne dieser Vorschrift genügt aber nicht die bloße Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in die geschützten Rechtsgüter zu werden. Vielmehr ist insoweit der Maßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ anzuwenden und zwar unabhängig davon, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. „Konkret“ ist die Gefahr, wenn die Verschlechterung „alsbald“ nach der Rückkehr des Betroffenen in den Heimatstaat einträte, weil er dort auf unzureichende Möglichkeiten der Behandlung seiner Leiden träfe und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (vgl. BVerwG, U.v. 25.11.1997 - 9 C 58/96 - juris Rn. 13; U.v. 22.3.2012 - 1 C 3/11 - juris Rn. 34; OVG Münster, U.v. 18.1.2005 - 8 A 1242/03.A - juris Rn. 53; BayVGH, B.v. 23.5.2017 - 9 ZB 13.30236 - juris Rn. 28). Zudem muss eine auf den Einzelfall bezogene, individuell bestimmte und erhebliche, also auch alsbald nach der Rückkehr eintretende Gefährdungssituation vorliegen und es muss sich um Gefahren handeln, die dem Ausländer landesweit drohen, denen er sich also nicht durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann.
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Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppen allgemein ausgesetzt ist bzw. sind, werden indes allein bei Entscheidungen über eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Allgemeine Gefahren in diesem Sinn unterfallen § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG selbst dann nicht, wenn sie den Einzelnen konkret und individualisierbar zu treffen drohen. Angesichts der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG kann ein Ausländer daher in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nur dann beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr in sein Heimatland aufgrund der dortigen Existenzbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre oder sonst eine individuelle existenzielle Gefahr für ihn besteht. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 zu gewähren. Die Abschiebung muss somit ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgeliefert würde und sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren würden.
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Somit gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also - wie hier - die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
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Auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen liegen nicht vor. Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen liegt dabei nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfasst also nur einzelfallbezogene, individuell bestimmte Gefährdungssituationen. Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist also nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden und/oder existenzbedrohenden Zuständen, kurz bei existentiellen Gesundheitsgefahren (vgl. BayVGH, B.v. 12.8.2015 - 11 ZB 15.30054 - juris Rn. 10; OVG Münster, B.v. 30.12.2004 - 13 A 1250/04.A - juris Rn. 56). Dabei ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG).
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Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c AufenthG muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (Satz 2). Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten (Satz 3). Ergänzend zu den in § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG genannten Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung sind auch weiterhin die Kriterien heranzuziehen, die das Bundesverwaltungsgericht als Mindestanforderungen an ein qualifiziertes fachärztliches Attest herausgearbeitet hat (vgl. BVerwG, U.v. 11.9.2007 - 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251 ff.). Danach muss sich aus dem fachärztlichen Attest nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt, etwa mit Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden, deren Behandlungsbedürftigkeit, der bisherige Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) sowie im Fall einer auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützten PTBS, deren Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen werden, in der Regel auch eine Begründung dafür, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht wurde.
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Gemessen hieran liegen dem Gericht schon mangels Vorlage einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Gesundheitliche Einwendungen hat der Kläger nicht erhoben.
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Dasselbe gilt unter Berücksichtigung der derzeitigen COVID-19 (sog. Corona-) Pandemie. Die Gefahr, an einer Corona-Infektion zu erkranken, ist auch in Nigeria eine Gefahr, der die dortige Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist. Derartige Gefahren werden allein bei Entscheidungen über eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Allgemeine Gefahren in diesem Sinn unterfallen § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG selbst dann nicht, wenn sie den Einzelnen konkret und individualisierbar zu treffen drohen. Angesichts der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG kann ein Ausländer daher in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nur dann beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr in sein Heimatland aufgrund der dortigen Existenzbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre oder sonst eine individuelle existenzielle Gefahr für ihn besteht. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 zu gewähren. Die Abschiebung muss somit ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgeliefert würde und sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren würden.
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Diese Voraussetzungen einer solchen landesweiten Extremgefahr sind in Nigeria auch im Hinblick auf die COVID-19 Pandemie nicht erfüllt. Eine individuelle, außergewöhnliche Gefahrenlage in diesem Sinne, welche die Schwelle der allgemeinen Gefährdung übersteigt, ist für die Kläger im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auch bei Berücksichtigung der oben ausgeführten Verbreitung des Corona-Virus nicht erkennbar.
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Der Kläger muss sich überdies genauso wie bei anderen Erkrankungen gegebenenfalls mit den Behandlungsmöglichkeiten in Nigeria behelfen (vgl. VG Würzburg, GB.v. 1.7.2020 - W 8 K 20.30151 - juris Rn. 29ff, 36ff m.w.N.).
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3. Die Ausreiseaufforderung mit der einwöchigen Ausreisefrist und die gleichzeitig erfolgte Abschiebungsandrohung nach §§ 71a Abs. 4, 34, 36 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG begegnen keinen rechtlichen Bedenken. Auch die nunmehr nur sechsmonatige Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist ermessensfehlerfrei ergangen.
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4. Nach alledem war die Klage abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.