Titel:
Verlustfeststellung des Freizügigkeitsrechts: Wiederholungsgefahr für Straftaten bei einer Suchterkrankung
Normenkette:
Freizüg/EU § 2, § 4a, § 6, § 7 Abs. 2
Leitsätze:
1. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben bei der Prüfung, ob eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch ein persönliches Verhalten des Betroffenen iSd § 6 Abs. 2 S. 2 FreizügG/EU zu erkennen ist - ebenso wie bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung - eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der für die Ausweisung bzw. Verlustfeststellung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein positives Verhalten in der Haft oder Unterbringung lässt noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen könnte. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
4. Eine Höchstfrist für Verlustfeststellungen nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU ist nicht vorgesehen. In der Regel stellt ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont dar, für den eine Prognose realistischer Weise noch gestellt werden kann. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verlustfeststellung des Freizügigkeitsrechts, Wiederholungsgefahr, Suchterkrankung, Verlustfeststellung, rumänischer Staatsangehöriger, freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger, Daueraufenthaltsrecht, Straftaten, Therapie, Höchstfrist
Fundstelle:
BeckRS 2022, 21922
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt festgestellt wurde.
2
Der ledige und kinderlose Kläger ist ein am …1983 geborener rumänischer Staatsangehöriger. Ausweislich der Feststellungen im Urteil des Landgerichts … vom 21. März 2019 schloss der Kläger etwa im Jahr 2000 in Rumänien die Schule mit einem dem deutschen Abitur vergleichbaren Abschluss der Fachrichtung Veterinärmedizin ab. Eine Ausbildung machte er nicht. Fünf Monate nach seinem Schulabschluss begann der Kläger zwischen Rumänien und Deutschland zu pendeln, um hier zu arbeiten. 2013/2014 kam er schließlich dauerhaft nach Deutschland. In Deutschland arbeitete er zunächst bei einem Logistikunternehmen, später als Mitarbeiter eines Security-Unternehmens. Im Jahr 2018 arbeitete er bis etwa Mai für einen Zeitraum von drei bis vier Monaten als Lagerist in einem Getränkemarkt, bevor er das Arbeitsverhältnis kündigte und sodann bis zu seiner Inhaftierung arbeitslos war. Mit dem Konsum von Drogen begann der Kläger Anfang des Jahres 2017. Er konsumierte ausschließlich Kokain, nach kurzer Zeit täglich bis zu 1,5 Gramm. Ab Ende 2017 bis zur Verhaftung am 28. August 2018 versuchte der Kläger mehrfach und überwiegend erfolglos, den Konsum einzustellen. In den Wochen vor der Verhaftung gelang es dem Kläger, weitgehend auf den Konsum von Kokain zu verzichten, wobei er vermehrt Alkohol - bis zu sieben Flaschen Bier pro Tag - trank. Ausweislich eines Auszugs aus dem Ausländerzentralregister erfolgte die letzte Anmeldung des Klägers im Bundesgebiet am 5. Februar 2018 (Wiederzuzug aus dem Ausland).
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Strafrechtlich trat der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland wie folgt in Erscheinung:
Amtsgericht …, Strafbefehl vom 6. November 2017, Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung;
Landgericht …, Urteil vom 21. März 2019, Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten wegen des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei tatmehrheitlichen Fällen. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde angeordnet, wobei ein Vorwegvollzug von 22 Monaten und zwei Wochen bestimmt wurde.
4
Dem Urteil vom 21. März 2019 lag zugrunde, dass der Kläger zu einem nicht mehr näher aufklärbaren Zeitpunkt Mitte/Ende Juni 2018 von einem unbekannt gebliebenen Lieferanten sechs Kilogramm Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 6,2% THC erworben hat, die er in der Folge bis zur Festnahme im Stadtgebiet … an den Mitangeklagten M. in Teilmengen zu je 500 bzw. 1000 Gramm verkaufte und zu einem Preis von insgesamt 32.700 EUR übergab. Eine weitere Lieferung von seinem unbekannt gebliebenen Lieferanten mit mehr als 42 Kilogramm Marihuana verbrachte der Kläger am 27. August 2018 in seinen Lagerraum bei der … in …, um auch dieses Rauschgift gewinnbringend zu verkaufen. Hierzu kam es aber nicht mehr, weil die Polizei am 28. August 2018 das Marihuana sicherstellte.
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Mit Schreiben vom 10. Dezember 2019 wurde der Kläger zu einer beabsichtigten Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts angehört.
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Mit Schreiben vom 17. Dezember 2019 äußerte sich der Kläger dahingehend, dass er gerne in Deutschland bleiben würde, da geplant sei, dass er ab 13. Juli 2020 in einer Entziehungsanstalt untergebracht werde. Nach seiner Entlassung beabsichtige er, in sein Haus in … zu ziehen, welches er 2015 erworben habe.
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Mit Bescheid des Landratsamts … - Ausländerwesen - vom 5. Mai 2020, dem Kläger zugestellt am 20. Mai 2020, wurde der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet festgestellt (Ziffer 1). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen (Ziffer 2). In Ziffer 3 wurde für den Fall des Nichtbefolgens der Ausreiseverpflichtung die Abschiebung insbesondere nach Rumänien angedroht. In Ziffer 4 wurde verfügt, dass Kosten für den Bescheid nicht erhoben werden. In Ziffer 5 wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 7 FreizügG/EU auf fünf Jahre nach Ausreise befristet. Die Verlustfeststellung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass im vorliegenden Fall die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU gegeben seien. Die vom Kläger begangenen Straftaten seien bereits der Schwerkriminalität zuzuordnen. Des Weiteren sei festzuhalten, dass das hier erforderliche Maß der Wahrscheinlichkeit einer Wiederholungsgefahr bestehe. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU greife mangels ständigen rechtmäßigen Aufenthalts von mehr als fünf Jahren nicht ein. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU finde ebenso keine Anwendung, da der Kläger nicht seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet gehabt habe. Über die Verlustfeststellung sei nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Die Verlustfeststellung sei im öffentlichen Interesse geboten. Das Privatinteresse des Klägers sei als nachrangig zu gewichten. Der Kläger verfüge im Bundesgebiet weder über schutzwürdige persönliche Bindungen, noch seien wirtschaftliche oder sonstige Bindungen bekannt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid Bezug genommen.
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Der Kläger hat durch seinen Bevollmächtigten am 8. Juni 2020 Klage erhoben und beantragt,
Der Bescheid des Beklagten vom 5. Mai 2020 wird aufgehoben.
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Mit Schreiben vom 29. Juni 2020 beteiligte sich die Regierung von Mittelfranken als Vertretung des öffentlichen Interesses.
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Mit Beschluss der Kammer vom 27. Oktober 2020 (AN 11 S 20.01085) wurde der zusammen mit der Klage gestellte Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, als unzulässig abgelehnt.
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Mit Schreiben vom 7. Juli 2022 übermittelte der Beklagte einen Therapiebericht des … vom 25. Mai 2022, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird.
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Mit Schriftsatz vom 18. Juli 2022 begründete der Klägerbevollmächtigte die Klage im Wesentlichen mit dem bisherigen positiven Therapieverlauf und der Tatsache, dass der Kläger bisher im Bundesgebiet nur einmal strafrechtlich in Erscheinung getreten sei. Es könne daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger wiederum straffällig werde.
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In der mündlichen Verhandlung am 20. Juli 2022 beantragte der Beklagte
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die beigezogene Behördenakte sowie auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid des Landratsamts … vom 5. Mai 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Verlustfeststellung ist ebenso wenig rechtlich zu beanstanden wie das in Ziffer 5 auf die Dauer von fünf Jahren befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot und die in Ziffern 2 und 3 verfügten ausländerrechtlichen Annexmaßnahmen.
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1. Der Bescheid vom 5. Mai 2020 ist formell rechtmäßig. Insbesondere besteht aufgrund des noch andauernden Maßregelvollzugs nach § 7 Abs. 3 der Verordnung über Zuständigkeiten im Ausländerrecht (Zuständigkeitsverordnung Ausländerrecht - ZustVAuslR) die Zuständigkeit des Landratsamts … fort.
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2. Der Bescheid ist auch materiell rechtmäßig.
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a. Die nach pflichtgemäßem Ermessen ausgesprochene Verlustfeststellung in Ziffer 1 des Bescheids erweist sich im grundsätzlich maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 16.7.2015 - 1 C 22/14 - juris Rn. 11) als rechtmäßig.
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Rechtsgrundlage der Verlustfeststellung ist vorliegend trotz der längeren Aufenthaltsdauer des Klägers im Bundesgebiet nicht § 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 oder Abs. 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU), sondern § 6 Abs. 1 FreizügG/EU.
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Zwar ist für das Eingreifen der Privilegierung nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU nicht erforderlich, dass das Daueraufenthaltsrecht dem Unionsbürger bereits bescheinigt ist. Als maßgeblich erweist sich allein, ob der Betroffene zum Zeitpunkt des Ergehens der Verlustfeststellung die Voraussetzungen des § 4a FreizügG/EU erfüllt (vgl. BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand: 1.1.2021, § 6 FreizügG/EU Rn. 17). Jedoch wird die Kontinuität des Aufenthalts unterbrochen, wenn und solange der Unionsbürger eine Haftstrafe verbüßt (vgl. EuGH, U.v. 16.1.2014 - C 400/12 - NVwZ-RR 2014, 245, beck-online; BayVGH, B.v. 18.3.2015 - 10 C 14.2655 - juris Rn. 24; OVG Bremen, U.v. 30.9.2020 - 2 LC 166/20 - juris Rn. 52). Der EuGH begründet dies damit, dass der Grad der Integration die wesentliche Grundlage des Daueraufenthaltsrechts sei und niemand integriert sein könne, der die durch das nationale Strafrecht zum Ausdruck gebrachten Werte einer Gesellschaft nicht beachtet und deshalb von einem nationalen Gericht zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wird. Der maßgebliche Fünfjahreszeitraum beginnt erst wieder mit der Haftentlassung (vgl. Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 4a FreizügG/EU Rn. 6). Da der fünfjährige Aufenthalt überdies nur bis zu zwei Jahre zurückliegen darf (vgl. BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand: 1.10.2021, § 4a FreizügG/EU Rn. 16 mit Verweis auf Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG), kann dahinstehen, ob sich der Kläger vor seinem Haftantritt für eine Dauer von fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Hiergegen spricht im Übrigen ein sich in der Behördenakte (Blatt 2) befindlicher Auszug aus dem Ausländerzentralregister vom 5. September 2018, aus dem sich hinsichtlich des Klägers ein Wiederzuzug aus dem Ausland am 5. Februar 2018 ergibt.
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Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU unbeschadet des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU und des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden. Aus den genannten Gründen kann nach § 6 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU auch die Einreise verweigert werden. Gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU genügt die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich alleine nicht, um die Verlustfeststellung zu begründen. Es dürfen nach § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU nur im Bundeszentralregister nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss gemäß § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Bei der Entscheidung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (§ 6 Abs. 3 FreizügG/EU).
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Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bei der Prüfung, ob eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch ein persönliches Verhalten des Betroffenen im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU zu erkennen ist - ebenso wie bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung - eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. BVerwG, B.v. 11.9.2015 - 1 B 39/15 - juris; BayVGH, B.v. 15.10.2019 - 19 ZB 19.914 - juris Rn. 9 m.w.N.). Nach dem Gefahrenmaßstab des § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Dieser Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizeirecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, welches berührt sein muss (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 - C-316/16 und C-424/16 - juris Rn. 92; BayVGH, B.v. 15.10.2019 - 19 ZB 19.914 - juris Rn. 9; NdrOVG, B.v. 5.9.2019 - 13 ME 278/19 - juris Rn. 6). Da keine dahingehende Regel besteht, dass bei schwerwiegenden Taten das abgeurteilte Verhalten allein die hinreichende Besorgnis neuer Verfehlungen begründet, ist aufgrund der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, ob die Begehung einer Straftat nach deren Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, welches ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. BVerwG, B.v. 30.6.1998 - 1 C 27.95 - juris). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und die Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu berücksichtigen. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. An die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens zu differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden. Bei erheblichen Straftaten kann die Annahme einer Wiederholungsgefahr schon bei einer einzigen Verurteilung möglich sein (zu allem vgl. BayVGH, B.v. 15.10.2019 - 19 ZB 19.914 - juris Rn. 9).
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Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Ausweisung bzw. Verlustfeststellung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 29.5.2018 - 10 ZB 17.1739 - juris Rn. 9; B.v. 16.2.2018 - 10 ZB 17.2063 - juris Rn. 10; B.v. 7.2.2018 - 10 ZB 17.1386 - juris Rn. 10). Das Abwarten eines erfolgreichen Therapieverlaufs ist insoweit nicht angezeigt, da künftige Entwicklungen nichts über die aktuell vom Kläger ausgehende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung aussagen (vgl. BVerwG, B.v. 11.9.2015 - 1 B 39/15 - juris Rn. 10).
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Die Verlustfeststellung kann vorliegend aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung getroffen werden, da im Rahmen der zu treffenden Prognoseentscheidung nach Überzeugung des Gerichts nach wie vor eine vom Kläger ausgehende gegenwärtige tatsächliche und hinreichende schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegt, die ein schwerwiegendes Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Damit dürften im Übrigen auch die Voraussetzungen des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU erfüllt sein.
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Im vorliegenden Fall ist der Kläger nach Verbüßen einer Haftstrafe in Höhe von 22 Monaten und zwei Wochen im Wege des Vorwegvollzugs seit dem 13. Juli 2020 gemäß § 64 StGB im … - Klinik für Forensische Psychiatrie - untergebracht. Ausweislich der Einlassung seines Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung ist ein Bewährungsbeschluss noch nicht ergangen und somit die Therapie bzw. Maßregel noch nicht abgeschlossen. Zwar bescheinigt der Therapiebericht des … vom 25. Mai 2022 dem Kläger eine durchwegs positive Entwicklung (Therapiemotivation, Veränderungsbereitschaft, Zuverlässigkeit, glaubhafter Abstinenzvorsatz, Durchhaltevermögen). Aufgrund des bisherigen Therapieerfolgs sei es dem Kläger möglich, seit 15. Juli 2021 in Vollzeit bei einem Logistikunternehmen zu arbeiten. Zudem habe der Kläger am 12. Oktober 2021 in eine Mietwohnung beurlaubt werden können (sog. Probewohnen) und befindet sich somit aktuell in einer lockeren Stufe des Maßregelvollzugs. Bei unangekündigten Kontrollbesuchen sowie in unregelmäßigen Abständen durchgeführten Urin- und Speichelanalysen hätten sich keine Anhaltspunkte für eine Suchtmittelrückfälligkeit ergeben. Aus Sicht der Klinik könne daher eine Entlassung des Klägers befürwortet werden. Das vom Kläger während des Maßregelvollzugs gezeigte Wohlverhalten und die für eine Verhaltensänderung sprechenden positiven Ansätze haben jedoch nur begrenzte Aussagekraft für sein Verhalten nach der Haftentlassung, weil er unter der Kontrolle der Therapieeinrichtung und zudem unter dem Druck des Ausweisungs- bzw. Verlustfeststellungsverfahrens stand und steht. Ein positives Verhalten in der Haft oder Unterbringung lässt nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen könnte (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 13.10.2017 - 10 ZB 17.1469 - juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 19.5.2015 - 10 ZB 15.331 - juris Rn. 7). In Anbetracht des im Strafurteil des Landgerichts … vom 21. März 2019 festgestellten Hanges, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen - obgleich eine Abhängigkeit nach Einschätzung des psychiatrischen Sachverständigen nicht vorlag -, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht davon ausgegangen werden, dass die Therapie erfolgreich sein wird und es dem Kläger gelingen wird, nach seiner Entlassung aus dem Maßregelvollzug auf Dauer ein drogen- und straffreies Leben zu führen. Hierbei ist auch zu sehen, dass der Kläger sich aufgrund eines strafrechtlichen Auslieferungshaftbefehls von Italien aus dem Jahr 2006 oder 2007 nunmehr erneut in Haft befindet. Während die Therapie auf eine schrittweise zunehmende psychophysische Belastung in Form des Durchlaufens mehrerer Lockerungsschritte ausgerichtet ist, erscheint fraglich, ob die bislang erarbeiteten therapeutischen Fortschritte schon in dem Maße gefestigt sind, dass sie auch in der nunmehrigen psychisch wohl extrem belastenden Situation Bestand haben können. Gegen ein Entfallen der Wiederholungsgefahr spricht zudem, dass dem Schutz der inländischen Wohnbevölkerung vor weiterem Inverkehrbringen von Betäubungsmitteln im Hinblick auf die Schwere des möglichen Schadens ein erhöhtes Gewicht beizumessen ist. Denn das Ausmaß des möglichen Schadens, der durch in Umlauf gebrachtes Rauschgift entsteht, ist sehr hoch anzusetzen, zumal der Kläger eine enorme Menge Marihuana (insgesamt 48 kg) mit einem überdurchschnittlichen Wirkstoffgehalt verkauft hat bzw. zu verkaufen beabsichtigte. Zwar handelt es sich bei dem durch den Kläger eingeführten Marihuana um eine weiche Droge, welche nicht körperlich abhängig macht, jedoch gibt es in vielen Fällen eine psychische Abhängigkeit, so dass das Suchtpotenzial nicht zu unterschätzen ist. Hinzu kommt, dass gegen den Kläger am 6. November 2017 ein Strafbefehl wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung ergangen ist. Zwar ist diese Vorverurteilung nicht einschlägig, kann jedoch gleichwohl als Indiz dafür gewertet werden, dass der Kläger nicht gewillt ist, der deutschen Rechtsordnung und dem Schutz der körperlichen Integrität anderer Menschen Beachtung zu schenken. Zugunsten des Klägers ist zwar zu sehen, dass er seine Miteigentumshälfte am Wohnanwesen in …, …, zwischenzeitlich verkauft hat und die Schuldenregulierung - nach anfänglicher fehlender Kooperation - ausweislich des Therapieberichts vom 25. Mai 2022 mittlerweile wohl geklärt sein dürfte. Ob der Kläger zwischenzeitlich sämtliche Schulden beglichen hat, konnte jedoch auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung nicht aufgeklärt werden. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Begehung der Betäubungsmittelstraftaten auch dazu diente, den Lebensunterhalt des Klägers zu finanzieren. Zwar arbeitet der Kläger mittlerweile in Vollzeit bei einem Logistikunternehmen. Aufgrund der erneuten Inhaftierung erscheint jedoch höchst fraglich, ob der Kläger seine aktuelle Arbeitsstelle behalten können wird. Über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügt der Kläger jedenfalls noch immer nicht, so dass seine Chancen einer neuen Anstellung als nach wie vor schlecht einzustufen sind.
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Das Landratsamt … hat bei Erlass der Verlustfeststellung das ihm eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausgeübt. Im Rahmen der gebotenen Ermessensentscheidung ist abzuwägen, ob das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung das private Interesse des Unionsbürgers - bzw. des Familienangehörigen eines Unionsbürgers - an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt (vgl. BVerwG, U.v. 3.8.2004 - 1 C 30/02 - juris Rn. 27). Es ist insoweit der nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierte Schutz des Familienlebens zu Gunsten des Betroffenen zu beachten. Hierbei sind gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
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Das Gericht kann die Ermessensentscheidung gemäß § 114 Satz 1 VwGO lediglich darauf hin überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesen Vorgaben ist die Entscheidung des Landratsamts … nicht zu beanstanden und im Übrigen auch verhältnismäßig. Dieses hat zum einen erkannt, dass ihm ein Ermessen zusteht, und zum anderen ermessensfehlerfrei festgestellt, dass das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung das private Interesse des Klägers an seinem Verbleib im Bundesgebiet überwiegt. In der Ermessensentscheidung wurde u.a. zutreffend berücksichtigt, dass dem Kläger eine Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse nicht gelungen ist und er über keine schutzwürdigen persönlichen oder wirtschaftlichen Bindungen in Deutschland verfügt. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass dem in Rumänien geborenen und aufgewachsenen Kläger eine Integration in sein Heimatland nicht gelingen wird. Dass für den Beklagten auch der bisher erzielte Therapieerfolg nicht zu einer abweichenden Entscheidung führt, wurde im Wege des Ergänzens von Ermessenserwägungen gemäß § 114 Satz 2 VwGO in der mündlichen Verhandlung ausgeführt.
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b. Auch die gerichtlich voll kontrollierbare Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots auf die Dauer von fünf Jahren ab Ausreise ist rechtmäßig.
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Rechtsgrundlage ist § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU. Das Verbot, erneut in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten, wird von Amts wegen befristet (§ 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU), wobei die Frist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen ist und fünf Jahre nur in den Fällen des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU überschreiten darf (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU).
30
Eine Höchstfrist für Verlustfeststellungen nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU ist nicht vorgesehen (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 18/14 - juris Rn. 23). Der Gesetzgeber geht davon aus, dass bei Unionsbürgern ein langfristiger Ausschluss der Wiedereinreise bei fortbestehender Rückfall- bzw. Gefährdungsprognose nicht ausgeschlossen ist (vgl. BT-Drs 15/420 S. 105). Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind das Gewicht des Grundes für die Verlustfeststellung sowie der mit der Maßnahme verfolgte spezialpräventive Zweck zu berücksichtigen. Die Befristungsentscheidung nach § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU ist auf der Grundlage einer aktuellen Gefährdungsprognose und Verhältnismäßigkeitsprüfung zu treffen. Hierzu bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Verlustfeststellung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. In der Regel stellt ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont dar, für den eine Prognose realistischer Weise noch gestellt werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 18.14 - juris Rn. 27). Die sich an der Erreichung des Zwecks der Verlustfeststellung orientierende äußerste Frist muss sich in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. unionsrechtlichen Vorgaben und verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen messen lassen. Dieses normative Korrektiv bietet ein rechtsstaatliches Mittel dafür, fortwirkende einschneidende Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten schutzwürdigen Belange des Unionsbürgers in den Blick zu nehmen.
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Ausgehend von diesen Grundsätzen erweist sich die in dem angefochtenen Bescheid bestimmte Frist derzeit nicht als unverhältnismäßig. Die Beklagte geht nach wie vor zutreffend davon aus, dass von dem Kläger auch künftig Straftaten, insbesondere Betäubungsmitteldelikte, zu erwarten sind. Ausgehend von den vom illegalen Drogenhandel ausgehenden schweren Gefahren für die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland erscheint ein - an dem mit der Verlustfeststellung verfolgten spezialpräventiven Zweck orientierter - längerfristiger Ausschluss der Wiedereinreise sachgerecht. Zu Gunsten des Klägers spricht zwar, dass die Therapie bislang ausweislich des Therapieberichts vom 25. Mai 2022 erfolgreich verlaufen ist und ggf. in Kürze mit einer vorzeitigen Entlassung aus dem Maßregelvollzug zu rechnen ist. Gegen den Kläger spricht jedoch, dass bislang zwar das … eine Entlassung des Klägers befürwortet hat, ein Bewährungsbeschluss jedoch noch nicht ergangen ist und somit die Therapie zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht erfolgreich abgeschlossen wurde. Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass sich der Kläger zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung aufgrund eines strafrechtlichen Auslieferungshaftbefehls aus Italien in der JVA … in Haft befand. Vor diesem Hintergrund erscheint ungewiss, ob die bislang erarbeiteten Therapieerfolge der psychischen Belastungssituation Stand halten und ob der Kläger seine Therapie überhaupt abschließen kann und darüber hinaus auch seine erst vor einem Jahr angetretene Arbeitsstelle wird behalten können. Einer künftig weiterhin positiven Entwicklung des Klägers kann ggf. durch eine nachträgliche Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 7 Abs. 2 Satz 8 FreizügG/EU Rechnung getragen werden (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 18.14 - juris); danach hat der Kläger bei einer zukünftigen Veränderung der tatsächlichen Umstände zu seinen Gunsten nach Maßgabe des § 7 Abs. 2 Satz 8 FreizügG/EU einen Anspruch auf Prüfung einer Aufhebung oder Verkürzung der Frist.
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c. Gegen die Rechtmäßigkeit der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (Ziffer 2 und 3 des Bescheids) bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken (§ 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU). Die Frist, das Bundesgebiet innerhalb von einem Monat nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen, erscheint angemessen.
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3. Die Klage war demnach mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ZPO.