Inhalt

VG München, Urteil v. 12.07.2022 – M 32 K 17.45190
Titel:

Asyl, Drittstaatenbescheid Italien: Keine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bei Abschiebung eines Schutzberechtigten  

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 31 Abs. 3, § 35
AufenthG § 60 Abs. 5, 7
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Das erkennende Gericht ist davon überzeugt, dass Menschen mit internationalem Schutzstatus in Italien grundsätzlich menschenrechtskonform behandelt werden und in der Lage sind, ihre Grundbedürfnisse zu decken. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl Nigeria, Unzulässigkeitsentscheidung wegen Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen EU-Mitgliedstaat (hier: Italien), Abschiebung nach Italien, Keine mangelhaften Aufnahmebedingungen in Italien, Keine Abschiebungsverbote bzgl. Italien
Fundstelle:
BeckRS 2022, 21995

Tatbestand

1
Der Kläger ist nach seinen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger, am 2. Februar 2009 aus Nigeria ausgereist und über Niger und Libyen am 29. Juni 2011 nach Italien eingereist, wo er vier Jahre geblieben sei und Asylantrag gestellt habe. Weil er wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten seine Mietwohnung verloren habe, habe er Italien verlassen und sei am 14. März 2015 nach Deutschland eingereist. Am 29. Mai 2015 stellte der Kläger in Deutschland Asylantrag.
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In seiner Erstbefragung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 29. Mai 2015 gab der Kläger an, in Italien etwa im September/Oktober 2011 Asyl beantragt und zuerkannt bekommen zu haben. In seiner Anhörung vor dem Bundesamt vom 31. August 2016 wiederholte der Kläger, dass er in Italien einen Asylantrag gestellt habe; er habe eine Aufenthaltserlaubnis über fünf Jahre erhalten. Ein EURODAC-Treffer ergab, dass der Kläger am 2. September 2011 in Italien Asylantrag gestellt hat.
3
Mit Bescheid vom 21. Juni 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen und forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen; im Falle der Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Sollte der Kläger die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er nach Italien abgeschoben. Der Kläger könne auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist. Der Kläger dürfe nicht nach Nigeria abgeschoben werden. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig sei, da nach den eigenen Angaben des Klägers dieser bereits in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich Italien, internationalen Schutz erhalten habe. Es lägen auch keine Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK bezüglich Italien vor, und zwar nach Erkenntnislage und Rechtsprechung weder im Hinblick auf die allgemeinen Situation in Italien noch im Hinblick auf die individuelle Situation des Klägers. Zu letzterer sei darauf hinzuweisen, dass der Kläger Italien lediglich deshalb verlassen habe, weil er seine Miete nicht habe bezahlen können. Das habe mit einer Menschenrechtsverletzung nichts zu tun. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG bestehe nicht.
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Gegen den Bescheid erhob der Kläger am 29. Juni 2017 zur Niederschrift des Urkundsbeamten Klage zum Verwaltungsgericht München (21. Kammer, Az. M 21 K 17.45190; nach Übernahme des Verfahrens durch die 13. Kammer zum 1.1.2018 erhielt das Verfahren das Az. M 13 K 17.45190; nach Übernahme des Verfahrens durch die 32. Kammer zum 1.1.2022 erhielt das Verfahren das Az. M 32 K 17.45190). Zur Begründung wurde auf die Angaben vor dem Bundesamt Bezug genommen.
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Am 25. Juli 2017 bestellte sich der Bevollmächtigte des Klägers. Ausführungen erfolgten nicht.
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In der mündlichen Verhandlung vom 12. Juli 2022, an der der Bevollmächtigte des Klägers nicht teilnahm, nahm der Kläger auf das Bisherige Bezug.
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Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte, auch auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 12. Juli 2022, verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage bleibt ohne Erfolg.
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Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO.
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Zu Recht lehnt der Bescheid den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab, verneint das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG bezüglich Italien und droht die Abschiebung primär nach Italien, nicht aber nach Nigeria, an.
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Zur Begründung verweist das Gericht gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auf die zutreffenden Ausführungen im Bescheid und führt lediglich ergänzend Folgendes aus:
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1. Die Ablehnung des in Deutschland gestellten Asylantrags des Klägers gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig erfolgte zu Recht.
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a. Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 AsylG gewährt hat.
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Das ist hier nach den eigenen Angaben des Klägers der Fall. Es bestand für das Bundesamt und auch für das Gericht kein Anlass, an diesen Angaben des Klägers zu zweifeln. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür dargetan oder ersichtlich, dass dieser Schutzstatus zwischenzeitlich erloschen wäre.
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b. Die Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist vorliegend nicht aus Gründen vorrangigen Unionsrechts ausgeschlossen.
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Das wäre dann der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, die den Kläger in dem anderen EU-Mitgliedstaat erwarten, ihn der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC, dem Art. 3 EMRK entspricht, aussetzen würden (vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17, Hamed -, juris, Rn. 43). Wenn eine solche Gefahr besteht, ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 lit. a RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Verfahrensrichtlinie) eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz deshalb als unzulässig abzulehnen, weil dem Kläger bereits von einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist (vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteile vom 20. Mai 2020 - 1 C 34.19 - juris Rn. 15 und vom 21. April 2020 - 1 C 4.19 - juris Rn. 36 im Anschluss an EuGH, U. v. 19. März 2019 - verb. Rs. C-297/17 u.a. - juris Rn. 88, und B. v. 13. November 2019 - C-540/17 u.a. - juris Rn. 35.).
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Im Rahmen des gemeinsamen europäischen Asylsystems gilt zunächst die Vermutung, dass die Behandlung der Betroffenen im Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen bei einer Überstellung dorthin in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17, Jawo -, Rn. 82 f.).
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Das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht ist daher, falls es über Angaben verfügt, die die betreffende Person zum Nachweis des Vorliegens eines derartigen Risikos vorgelegt hat, verpflichtet, auf ausreichender Grundlage unter Beachtung der Bedeutung der Grundrechte zu würdigen, ob systemische, allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17, Jawo -, Rn. 90; sowie B.v. 13.11.2019 - C-540/17, Hamed -, Rn. 38; beide juris). Eine auf Grund der Lebensumstände drohende konventionswidrige Behandlung ist aber nur anzunehmen, wenn eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht wird, die von sämtlichen Umständen des Falls abhängt. Art. 3 EMRK wäre nur dann verletzt, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U. v. 19.03.2019 - C-163/17 - juris). Diese Schwelle wird selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Person gekennzeichneten Situationen dann nicht erreicht, wenn sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, auf Grund derer sich die Person in einer Lage befindet, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichkommt (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim -, Rn. 89 - 91; und - C-163/17, Jawo -, Rn. 91 - 93; beide juris).
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Im Rahmen der hierbei zu treffenden Prognoseentscheidung ist eine tatsächliche Gefahr des Eintritts der maßgeblichen Umstände erforderlich, es darf nicht nur eine auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr bestehen. Die Gefahr einer Art. 3 EMRK - bzw. Artikel 4 GRC - zuwiderlaufenden Behandlung muss auf Grund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und nicht nur hypothetisch sein. Es gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit; die für die Gefahr sprechenden Umstände müssen ein größeres Gewicht haben als diejenigen, die dagegen sprechen (vgl. OVG RhPf, U.v. 17.3. 2020 - 7 A 10903/18.OVG - juris Rn. 34 m.w.N.).
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Vorliegend ist das Gericht überzeugt, dass dem Kläger im Fall einer Abschiebung nach Italien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Situation extremer materieller Not droht; Art. 3 EMRK (bzw. Art. 4 GRC) steht damit der Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig nicht entgegen.
21
Beim Bundesamt machte der Kläger zwar Angaben über seine Lebenssituation in Italien zur Widerlegung der auf dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens beruhenden Vermutung, dass seine Situation in Italien nach seiner Rückführung im Einklang mit Art. 3 EMRK stehen wird. Diese Angaben genügen aber bei Weitem nicht für eine substantiierte Widerlegung der Vermutung.
22
Es ist nicht anzunehmen, dass der Kläger unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine Situation extremer materieller Not geraten werde, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, und die seine Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzt.
23
Das erkennende Gericht ist davon überzeugt, dass Menschen mit internationalem Schutzstatus in Italien grundsätzlich menschenrechtskonform behandelt werden und in der Lage sind, ihre Grundbedürfnisse zu decken.
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International Schutzberechtigte hatten bis zum Inkrafttreten des Gesetzesdekrets Nr. 130/2020 normalerweise für sechs Monate Zugang zu den Zweitaufnahmezentren („Sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per minori stranieri non accompagnati“), den sogenannten SIPRIOMI, ehemals SPRAR-​Zentren. Dabei handelte es sich um Unterkünfte, die die Bewohner bei der Integration unterstützen sollten. Sie sollten Sprachkurse, Arbeitsintegrationsprogramme, psychologische Unterstützung, juristische Beratung und andere Leistungen anbieten. Den Bewohnern wurden Leistungen zuteil, die ihre Perspektiven zur Begründung und Wahrung einer Existenz im Rahmen der Verfestigung ihres Aufenthalts in Italien verbessern. Zugang zu diesen Zentren hatten neben Personen mit internationalem Schutzstatus unbegleitete minderjährige Asylsuchende und Personen, die eine Aufenthaltsbewilligung aus besonderen Gründen besaßen. Die meisten Unterkünfte waren aber relativ klein. Für neue Schutzstatusinhaber standen normalerweise Plätze in SIPRIOMI-​Projekten zur Verfügung. Nach Ablauf der sechs Monate endete die Unterbringung dort und Schutzberechtigte wurden behandelt wie italienische Staatsangehörige und mussten für sich selbst sorgen, wobei die Unterbringungszeit maximal zweimal um sechs Monate verlängert werden konnte. Rückkehrende aus anderen Mitgliedstaaten hatten kein Anrecht auf Unterstützung in den SIPRIOMI, es sei denn, sie hatten zuvor keinen Zugang dazu; wenn eine Person ein SIPRIOMI-​Zentrum ohne Nachricht für 72 Stunden verließ, verlor sie grundsätzlich das Recht auf Unterbringung dort. Auch wenn die maximale Unterbringungszeit in einer Zweitaufnahmeeinrichtung formal auf maximal achtzehn Monate begrenzt war und das italienische Asylsystem grundsätzlich darauf ausgerichtet war, dass anerkannte Schutzberechtigte jedenfalls nach dieser Zeit selbständig für ihren Lebensunterhalt aufzukommen haben, konnte das erkennende Gericht hierin in seinen bisherigen Entscheidungen bei nichtvulnerablen Personen keine Situation extremer materieller Not erblicken. Eine in Italien eventuell drohende Obdachlosigkeit ist nicht ohne weiteres geeignet, generell eine mit den Grundsätzen des europäischen Asylrechts unvereinbare Behandlung anerkannter Flüchtlinge in Italien anzunehmen. Art. 3 EMRK verpflichtet gerade nicht dazu, anerkannten Flüchtlingen eine Wohnungsunterkunft zur Verfügung zu stellen, sie finanziell zu unterstützen oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (EGMR, U.v. 4.11.2014 - 29217/12 -, NVwZ 2015, 127, 129).
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Mit dem Inkrafttreten des am 21. Oktober 2020 im Amtsblatt veröffentlichten Gesetzesdekretes Nr. 130/2020 am 22. Oktober 2020 ist die oben geschilderte Situation von Asylbewerbern und Personen, die bereits internationalen Schutz genießen, entscheidend verbessert worden. Vor dem Inkrafttreten des Gesetzesdekrets Nr. 130/2020 durften Asylbewerber nur in großen Erstaufnahmezentren (CARA, CDA) und in temporären Aufnahmezentren (CAS) untergebracht werden, die vom italienischen Innenministerium und seinen Präfekturen verwaltet wurden. Diese Einrichtungen erfüllten aber nur grundlegende Standards für die Aufnahme. Im Rahmen der neuen Reform wurde das frühere SPRAR/SIPROIMI-System in SAI („Sistema di accoglienza e integrazione - Reception and Integration System) umbenannt und neu organisiert. Nunmehr werden die Asylsuchenden nach dem Erstkontakt in den von der Regierung verwalteten Aufnahmezentren zwei verschiedenen Leistungsstufen zugewiesen. In die erste Stufe, die Erstaufnahmezentren und temporären Einrichtungen, werden die Antragsteller von internationalem Schutz aufgenommen, in die zweite Stufe die Personen, die bereits internationalen Schutz genießen sowie vorrangig - laut dem Rundschreiben des italienischen Innenministeriums vom 8. Februar 2021 in Übereinstimmung mit der „Tarakhel“-Rechtsprechung - als „schutzbedürftig“ bezeichnete Personen wie Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, schwangere Frauen, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfer von Menschenhandel, Menschen mit schweren Krankheiten oder psychischen Störungen …). Angemessene HygieneSanitär- und Wohnstandards müssen gewährleistet werden, ebenso altersbedingte besondere Bedürfnisse und die notwendigen Maßnahmen von Personen mit besonderen Bedürfnissen. Weiterhin ist nunmehr geregelt, dass der Schutz der Familie bestehend aus Ehegatten und Verwandten bis zu ersten Grad und so fundamentale Rechte wie die Familienzusammenführung bzw. die Familieneinheit, gewährleistet sein müssen. In der ersten Stufe werden den Asylsuchenden u.a. materielle Leistungen, medizinische Versorgung, soziale und psychologische Betreuung, Italienischkurse und Rechtsberatung angeboten. In der zweiten Stufe gibt es darüber hinaus zusätzliche Angebote zur Integration einschließlich Angebote zur Berufsorientierung und Berufsausbildung etc..
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Ausländer, die in Italien als Flüchtlinge anerkannt worden sind, sind italienischen Staatsangehörigen gleichgestellt. Soweit von Personen, denen in Italien ein internationaler Schutzstatus zuerkannt wurde, erwartet wird, dass sie selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt sorgen, ist dies nicht menschenrechtswidrig und entspricht im Übrigen auch den Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie. Art. 3 EMRK erhält weder eine Verpflichtung der Vertragsstaaten, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen noch begründet diese Vorschrift eine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. BVerwG, B. v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 - juris Rn. 10).
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International Schutzberechtigte werden in Italien in die Lage versetzt, ihren Lebensunterhalt selbständig zu bestreiten, denn sie haben dort ungehinderten Zugang zum Arbeitsmarkt bzw. zu einer Berufsausbildung (vgl. BAMF, Länderinformation: Italien, Stand: Mai 2017, S. 3). Der Zugang international Schutzberechtigter zum Arbeitsmarkt wird durch das italienische Recht nicht beeinträchtigt. In Italien arbeiten viele von ihnen als Tagelöhner oder im Gartenbau oder auf Märkten. Dass es für anerkannt Schutzberechtigte gleichwohl u.U. mit Schwierigkeiten einhergeht, eine Erwerbstätigkeit zu ergreifen, ist der - gegenüber Deutschland - schlechteren Arbeitsmarktsituation geschuldet. Aufgrund der hohen Arbeitslosenzahlen ist es in Italien generell schwer, Arbeit zu finden (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation - Italien, 11. November 2020, S. 24). Es muss aber nicht davon ausgegangen werden, dass es unwahrscheinlich sei, einen Arbeitsplatz zu finden. Denn zum einen ist zu bedenken, dass ein Großteil der Schutzsuchenden nicht dauerhaft in Italien bleiben und dort arbeiten will (vgl. OVG RhPf, U.v. 15.12. 2020, a.a.O., juris Rn. 45). Zum anderen ist von Schutzberechtigten ohne weiteres zu verlangen, dass sie sich in ganz Italien um eine Arbeitsstelle, ggf. im Niedriglohnsektor, bemühen. Denn der italienische Arbeitsmarkt erweist sich auf regionaler Ebene als sehr heterogen, mit stark industrialisierten Regionen im Norden und solchen im Süden, in denen Tätigkeiten in der Landwirtschaft und im Tourismus überwiegen (vgl. OVG RhPf, U.v.15.12.2020, a.a.O., juris Rn. 45 f.). Unbeschadet der Vermittlungsmöglichkeiten der SAI-​Zentren kann von Schutzberechtigten erwartet werden, in die Regionen zu ziehen, in denen sie auch ohne vorherige Ausbildung Beschäftigungen etwa in der Landwirtschaft und im Tourismus finden (vgl. OVG RhPf, U.v. 15.12.2020, a.a.O., juris Rn. 45, 46).
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In Fragen der Gesundheitsversorgung sind Asylsuchende, anerkannte Schutzberechtigte und Personen, die sich im Verfahren zur Erneuerung ihrer Aufenthaltsbewilligung befinden, den italienischen Staatsbürgern gleichgestellt und haben auch tatsächlich die Möglichkeit des Zugangs zu ausreichender gesundheitlicher Versorgung. Nach der bestehenden Auskunftslage haben alle Personen in Italien ein Recht auf medizinische Grund- und Notfallversorgung bei Krankheit oder Unfall sowie auf eine Präventivbehandlung zur Wahrung der individuellen und öffentlichen Gesundheit. Für den Zugang zum Hausarzt und weiteren medizinischen Leistungen ist eine Gesundheitskarte nötig. Für deren Erhalt ist u.a. eine Registrierung am Wohnsitz erforderlich, für die wiederum u.a. eine Aufenthaltsbewilligung und eine Wohnzertifikat erforderlich sind. Das kann bei obdachlosen Schutzberechtigten dazu führen, dass sie keine Gesundheitskarte beantragen können, etwa wenn sie keine fiktive Wohnanschrift oder diejenige einer lokalen Nichtregierungsorganisation angeben können.
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Zwar besteht in Italien kein dem in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Sozialleistungssystem vergleichbares, landesweites Recht auf Fürsorgeleistungen. Art. 3 EMRK gewährt von einer Überstellung betroffenen Ausländern jedoch grundsätzlich keinen Anspruch auf Verbleib in einem Mitgliedstaat, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistung zu profitieren. Allein die Tatsache, dass die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse bei einer Überstellung bedeutend geschmälert würden, begründet grundsätzlich keinen Verstoß gegen die Vorschrift. Der bloße Umstand, dass in der Bundesrepublik die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als in Italien, vermag nicht die Schlussfolgerung zu stützen, dass ein Schutzberechtigter im Fall der Abschiebung nach Italien tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung zu erfahren (vgl. EuGH, U. v. 19.03.2019, a.a.O. Rn. 97).
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Auch dass ein Schutzberechtigter in Italien nicht auf familiäre Solidarität einer Großfamilie zurückgreifen kann, um etwaigen Mängeln des italienischen Sozialsystems zu begegnen, ist keine ausreichende Grundlage für die Feststellung, dass er sich in Italien in einer Situation extremer materieller Not befände (vgl. EuGH, U. v. 19.03.2019, a.a.O.). Ferner ist davon auszugehen, dass anerkannte Flüchtlinge erforderlichenfalls staatliche Hilfe in Anspruch nehmen können, um jedenfalls ihre Grundbedürfnisse zu decken. Gelingt dies nicht sogleich bzw. vollständig, können sie - wie auch Italiener, die arbeitslos sind - die Hilfe caritativer Organisationen erhalten (vgl. VG Würzburg, U. v. 04.02.2019 - W 8 K 18.32181 - juris Rn. 22; VG München, U. v. 13.2.2017 - M 21 S 16.33951 - juris Rn. 19).
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Vor diesem Hintergrund ist bereits nach der umfassenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Rechtslage vor dem Inkrafttreten des Dekrets Nr. 130/2020 (vgl. z.B. NdsOVG, B.v. 28.5.2018 - 10 LB 202/18 - juris Rn. 26 ff, 88 m.w.N.) und erst recht seit den Verbesserungen des Asylsystems durch das Dekret Nr. 130/2020 bei nichtvulnerablen Personen nicht davon auszugehen, dass ihnen im Fall einer Abschiebung nach Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Situation extremer materieller Not droht, die es ihnen nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen und die ihre Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt. Bei diesem Personenkreis ist es unter Beachtung der von ihm zu verlangenden Eigeninitiative hinreichend wahrscheinlich, dass er in Italien eine Beschäftigung finden kann, die seinen Lebensunterhalt sichert. Im Hinblick auf die oben dargestellte Entwicklung des italienischen Arbeitsmarktes erscheint es ausgeschlossen, dass eine arbeitsfähige und -willige Person im gesamten Land Italien keine Beschäftigung finden kann (vgl. auch OVG RhPf, U.v. 15.12.2020 - 7 A 11038/18 -, juris Rn. 45).
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Auch hinsichtlich der Unterbringungssituation ist bei diesem Personenkreis eine Verletzung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EUGrCh nicht zu befürchten. Selbst wenn er keine Aufnahme in die erste Stufe bei einer SAI-​Einrichtung finden sollte, ergeben sich daraus keine systemischen Mängel in den Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte, die eine Verletzung von Art. 4 EUGrCh begründen. Denn zum einen ist Art. 4 EUGrCh im Kern ein Abwehrrecht gegen unwürdiges Verhalten eines Staates, der mit Gleichgültigkeit auf eine gravierende Mangel- und Notsituation reagiert, und begründet beispielsweise keinen individuellen Anspruch auf Versorgung mit einer Wohnung oder die allgemeine Verpflichtung, Flüchtlinge finanziell zu unterstützen. Anerkannte Schutzberechtigte müssen sich insbesondere auf die für alle italienischen Staatsangehörigen geltenden Voraussetzungen und Einschränkungen hinsichtlich des Empfangs von Sozialleistungen verweisen lassen (sogenannte Inländergleichbehandlung). Zum anderen droht ihnen eine Obdachlosigkeit nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Denn wie bereits erwähnt bieten neben den SAI auch karitative Einrichtungen, Nichtregierungsorganisationen und einzelne Kirchen Unterkünfte an, auf die sich der nichtvulnerable Personenkreis verweisen lassen muss (vgl. VG Karlsruhe, U.v. 14.9.2020 - A 9 K 3639/18 - juris Rn. 59 ff.; VG Aachen, U.v. 10.11.2020 - 9 K 6001/17 - juris Rn. 67 ff.).
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Schließlich veranlasst auch die Situation des Gesundheitssystems in Italien nicht zur Annahme der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer menschenrechtswidrigen Behandlung von zurückkehrenden Schutzberechtigten. Denn nach den oben dargelegten Erkenntnissen ist davon auszugehen, dass nichtvulnerable Personen bei Bedarf Zugang zum Gesundheitssystem zumindest im Rahmen der Notfallversorgung haben werden.
34
Mangels anderweitiger Anhaltspunkte ist das Gericht deshalb davon überzeugt, dass es dem Kläger unter Berücksichtigung seiner individuellen Besonderheiten gelingen wird, etwaige Herausforderungen, insbesondere bei der Beschaffung einer Arbeitsstelle und Obdach zu überwinden. Der Kläger ist in einem Alter, in dem er ohne weiteres einer Arbeit nachgehen kann. Individuelle Gründe, weshalb er keiner Tätigkeit nachgehen könnte, sind für das erkennende Gericht nicht ersichtlich.
35
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie führen zu keinem anderen Ergebnis. Sie lassen nicht erwarten, dass der Kläger wahrscheinlich in eine konventionswidrige Situation geraten könnte.
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Laut den allgemein zugänglichen Quellen gibt es gegenwärtig in Italien 4.201.827 bestätigte Corona-Fälle (Deutschland: 3.662.490), davon 260.029 aktuelle Fälle (Deutschland: 124.100) und 125.622 Todesfälle (Deutschland: 87.995), Stand: 27.05.2021;
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siehe etwa Italien: https://opendatadpc.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/b0c68bce2cce478eaac82fe38d4138b1;
38
Deutschland: https://www.rki.de/DE/Home/homepage_node.html,
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was angesichts einer Gesamtbevölkerung von ca. 60,29 Millionen (Deutschland: 83 Millionen) einem Prozentsatz von etwa 0,0697 (Deutschland: 0,0442) entspricht).
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Bei diesen Zahlen fehlen zum jetzigen Entscheidungszeitpunkt greifbare Anhaltspunkte für eine ein Abschiebungsverbot rechtfertigende so erhebliche Verschlechterung der humanitären Lage und der allgemeinen Lebensbedingungen durch die Covid-19 Pandemie, dass von einem ganz außergewöhnlichen Fall und zwingenden humanitären Gründen gesprochen werden könnte.
41
Zwar ist Italien von COVID-19 besonders stark betroffen und deshalb als Risikogebiet eingestuft worden. Die Einreise aus Deutschland ist jedoch derzeit grundsätzlich noch möglich (vgl. Auswärtiges Amt, Italien: Reise und Sicherheitshinweise (COVID-19-bedingte Reisewarnung), Stand: 16. Dezember 2020). Gleiches gilt für Rückführungen; allerdings verlangt der italienische Staat insoweit einen negativen COVID-19-Test. Selbst wenn Rückführungen ausgesetzt werden sollten, entstände lediglich ein tatsächliches Abschiebungshindernis im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, welches sich auf die Unzulässigkeitsentscheidung nicht auswirkt.
42
Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich durch die Corona-Pandemie die Erwerbsmöglichkeiten für Schutzberechtigte in Italien nachhaltig verschlechtern sollten. Dies ist schon angesichts des künftigen Personalbedarfs nicht zu erwarten. Hinzu kommt, dass die Corona-Pandemie den Bedarf an Lebensmitteln weitgehend unberührt lässt. Mit anderen Worten werden gerade in der Landwirtschaft weiterhin Arbeitskräfte benötigt. In diesem Bereich können auch ungelernte Schutzberechtigte eine Beschäftigung finden.
43
Ferner ist nicht zu erwarten, dass der italienische Staat den Zugang anerkannter Schutzberechtigter zu benötigter Versorgung einschränken wird. Er hat vielmehr die Versorgungsmaßnahmen bis zum Ende der Pandemie verlängert; dies betrifft auch Personen, die das Recht auf Unterstützung eigentlich verloren hätten. Auch wurden Gesundheitskarten und Aufenthaltsberechtigungen verlängert (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation - Italien, 11. November 2020, S. 4; OVG RhPf, U.v. 15.12.2020 - 7 A 11038/18 - juris Rn. 52 ff).
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2. Vor diesem Hintergrund ergibt sich auch unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Klägers kein Anspruch auf Feststellung von im Rahmen dieses Verfahrens gemäß § 31 Abs. 3 AsylG zu prüfenden zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG.
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a. Zunächst liegt kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK vor. Die Voraussetzungen für ein solches Verbot sind nicht gegeben. Dazu wird auf die obigen Ausführungen verwiesen
46
b. Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG bezogen auf Italien kommt ebenfalls nicht in Betracht. Es ist nicht zu erkennen, dass dem Kläger Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit drohen.
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Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Unerheblich ist dabei, von wem die Gefahr ausgeht und auf welchen Umständen sie beruht. Für die Annahme einer „konkreten“ Gefahr im Sinne dieser Vorschrift genügt aber nicht die bloße Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in die geschützten Rechtsgüter zu werden. Vielmehr ist insoweit der Maßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ anzuwenden und zwar unabhängig davon, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. „Konkret“ ist die Gefahr, wenn die Verschlechterung „alsbald“ nach der Rückkehr des Betroffenen in den Heimatstaat einträte, weil er dort auf unzureichende Möglichkeiten der Behandlung seiner Leiden träfe und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (vgl. BVerwG, U.v. 25.11.1997 - 9 C 58/96 - juris Rn. 13; U.v. 22.3.2012 - 1 C 3/11 - juris Rn. 34; OVG Münster, U.v. 18.1.2005 - 8 A 1242/03.A - juris Rn. 53; BayVGH, B.v. 23.5.2017 - 9 ZB 13.30236 - juris Rn. 28). Zudem muss eine auf den Einzelfall bezogene, individuell bestimmte und erhebliche, also auch alsbald nach der Rückkehr eintretende Gefährdungssituation vorliegen und es muss sich um Gefahren handeln, die dem Ausländer landesweit drohen, denen er sich also nicht durch Ausweichen in sichere Gebiete seines Herkunftslandes entziehen kann.
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Gefahren, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppen allgemein ausgesetzt ist bzw. sind, werden indes allein bei Entscheidungen über eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Allgemeine Gefahren in diesem Sinn unterfallen § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG selbst dann nicht, wenn sie den Einzelnen konkret und individualisierbar zu treffen drohen. Angesichts der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG kann ein Ausländer daher in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nur dann beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr in sein Heimatland aufgrund der dortigen Existenzbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre oder sonst eine individuelle existenzielle Gefahr für ihn besteht. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 zu gewähren. Die Abschiebung muss somit ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgeliefert würde und sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren würden.
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Somit gewährt § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unter dem Gesichtspunkt der extremen Gefahrenlage keinen weitergehenden Schutz, als es § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK tut. Liegen also - wie hier - die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen schlechter humanitärer Bedingungen nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante, extreme Gefahrenlage aus.
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Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen liegt dabei nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfasst also nur einzelfallbezogene, individuell bestimmte Gefährdungssituationen. Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist also nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden und/oder existenzbedrohenden Zuständen, kurz bei existentiellen Gesundheitsgefahren (vgl. BayVGH, B.v. 12.8.2015 - 11 ZB 15.30054 - juris Rn. 10; OVG Münster, B.v. 30.12.2004 - 13 A 1250/04.A - juris Rn. 56). Dabei ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG).
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Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c AufenthG muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (Satz 2). Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten (Satz 3). Ergänzend zu den in § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG genannten Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung sind auch weiterhin die Kriterien heranzuziehen, die das Bundesverwaltungsgericht als Mindestanforderungen an ein qualifiziertes fachärztliches Attest herausgearbeitet hat (vgl. BVerwG, U.v. 11.9.2007 - 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251 ff.). Danach muss sich aus dem fachärztlichen Attest nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt, etwa mit Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden, deren Behandlungsbedürftigkeit, der bisherige Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) sowie im Fall einer auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützten PTBS, deren Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen werden, in der Regel auch eine Begründung dafür, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht wurde.
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Gemessen hieran liegen dem Gericht keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Gesundheitliche Einwendungen hat der Kläger nicht vorgebracht.
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Dasselbe gilt unter Berücksichtigung der derzeitigen COVID-19 (sog. Corona-) Pandemie. Die Gefahr, an einer Corona-Infektion zu erkranken, ist auch in Italien eine Gefahr, der die dortige Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist. Derartige Gefahren werden allein bei Entscheidungen über eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Allgemeine Gefahren in diesem Sinn unterfallen § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG selbst dann nicht, wenn sie den Einzelnen konkret und individualisierbar zu treffen drohen. Angesichts der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG kann ein Ausländer daher in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG Abschiebungsschutz nur dann beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr in sein Heimatland aufgrund der dortigen Existenzbedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre oder sonst eine individuelle existenzielle Gefahr für ihn besteht. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 zu gewähren. Die Abschiebung muss somit ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgeliefert würde und sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren würden.
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Diese Voraussetzungen einer solchen landesweiten Extremgefahr, bei der aufgrund der Schutzwirkungen der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG ausnahmsweise nicht greift (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 38), bei der ein Einzelner - hier: der Kläger - mithin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde, liegt in Italien zur Überzeugung des Gerichts nicht vor. Es ist nicht zu erkennen, dass dem Kläger Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit drohen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Schutzberechtigten in Italien die erforderlichen Hilfen verweigert würden. Laut Artikel 32 der italienischen Verfassung ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung ein Grundrecht für alle und liegt im Interesse der Gemeinschaft. Diese Verfassungsnorm gilt auch auf Ausländer, egal ob sie regulär oder irregulär in Italien leben (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aufnahmebedingungen in Italien, 1. Januar 2020, S. 77). Etwaige Schwierigkeiten bei der Registrierung im staatlichen Gesundheitssystem sind vom Kläger in zumutbarer Weise zu überwinden.
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3. Die im Bescheid unter Heranziehung von § 38 Abs. 1 AsylG gesetzte Ausreisefrist von 30 Tagen, im Fall der Klageerhebung von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, ist zwar fehlerhaft. Nach der unter anderem in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG anzuwendenden Spezialregelung des § 36 Abs. 1 AsylG wäre eine Ausreisefrist von einer Woche zu setzen gewesen mit der Folge, dass gemäß § 75 AsylG der Klage keine aufschiebende Wirkung zugekommen wäre. Die Heranziehung von § 38 Abs. 1 AsylG mit der Folge, dass gemäß § 75 AsylG die Klage aufschiebende Wirkung hatte, verletzt den Kläger aber nicht in seinen Rechten, sondern begünstigt ihn.
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4. Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG keinen rechtlichen Bedenken. Die Ermessenserwägungen der Beklagte sind im Rahmen der auf den Maßstab des § 114 Satz 1 VwGO beschränkten gerichtlichen Überprüfung nicht zu beanstanden, zumal der Kläger diesbezüglich keine substantiierten Einwendungen vorgebracht und insbesondere kein fehlerhaftes Ermessen gerügt hat.
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5. Die Klage war nach alledem abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.