Inhalt

VG München, Beschluss v. 27.07.2022 – M 10 S 21.30729
Titel:

Erfolgreicher Eilantrag gegen einen nicht ordnungsgemäß zugestellten und unter Verstoß gegen den Sozialdatenschutz ergangenen ablehnenden Asylbescheid

Normenketten:
AsylG § 25, § 30 Abs. 1, Abs. 3, § 76 Abs. 4
SGB I § 35
SGB VII § 42a
SGB X § 67 Abs. 2
VwZG § 8, § 9, § 43
Leitsätze:
1. Die Zuleitung der Kopie eines Bescheides reicht zur Heilung eines Zustellungsmangels nach § 9 VwZG nicht aus. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine „Vorprüfung“ der Fluchtgeschichte des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings durch das Jugendamt für die Antragsgegnerin ist gesetzlich nicht vorgesehen und unterliefe vorgesehenen sachlichen Zuständigkeiten. Im vorliegenden Fall spricht einiges dafür, dass das Zugänglichmachen der Angaben des Antragstellers beim Jugendamt gegenüber der Antragsgegnerin einen Verstoß gegen den Sozialdatenschutz darstellen dürfte. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylantragsablehnung als offensichtlich unbegründet, Herkunftsland Gambia, Unbegleiteter minderjähriger Antragsteller, Volljährigkeit im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheids, Keine Vertretungsmacht der Betreuerin zur ursprünglichen Klageerhebung, Zustellungsmangel beim ursprünglichen Bescheid, Heilung durch Übermittlung einer Kopie des Bescheids (verneint)
Fundstelle:
BeckRS 2022, 21992

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. April 2020 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes (erneut) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. April 2020 (Geschäftszeichen … ), mit dem sein Asylantrag nach § 30 Abs. 1 AsylG und § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde.
2
Der streitgegenständliche Bescheid war bereits beim Verwaltungsgericht München Gegenstand in den Verfahren M 10 S 20.31645 und M 10 K 20.31644. Das Verfahren M 10 K 20.31644 wurde durch Beschluss vom 10. November 2020 eingestellt, nachdem die Klage wegen Nichtbetreiben des Verfahrens gem. § 81 Satz 1 AsylG als zurückgenommen galt. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO im Verfahren M 10 S 20.31645 wurde mit Beschluss vom gleichen Tag im Hinblick auf den Einstellungsbeschluss in der Hauptsache abgelehnt. Den Beschlüssen vom 10. November 2020 ging folgender Verfahrensgang voraus:
3
Der Bescheid vom 20. April 2020 wurde nur dem ehemaligen Amtsvormund des Antragstellers beim Landratsamt … zugestellt, nicht aber dem Antragsteller selbst, obwohl dieser am 7. April 2020 die Volljährigkeit erlangte. In der Folge erhob der ehemalige Amtsvormund gegen den Bescheid vom 20. April 2020 Klage beim Verwaltungsgericht München und beantragte deren aufschiebende Wirkung gem. § 80 Abs. 5 VwGO. Nachdem auf zweimalige Nachfrage des Gerichts, ob im Hinblick auf das Geburtsdatum des Antragstellers noch die gesetzliche Vertretung bestehe (Schreiben vom 9.6.2020 und 29.9.2020), keine Reaktion des Amtsvormundes erfolgte, ergingen die oben genannten Beschlüsse. Nach dem Vortrag der Bevollmächtigten des Antragstellers hat Letzterer über Umwege von der Antragsgegnerin vom ablehnenden Eilbeschluss des Gerichts vom 10. November 2020 erfahren.
4
Die Bevollmächtigte des Antragstellers hatte, nachdem der Antragsteller bei ihr am 17. März 2021 vorstellig war und ihr erzählte, dass ihm seine Aufenthaltsgestattung nicht verlängert und ihm mitgeteilt worden sei, dass sein Asylverfahren rechtskräftig abgeschlossen sei, zunächst mit Schriftsatz vom 18. März 2021, bei Gericht per Fax eingegangen am gleichen Tag, „vorsorglich“ Klage erhoben und einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt. Diese wurden unter den Aktenzeichen M 10 K 21.30671 bzw. M 10 S 21.30672 geführt.
5
Mit weiterem Schriftsatz vom 30. März 2021 erhob die Bevollmächtigte des Antragstellers abermals Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid vom 22. April 2020, mit der sie dessen Aufhebung erreichen möchte und die Antragsgegnerin verpflichtet werden soll, dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise, subsidiären Schutz zu gewähren und weiter hilfeweise, das Vorliegen von Abschiebungsverboten gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG festzustellen (Verfahren M 10 K 21.30727).
6
Zudem wird beantragt,
7
die aufschiebende Wirkung dieser Klage anzuordnen.
8
In der Klagebegründung vom 30. März 2021 wird ausgeführt, dass vor der Akteneinsicht durch die Bevollmächtigte von keiner Bekanntgabe des Bescheids gegenüber dem Antragsteller auszugehen sei. Zum Zeitpunkt der erstmaligen Zustellung des Bescheides an das Landratsamt … sei der Antragsteller bereits volljährig gewesen. Die Vormundschaft sei deshalb bereits beendet gewesen. Der Bescheid hätte dem Antragsteller selbst zugestellt werden müssen, was nicht geschehen sei. Der damalige Vormund habe den Antragsteller auch nicht darüber in Kenntnis gesetzt, dass ein Bescheid gegen ihn ergangen sei. Die Klageerhebung durch den früheren Vormund sei nicht zulässig gewesen.
9
Mit Schriftsatz vom 1. Juli 2021 stellte die Bevollmächtigte des Antragstellers klar, dass sie die Klagen und Eilanträge im Jahr 2021 gestellt habe, weil unklar gewesen sei, ob und wann der streitgegenständliche Bescheid dem Antragsteller bekanntgegeben bzw. zugestellt wurde.
10
Die Antragsgegnerin beantragt mit allgemeiner Prozesserklärung vom 1. April 2021,
11
die Klage abzuweisen.
12
Mit Schriftsatz vom 2. Juli 2021 hat die Antragsgegnerin eingeräumt, dass es von ihrer Seite Verfahrensfehler gegeben habe. Da der Antragsteller am 7. April 2020 die Volljährigkeit erlangt habe, sei die bestellte Amtsvormundschaft durch das Landratsamt … am gleichen Tag beendet gewesen. Dem Inhalt der Behördenakte sei nicht zu entnehmen, dass es eine darüberhinausgehende Vertretungsvollmacht gegeben habe. Die Entscheidung hätte dem Antragsteller persönlich zugestellt werden müssen. Nach ihrer Auffassung gelte der Bescheid nunmehr als am 17. März 2021 zugestellt, da die Bevollmächtigte des Antragstellers an diesem Tag hiervon Kenntnis erlangt habe. Die Klage im Verfahren M 10 K 21.30671 und der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO im Verfahren M 10 S 21.30672 seien deshalb zulässig. Die am 30. März 2021 erhobene Klage bzw. gestellte Eilantrag seien jedoch wegen Verfristung und doppelter Rechtshängigkeit unzulässig.
13
Mit Schreiben vom 2. Juli 2021 übermittelte die Antragsgegnerin der Bevollmächtigten die Entscheidung, dass die Bestandkraft des streitgegenständlichen Bescheids vom 22. April 2020 aufgehoben werde (Nr. 1) und der Bescheid als wirksam zugestellt gelte am 17. März 2021 (Nr. 2).
14
Mit Schriftsatz vom 4. August 2021 erwiderte die Bevollmächtigte des Antragstellers, dass ihr der streitgegenständliche Bescheid erstmals am 23. März 2021 mit der Übersendung der Bundesamt-Akte zugegangen sei. Sie habe lediglich am 17. März 2021 dem Eilbeschluss des Gerichts entnommen, dass es einen „ou-Bescheid“ geben müsse. In der Sache wird ausgeführt, dass sich der Antragsteller gefürchtet habe, in Gambia in die Fänge einer aus damaliger Sicht oftmals rechtswidrig handelnden Justiz zu gelangen, oder dass sich die geschädigten Einwohner wegen des Brandes an ihm rächen würden. Es möge sein, dass dem Antragsteller bei einer Rückkehr nach Gambia aktuell keine Gefahr mehr drohen würde. Eine Entscheidung als offensichtlich unbegründet käme jedoch aufgrund des Umstandes, dass der Antragsteller das Land aus Furcht vor der Justiz verlassen habe, nicht in Betracht.
15
Auf Anregung der Bevollmächtigten des Antragstellers, gegen Klagerücknahme den streitgegenständlichen Bescheid durch einen neuen Bescheid (in welchem der Asylantrag des Antragstellers als „einfach unbegründet“ abgelehnt wird) zu ersetzen, erklärte die Antragsgegnerin, dass sie in der Sache am streitgegenständlichen Bescheid festhalte.
16
Mit Schreiben vom 30. März 2022 hörte das Gericht die Beteiligten zur beabsichtigten Übertragung des Rechtsstreits auf die Kammer gem. § 76 Abs. 4 Satz 2 AsylG an.
17
Mit Schriftsätzen vom 3. Juni 2022 nahm der Antragsteller seine Klage und seinen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO in den Verfahren M 10 K 21.30671 und M 10 S 21.30672 zurück.
18
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten, die beigezogene Behördenakte sowie die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
II.
19
Das Gericht entscheidet gem. § 76 Abs. 4 Satz 2 Alt. 1 AsylG durch die Kammer, nachdem ihr durch Beschluss vom 7. Juni 2022 der Rechtsstreit zur Entscheidung übertragen wurde.
20
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat Erfolg, da er zulässig und begründet ist.
21
a) Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO ist im vorliegenden Verfahren zulässig.
22
aa) Im vorliegenden Fall kann trotz des lange zurückliegenden Datums des streitgegenständlichen Bescheids dahinstehen, ob der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO am 30. März 2021 fristgerecht binnen der Wochenfrist nach § 36 Abs. 3 Satz 1, § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG erhoben wurde, da der Bescheid nach Auffassung der Kammer nicht im Sinne von § 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG wirksam bekanntgegeben wurde.
23
Der Bescheid vom 22. April 2020 wurde dem Antragsteller nicht persönlich zugestellt, sondern dessen ehemaligem Vormund, obwohl der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt bereits volljährig war. Mithin lag ein wesentlicher Zustellungsmangel vor, was auch die Antragsgegnerin eingeräumt hat. Mangels wirksamer Zustellung des Bescheids im Zeitpunkt des Zugangs beim ehemaligen Amtsvormund begann deshalb weder die Klagefrist i.S.v. § 57 Abs. 1 VwGO zu laufen, noch konnte dieser rechtswirksam für den Antragsteller damals Klage erheben.
24
(1.) Dieser Zustellungsmangel wurde auch nicht mit der nachträglichen Kenntnisnahme des verfahrensgegenständlichen Bescheids durch die Bevollmächtigte des Klägers nach Übersendung der Bundesamtsakte an diese gem. § 8 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) geheilt. Für die Heilung eines Zustellungsmangels nach § 8 VwZG kommt es maßgeblich darauf an, dass das zuzustellende Dokument im Sinne von § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB in den Machtbereich des Empfangsberechtigten gelangt (s. dazu Ronellenfitsch, in: BeckOK VwVfG, 55. Edition, Stand 1.10.2019, § 8 VwZG Rn. 10). Ob jedoch die Übermittlung einer Kopie des Bescheids zur Heilung eines Zustellungsmangels nach Art. 8 VwZG ausreicht, ist in Literatur und Rechtsprechung sehr umstritten (ausreichend nach BVerwG, U.v. 18.4.1997 - 8 C 43.95 - juris Rn. 29; BFH, U.v. 13.10.2005 - IV R 44/03 - juris Rn. 20; OVG Bremen, B.v. 24.2.2020 - 2 B 304/19 - juris Rn. 4; OVG Lüneburg, B.v. 28.5.2018 - 12 ME 25/18 - juris Rn. 31; OVG Magdeburg, B.v. 19.6.2018 - 3 M 227/18 - juris Rn. 6; OLG Hamm, B.v. 8.8.2017 - 3 RBs 106/17, Rn. 29; OVG Schleswig, B.v. 8.4.2015 - 2 LA 20/15 - juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 6.12.2011 - 19 ZB 11.742 - juris Rn. 12; Couzinet/Fröhlich in Mann/Sennekamp/Uechtritz, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl. 2019, § 41 Rn. 148; Ronellenfitsch in: Bader/ders., BeckOK VwVfG, 55. Ed. 1.10.2019, § 8 VwZG Rn. 12; Baer in Schoch/Schneider, Verwaltungsverfahrensgesetz, Stand: April 2022, § 41 Rn. 149, 153; a.A.: BSG, U.v. 26.10.1989 - 12 RK 21/89 - juris Rn. 20; BGH, B.v. 24.3.1987 - KVR 10/85 - juris Rn. 19; Danker in: Verwaltungszustellungsgesetz, 1. Auflage 2012, § 8 VwZG Rn. 7; Smollich in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Auflage 2019, § 8 VwZG Rn. 6).
25
(2.) Nach der Rechtsprechung der Kammer reicht die Zuleitung einer Kopie des Bescheids zur Heilung eines Zustellungsmangels nicht aus. In einer Entscheidung vom 20. Mai 2021 (VG München, U.v. 20.5.2021 - M 10 K 19.5002 - juris Rn. 39-44) hat die Kammer zur Frage der Heilung eines Zustellungsmangels nach Art. 9 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz (VwZVG) im Falle der Übersendung einer Kopie eines Bescheids ausgeführt:
26
Dafür, dass die Übersendung einer Kopie zur Heilung nach Art. 9 VwZVG ausreicht, spricht, dass damit der Zweck der Bekanntgabe erreicht wird, dem Adressaten zuverlässige Kenntnis des Inhalts des Bescheids zu verschaffen (so grundlegend: BVerwG, U.v. 18.4.1997, a.a.O., S. 181; im Anschluss hieran ohne weitere Begründung insbesondere: OVG Bremen, B.v. 24.2.2020, a.a.O.; OVG Lüneburg, B.v. 28.5.2018, a.a.O.; BayVGH, B.v. 6.12.2011, a.a.O.). Überdies hat die Heilungsmöglichkeit den Sinn, die förmlichen Zustellungsvorschriften nicht zum Selbstzweck erstarren zu lassen und ist dementsprechend grundsätzlich weit auszulegen (vgl. hierzu: BayVGH, B.v. 12.2.2021 - 11 CS 20.2953 - BeckRS 2021, 2782 Rn. 16 zu § 189 ZPO; OLG Hamm, B.v. 8.8.2017, a.a.O., Rn. 14).
27
Gegen dieses Verständnis der Heilungsvorschrift spricht allerdings der Wortlaut der Heilungsvorschrift. Art. 9 VwZVG stellt bei einem Zustellungsmangel „eines Dokuments“ für die Heilung darauf ab, dass „es“, also das Dokument, dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist. Bereits nach dem Wortlaut der Regelung muss dasjenige Schriftstück, dem der Zustellungsmangel anhaftet, beim Empfangsberechtigten eingehen (so auch: BSG, U.v. 26.10.1989, a.a.O., S. 1109). Dafür, dass für die Heilung die Übersendung einer Kopie nicht reicht, spricht ferner der Wille des Gesetzgebers. Nach der Begründung zur Änderung des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes im Jahr 2006 zu Art. 9 VwZVG (LT-Drs. 15/5474 v. 9.5.2006, S. 9) umfasst der Begriff „Dokument“ im Sinne des Art. 9 VwZVG Schriftstücke und elektronische Dokumente nach Art. 2 Abs. 1 VwZVG. Dies sind gemäß der Gesetzesbegründung zu Art. 2 VwZVG (LT-Drs. 15/5474, a.a.O., S. 6) die Urschrift, eine Ausfertigung oder eine beglaubigte Abschrift, ausdrücklich nicht aber eine Fotokopie (vgl. auch die identische Gesetzesbegründung zum inhaltsgleichen § 8 VwZG im Zuge der vorangegangenen Novellierung des Verwaltungszustellungsgesetzes im Jahr 2006: BT-Drs. 15/5216 v. 7.4.2005, S. 11, 14). Für ein solches Verständnis der Norm spricht zudem die ratio der Zustellung, mit der gerade besondere Anforderungen an die Authentizität des zu übergebenden Dokuments gestellt werden sollen. Denn die hohen Anforderungen durch die Originalunterschrift, den Ausfertigungs- oder Beglaubigungsvermerk dienen dazu, dem Empfänger die Überprüfung der Identität des Dokuments mit dem tatsächlichen Bescheid zu ermöglichen (Smollich, a.a.O.).
28
Vor diesem Hintergrund mag es zwar zweckmäßig sein, eine Kopie zur Heilung ausreichen zu lassen. Aber eine solche Interpretation der Norm ist nach Auffassung des Gerichts mit dem eindeutigen Wortlaut und der Gesetzesbegründung nicht vereinbar. Da sich die jüngeren obergerichtlichen Entscheidungen, die nach den Reformen des Verwaltungszustellungsgesetzes und des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes von 2006 ergangen sind und die für eine Heilung die Übermittlung einer Kopie genügen lassen, - soweit ersichtlich - ohne weitere Begründung der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts von 1997 anschließen, ohne sich mit der Gesetzesbegründung zu den im Jahr 2006 reformierten Vorschriften auseinanderzusetzen, folgt das Gericht dieser Rechtsprechung nicht.
29
Art. 9 VwZVG ist auf den vorliegenden Fall der Übermittlung einer Kopie auch nicht analog anwendbar. Die Voraussetzungen einer Analogie liegen schon deswegen nicht vor, da es an einer planwidrigen Regelungslücke mangelt. Ausweislich der Gesetzesbegründung hat der Gesetzgeber den Fall der Kopie nicht planwidrig nicht geregelt, sondern diesen Fall gerade gesehen und die Heilung hierauf explizit nicht für anwendbar erklärt.
30
(3.) Die Kammer hält an dieser Rechtsprechung im vorliegenden Fall fest, zumal sich die obigen Ausführungen in Bezug auf Art. 9 VwZVG ohne Weiteres auf den im maßgeblichen Punkt wortgleichen Art. 8 VwZG („gilt es“) übertragen lassen.
31
Eine Heilung ist im konkreten Fall auch nicht durch rügeloses Einlegen des statthaften Rechtsbehelfs eingetreten, da die Bevollmächtigte bereits in der Klage- und Antragsschrift die Unwirksamkeit der früheren Zustellung an den Amtsvormund gerügt und die Möglichkeit der Heilung gerade offengelassen bzw. hinterfragt hat, ob und dann der verfahrensgegenständliche Bescheid dem Antragsteller zugestellt wurde.
32
bb) Auch wenn damit in der Hauptsache entgegen der gestellten Klageanträge nicht die Anfechtungsklage, sondern die Nichtigkeitsfeststellungsklage nach § 43 Abs. 1 Alt. 2 VwGO statthaft ist, ist im vorliegenden Eilverfahren der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft. Denn auch von einem nichtigen Verwaltungsakt geht der Rechtsschein einer hoheitlichen Regelung aus, zumal die Frage der Nichtigkeit im vorliegenden Fall - die Antragsgegnerin geht von einer Heilung des Zustellungsmangels zum 18. März 2021 aus - umstritten ist (vgl. Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand Februar 2022, § 80 Rn. 37). Da der Antragsteller vorliegend vom Rechtsschein eines Schein-Verwaltungsakts betroffen ist, gebietet es allein schon die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO als statthaft anzusehen.
33
cc) Der vorliegende Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist auch entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht wegen doppelter Rechtshängigkeit im Hinblick auf den „vorsorglich“ erhobenen Eilantrag vom 18. März 2021 unzulässig (Verfahren M 10 S 21.30672). Der Antragsteller hat mit Schriftsatz vom 3. Juni 2022 seine Klage und seinen Eilantrag vom 18. März 2021 zurückgenommen. In der finanzgerichtlichen Rechtsprechung ist für einen solchen Fall allgemein anerkannt, dass wenn die zuerst zurückgenommene Klage zurückgenommen wird, deren Rechtshängigkeit ex tunc entfällt, sodass die ursprünglich unzulässige zweite Klage in die Zulässigkeit hineinwachsen kann (vgl. FG Düsseldorf, U.v. 29.11.2000 - 17 K 1537/98 E - juris Rn. 13 ff.). Dieser Rechtsgedanke lässt sich ohne Weiteres in das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichtsordnung integrieren (§ 173 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO; s. auch Rennert, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2022, § 92 Rn. 20).
34
2. Der Antrag ist auch begründet.
35
aa) Da sich der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO vorliegend nicht gegen einen wirksamen Verwaltungsakt der Antragsgegnerin im Sinne von § 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG richtet, sondern den Rechtsschein eines Schein-Verwaltungsakts, ist Prüfungsmaßstab daher nicht entsprechend Art. 16a Abs. 4 Satz 1 Halbs. 1 GG, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG die Frage des Bestehens ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts. Stattdessen kommt es in der vorliegenden Konstellation darauf an, ob nach summarischer Prüfung in der Hauptsache die Nichtigkeit des betroffenen Verwaltungsakts festzustellen ist.
36
Dies ist, wie oben dargestellt der Fall, da der Bescheid der Antragsgegnerin aufgrund eines Zustellungsmangels und aufgrund fehlender Heilung desselben nicht im Sinne von § 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG wirksam wurde. Dass die Bevollmächtigte des Klägers nach Einsicht in die Bundesamt-Akte Kenntnis vom Inhalt des Bescheids vom 22. April 2020 erlangt hat, genügt nach den oben dargestellten rechtlichen Maßstäben in den Randnummern 25-30 nicht für eine Heilung des ursprünglichen Zustellungsmangels nach Art. 8 VwZG.
37
bb) Ohne dass es für den vorliegenden Beschluss in rechtlicher Hinsicht noch tragend darauf ankommt, weist das Gericht für den Neuerlass eines Bescheides gegenüber dem Antragsteller noch auf Folgendes hin: An dem Offensichtlichkeitsurteil nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG (S. 7 des nicht wirksamen Bescheids) und § 30 Abs. 1 AsylG (S. 8 des nicht wirksamen Bescheids) bestehen nach Auffassung der Kammer ernstliche Zweifel.
38
(1.) Soweit die Antragsgegnerin die Offensichtlichkeitsentscheidung gem. § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG darauf stützt, dass das Vorbringen des Antragstellers „überaus detailarm“, unschlüssig und im Wesentlichen unsubstantiiert gewesen sei, reicht dieser Begründungsansatz für das Offensichtlichkeitsurteil nicht aus. Ein detailarmes und wenig konkretes Vorbringen reicht für sich genommen für eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet nicht aus, solange nicht der Kern des Sachvorbringens in einer Weise unsubstantiiert ist, dass dem Betroffenen über die Ablehnung des Asylbegehrens hinaus eine grobe Verletzung seiner Mitwirkungspflichten vorgeworfen werden kann (Blechinger, in BeckOK MigR, 10. Edition, Stand 15.4.2022, § 30 AsylG Rn. 33 m.w.N.). Die in diesem Zusammenhang im Bescheid angeführten Argumente, die das Offensichtlichkeitsurteil in diesem Punkt stützen sollen - kein erkennbares Zeigen von Regungen und Emotionen während des Vortrags des Klägers in der Anhörung - reichen bezüglich des oben genannten Maßstabes nicht aus.
39
(2.) Soweit auf die Widersprüchlichkeit des Vorbringens des Klägers im Verhältnis zu seinen Angaben beim Jugendamt abgestellt wird, begegnet die Vorgehensweise des Anhörers bzw. die diesbezügliche Bescheidsbegründung erheblichen rechtlichen Bedenken im Hinblick auf das Recht des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie das Recht auf ein faires Asylverfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Auch wenn die vorläufige Inobhutnahme eines ausländischen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings durch das Jugendamt nach § 42a Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch 8 (SGB VIII) Fragen zur Fluchtgeschichte nicht prinzipiell ausschließt - insbesondere wenn es um zu treffende Maßnahmen im Sinne des Kindeswohls geht (vgl. § 42a Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 SGB VIII) -, ist bezüglich der materiellen Prüfung des Asylantrags die ausschließliche Kompetenz der Antragsgegnerin nach § 25 AsylG zu berücksichtigen. Eine „Vorprüfung“ der Fluchtgeschichte des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings durch das Jugendamt für die Antragsgegnerin ist im Rahmen des § 42a Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht vorgesehen und unterliefe die insoweit in § 42a SGB VIII und § 25 AsylG vorgesehenen sachlichen Zuständigkeiten (s. bezüglich des Unionsrechts auch insbesondere Art. 14 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 Asylverfahrens-RL). Im vorliegenden Fall spricht bereits einiges dafür, dass das Zugänglichmachen der Angaben des Antragstellers beim Jugendamt gegenüber der Antragsgegnerin einen Verstoß gegen den Sozialdatenschutz aus § 35 Abs. 1 Satz 1 SGB I i.V.m. § 67 Abs. 2 Satz 1 SGB X darstellen dürfte. Erschwerend kommt hinzu, dass der Antragsteller über die Weitergabe dieser Angaben an die Antragsgegnerin in keiner Weise informiert oder über Verwertungsfolgen belehrt wurde. Im konkreten Fall stellt sich die Verwertung der Angaben des Antragstellers beim Jugendamt durch die Antragsgegnerin zu seinen Lasten im verschärften Kontext des § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG als Verstoß gegen die Grundsätze der Verfahrensfairness und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar.
40
(3.) Soweit die Antragsgegnerin auch bei Wahrunterstellung des klägerischen Vortrags von einer Ablehnung gem. § 30 Abs. 1 AsylG ausgeht, ist die im Bescheid angegebene dreizeilige Begründung nicht ausreichend. Die Ausführung, die Ablehnung nach § 30 Abs. 1 AsylG dränge sich bei Wahrunterstellung des Vorbringens des Antragstellers mangels Vorliegens asylerheblicher Gründe geradezu auf, stellt sich mangels weiterer Begründung, an die im Falle der qualifizierten Ablehnung nach § 30 AsylG erhöhte Anforderungen zu stellen sind (Heusch in BeckOK AuslR, Stand 1.4.2022, § 30 Rn. 56, 59), eher als Rechtsfolgenbehauptung dar. Alleine die Ausführungen zu § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zeigen beispielhaft, dass bei Wahrunterstellung des Vortrags des Antragstellers eine argumentative Auseinandersetzung mit gegenläufigen Erkenntnismitteln erforderlich war (vgl. S. 4 unten/S. 5 oben des nicht wirksamen Bescheids), sodass sich das dann insoweit ablehnende Ergebnis zu § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht regelrecht aufdrängte.
41
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
42
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).