Inhalt

FG Nürnberg, Urteil v. 30.03.2022 – 3 K 1470/19
Titel:

Veräußerung von im Privatvermögen gehaltenen TecDAX Zertifikaten an eine GmbH

Normenkette:
EStG § 17, § 20 Abs. 2 Nr. 7, § 32d Abs. 2 Nr. 1 S. 2
Leitsatz:
Das Vorliegen einer Einkünfteerzielungsabsicht ist auch bei Einkünften aus Kapitalvermögen i.S. des § 20 EStG grundsätzlich zu prüfen und für jede einzelne Kapitalanlage getrennt zu beurteilen. Das Erfordernis der Einkünfteerzielungsabsicht gilt grundsätzlich für alle Einkunftsarten, allerdings unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Besonderheiten hinsichtlich der Einkünfteermittlung. Dabei bedingen die durch das UntStRefG 2008 mit der Abgeltungsteuer als Schedule eingeführten Besonderheiten der Einkünfte aus Kapitalvermögen eine tatsächliche (widerlegbare) Vermutung der Einkünfteerzielungsabsicht (BFH-Urteil vom 14.03.2017 VIII R 38/15, BStBl II 2017, 1040, BeckRS 2017, 121602). (Rn. 79) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagwort:
Einkommensteuer
Rechtsmittelinstanz:
BFH München vom -- – VIII R 9/22
Fundstellen:
EFG 2022, 1681
ErbStB 2022, 336
DStRE 2023, 590
BeckRS 2022, 21848
LSK 2022, 21848

Tenor

1. Der Einkommensteuerbescheid 2015 vom 05.04.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19.12.2019 wird dahingehend abgeändert, dass das der tariflichen Einkommensteuer unterliegende zu versteuernde Einkommen um einen Verlust aus Kapitalvermögen in Höhe von ./.25.775.707 € vermindert wird sowie die nach § 32d Abs. 1 EStG zu besteuernden Kapitaleinkünfte um 24.627.416 € erhöht werden.
Die Berechnung der Steuer wird dem Beklagten übertragen.
2. Die Kosten des Verfahrens werden dem Beklagten auferlegt.
3. Das Urteil ist wegen der zu erstattenden Aufwendungen der Kläger vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Aufwendungen der Kläger die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
4. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1
Streitig ist, ob der aus der Veräußerung von im Privatvermögen des Klägers gehaltenen TecDAX Zertifikaten an eine GmbH, an der der Kläger zu 100% beteiligt ist, entstandene Verlust in Höhe von 25.775.707 € als Ausnahme vom Abgeltungsteuersatz des § 32d Abs. 1 Satz 1 Einkommensteuergesetz (EStG) der Anwendung der allgemeinen tariflichen Besteuerung unterliegt.
2
Die verheirateten Kläger werden beim beklagten Finanzamt zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger erzielte im Streitjahr Einkünfte aus Gewerbebetrieb als Einzelunternehmer sowie einen Veräußerungsgewinn nach § 17 EStG, Einkünfte aus Kapitalvermögen und Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. Die Klägerin erzielte Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.
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Im Rahmen der am 21.07.2016 eingereichten Erklärung erklärte der Kläger bei den Einkünften aus Kapitalvermögen u. a. inländische Kapitalerträge, die dem inländischen Steuerabzug unterlegen haben (Zeile 7 Anlage KSO); „korrigierte Beträge (lt. gesonderter Aufstellung)“ in Höhe von 24.890.300 €.
4
Weiter erklärte er bei den Kapitalerträgen, die der tariflichen Einkommensteuer unterlegen haben (Zeile 21 Anlage KSO); „Laufende Einkünfte aus sonstigen Kapitalforderungen…“ in Höhe von 150 € und einen „Gewinn aus der Veräußerung oder Einlösung von Kapitalanlagen lt. Zeile 21“ in Höhe von ./. 25.775.707 €. Laut umfangreicher Erläuterung mit Anlagen zu den Kapitalerträgen bezüglich der Buchungen zu dem Depot 0000 bei der Bank1 hatte der Kläger über diese Bank am 08.12.2015 232.342 Teilschuldverschreibungen der Anleihe mit der ISIN A1(Anleihe) mit Anschaffungskosten im Gesamtbetrag in Höhe von 30.008.978,04 € erworben. Über die Laufzeit (26.11.2015 bis 28.12.2015) habe sich ein laufender Ertrag in Höhe von 245.802,73 € ergeben.
5
Entsprechend der Emissionsregelungen zu den Rückzahlungsbedingungen zum Fälligkeitstag 28.12.2015 habe der Kläger je Anleihe ein Open End-Partizipationszertifikat auf den TecDAX (ISIN A2; Kurswert zum Bewertungsstichtag 18,0832 €) zuzüglich eines Barausgleichs erhalten, so dass sich ein nach § 20 Abs. 4a Satz 3, 2. Hs. i. V. m. Satz 2 EStG zu versteuernder Sofortertrag (§ 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG) in Höhe von 24.627.415,61 € ergeben habe.
6
Dem stehe gegenüber, dass die Anschaffungskosten der Anleihe gem. § 20 Abs. 4a Satz 3, 1. Hs. EStG auf die angedienten Open End-Partizipationszertifikate „übergesprungen“ seien.
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Mit Vertrag vom 29.12.2015 habe der Kläger aus steuerlichen Gründen alle angedienten TecDAX-Zertifikate an die A-GmbH zum Stückpreis von 18,22 € verkauft und die Übertragung von seinem Depot auf ein Depot der GmbH veranlasst. Zur Finanzierung des Kaufpreises in Höhe von 4.233.271,24 € habe der Kläger der GmbH am 21.12.2015 ein Gesellschafterdarlehen in Höhe von 5,5 Mio € gewährt.
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Unter Berücksichtigung der Anschaffungskosten ermittele sich ein nach § 20 Abs. 2 Nr. 7 EStG steuerbarer Veräußerungsverlust in Höhe von 25.775.706,80 €, der nach Auffassung des Klägers nach § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b) Satz 1 i. V. m. § 32d Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 EStG der tariflichen Einkommensteuer zu unterwerfen sei.
9
Für Zwecke des Kapitalertragsteuerabzugs habe die Bank1 nach § 43a Abs. 2 Satz 8, Satz 9 EStG einen Veräußerungsverlust in Höhe von 25.824.498,62 € ermittelt und aufgrund dieses Verlustes dem Kläger die zuvor auf den Zins- und Sofortertrag einbehaltene Kapitalertragsteuer sowie Solidaritätszuschlag erstattet.
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Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Erläuterungen nebst Anlagen zur Einkommensteuererklärung verwiesen.
11
Das Finanzamt folgte den Angaben in der Einkommensteuererklärung mit nur geringen Abweichungen in Bezug auf steuerfreie Einkommensersatzleistungen und Sonderausgaben. Die Steuer wurde mit Bescheid vom 08.11.2016 auf 29.398.146 € teilweise vorläufig (§ 165 Abs. 1 Satz 2 AO) und unter Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt (§ 164 Abs. 1 AO). Die festgesetzte Steuer ermittelt sich dabei mit einem Betrag in Höhe von 18.797.192 € nach dem Splittingtarif mit einem Satz von 44,9245% sowie einem Betrag in Höhe von 10.605.761 € mit einem Satz von 25% nach § 32d Abs. 1 EStG und den davon in Abzug zu bringenden Ermäßigungen (für haushaltsnahe Dienstleistungen und Handwerkerleistungen) zuzüglich Kindergeld.
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Am 23.05.2017 erließ das Finanzamt auf Antrag der Steuerpflichtigen einen nach § 164 Abs. 2 AO geänderten Bescheid, in dem die Steuer auf 30.151.346 € erhöht wurde. Laut Mitteilung der Steuerpflichtigen war der gewerbliche Veräußerungsgewinn noch nachträglich zu erhöhen. Die nach dem Splittingtarif mit einem Satz von 44,9274% festgesetzte Steuer erhöhte sich dementsprechend. Die Kapitaleinkünfte und die darauf entfallende Steuer blieben unverändert. Der Vorbehalt der Nachprüfung wurde beibehalten.
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Aufgrund Prüfungsanordnung vom 26.02.2018 führte das Finanzamt im Zeitraum 26.03.2018 bis 17.10.2018 bei dem Kläger eine Außenprüfung durch, die auch die Einkommensteuer für das Streitjahr umfasste. Ausweislich des Prüfungsberichts vom 15.11.2018 hatte sich der Kläger im Rahmen der Schlussbesprechung am 12.06.2018 Einwendungen hinsichtlich der Behandlung der Einkünfte aus Kapitalvermögen vorbehalten.
14
Die Feststellungen der Betriebsprüfung zum Sachverhalt bezüglich der Kapitalerträge bei der Bank1 bestätigten die Ausführungen der Kläger zum Sachverhalt im Rahmen der Einkommensteuererklärung. Auch nach Auffassung der Betriebsprüfung ist der erhaltene Zinsertrag (245.802,73 €) nach § 32d Abs. 1 EStG der Abgeltungsteuer zu unterwerfen. Die Betriebsprüfung vertrat ebenso wie die Kläger die Auffassung, dass der zum Fälligkeitstag erhaltene Barausgleich in Höhe von 24.627.416 € als Sofortertrag gem. § 20 Abs. 1 Nr. 7 i. V. m. § 20 Abs. 4a Satz 3, 2. HS i. V. m. Satz 2 EStG der Abgeltungsteuer (§ 32d Abs. 1 EStG) zu unterwerfen sei.
15
Hinsichtlich der Veräußerung der „Open End-Partizipationszertifikate“ an die A-GmbH vertrat die Betriebsprüfung allerdings eine andere rechtliche Auffassung als die Kläger. Der in Übereinstimmung mit den Klägern in Höhe von ./. 25.775.707 € ermittelte Verlust sei nur im Rahmen der Abgeltungsteuer berücksichtigungsfähig. Nach Auffassung der Betriebsprüfung gelte die Ausnahmebestimmung des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG für den Streitfall nicht. Anders als in der Vorschrift festgelegt, habe die GmbH nur eine Komponente des Veräußerungsgeschäfts übernommen, den Verkaufspreis, nicht jedoch die Anschaffungskosten. Ein Ertrag im Sinne des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG liege nicht vor.
16
Im Streitfall handele es sich um einen Gestaltungsmissbrauch nach § 42 AO, vergleichbar der Fallgestaltung beim Bondstripping, bei der das Vorliegen des § 42 Abs. 2 AO in Betracht gezogen werde. Die Sperrwirkung des § 42 Abs. 1 Satz 2 AO trete im Streitfall nicht ein, da nach Sinn und Zweck von § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG diese Gestaltung nicht erfasst sei. Nach der Gesetzesbegründung hätten durch diese Vorschrift missbräuchliche Gestaltungen verhindert werden sollen, durch die betriebliche Gewinne abgesaugt und mit dem günstigeren Abgeltungsteuersatz besteuert würden. Ziel der Vorschrift sei es, bei unbilligen Gestaltungen die Besteuerung mit der Abgeltungsteuer zu verhindern und nach dem allgemeinen Tarif vorzunehmen. Die Vorschrift erfasse somit genau den umgekehrten Fall im Vergleich zum Streitfall. Im Streitfall ergebe sich der Rechtsmissbrauch im Sinne des § 42 AO insbesondere daraus, dass keine außersteuerlichen Gründe für den Verkauf an die GmbH ersichtlich seien.
17
Der sich aus den Transaktionen des Streitfalls ergebende Gesamtverlust in Höhe von ./. 902.489 € stehe daher nur im System der Abgeltungsteuer zur Verrechnung zur Verfügung.
18
Das Finanzamt schloss sich der Auffassung der Betriebsprüfung an und erließ am 05.04.2019 einen nach § 164 Abs. 2 AO geänderten Bescheid, in dem die Steuer auf 35.272.043 € erhöht wurde. Die festgesetzte Steuer ermittelt sich dabei mit einem Betrag in Höhe von 31.115.015 € nach dem Splittingtarif mit einem Satz von 44,9543% sowie einem Betrag in Höhe von 4.161.835 € mit einem Satz von 25% nach § 32d Abs. 1 EStG und den davon in Abzug zu bringenden Ermäßigungen (für haushaltsnahe Dienstleistungen und Handwerkerleistungen) zuzüglich Kindergeld. Der Vorbehalt der Nachprüfung wurde aufgehoben; die Steuerfestsetzung erging weiterhin vorläufig.
19
Hiergegen legten die Kläger, vertreten durch die damalige Bevollmächtigte, am 07.05.2019 Einspruch ein. Die ebenfalls am 07.05.2019 durch die weitere Bevollmächtigte beim Finanzgericht erhobene Sprungklage (Verfahren 3 K 615/19) gab das Finanzgericht mangels Zustimmung des Finanzamts zur Behandlung als außergerichtlichen Rechtsbehelf zur Durchführung des Vorverfahrens mit Schreiben vom 24.05.2019 an das Finanzamt ab.
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Am 08.11.2019 haben die Kläger, vertreten durch die weitere Bevollmächtigte, Untätigkeitsklage erhoben. Diese wurde inhaltlich entsprechend der Begründung zur vormaligen Sprungklage (Schriftsatz vom 21.05.2019) begründet und darauf hingewiesen, dass über den Einspruch vom 07.05.2019 bislang nicht entschieden worden sei. Das beklagte Finanzamt sei daher im Sinne des § 46 Abs. 1 FGO untätig geblieben.
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Nach Aufforderung des Finanzgerichts vom 11.11.2019 legte das Finanzamt am 19.12.2019 die vom selben Tag stammende Einspruchsentscheidung vor, nach der die Einsprüche der Kläger vom 07.05.2019 als unbegründet zurückgewiesen wurden.
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Die Einspruchsentscheidung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass nach Auffassung des Finanzamts der der Höhe nach wohl unstrittige Verlust (./. 25.775.706,80 €) aus der Veräußerung der im Privatvermögen gehaltenen TecDAX Zertifikate an die A-GmbH nur im Rahmen der nach § 32d Abs. 1 EStG zu besteuernden Kapitalerträge berücksichtigungsfähig sei. Die Ausnahmevorschrift des § 32d Abs. 2 EStG komme im Streitfall nicht zur Anwendung. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/4841 S. 60) sei diese Ausnahme geboten, um Gestaltungen zu verhindern, bei denen aufgrund der Steuersatzspreizung betriebliche Gewinne z. B. in Form von Darlehenszinsen abgesaugt werden und so die Steuerbelastung auf den Abgeltungsteuersatz reduziert werde. Es solle mit dieser Regelung erreicht werden, dass unternehmerische Entscheidungen über die Finanzierungsstruktur eines Unternehmens steuerlich unverzerrt blieben.
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Die Veräußerung der Anleihe erfülle den Tatbestand des § 20 Abs. 2 Nr. 7 EStG. Nach § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG unterlägen u. a. solche Kapitalerträge, die von einer Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft an einen zumindest mit 10% beteiligten Anteilseigner gezahlt würden, nicht dem besonderen Steuersatz des § 32d Abs. 1 EStG. Die Anwendung des tariflichen Steuersatzes setze die Zahlung eines Ertrags an den Anteilseigner voraus. Der Ertrag bei einem Veräußerungsgeschäft sei die Differenz aus Veräußerungspreis und Anschaffungskosten; hier ./. 25.775.707 €. Fraglich sei aus Sicht des Finanzamts, ob die Entrichtung eines Betrags von 4.233.271 € durch die A-GmbH dazu führen könne, die Zahlung eines Ertrags im Sinne des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG an den Kläger als Veräußerer anzunehmen.
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Im Streitfall habe die AGmbH nur eine Komponente des Veräußerungsgeschäfts übernommen - den Veräußerungspreis, jedoch nicht die Anschaffungskosten. Der negative Ertrag sei lediglich als Folge der Zahlung des Kaufpreises entstanden; die GmbH habe nicht den gesamten „Ertrag“ in Höhe von ./.25.775.707 € an ihren Anteilseigner gezahlt. Werde die Zahlung eines Ertrags verneint, seien die Voraussetzungen des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG nicht erfüllt. Eine solche Auslegung würde allerdings die Anwendung dieser Vorschrift auf Veräußerungsgeschäfte stets ausschließen, da immer nur der Veräußerungspreis gezahlt werde, der in der Folge dann bei dem Veräußerer zu Gewinn oder Verlust führe. Der Ankauf der Anleihe zum Verkehrswert sei auf Ebene der GmbH erfolgsneutral und bewirke auch nicht, dass ein Gewinn aus dem betrieblichen Bereich „abgesaugt“ werde. Die Anwendung der Ausnahmevorschrift sei daher nach ihrem Sinn und Zweck auf Gestaltungen wie die des Streitfalls nicht geboten.
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Das Finanzamt weist weiter darauf hin, dass der vorliegende Sachverhalt vergleichbar dem sogenannten Bondstripping sei; selbst die Kläger seien bei der Betriebsprüfung davon ausgegangen, dass der Sachverhalt hinsichtlich der steuerlichen Behandlung dem zum Bondstripping geführten Verfahren beim FG Düsseldorf (Hinweis auf Urteil vom 29.03.2019 1 K 2163/16 E, EFG 2019, 1389: Rev. VIII R 15/19) vergleichbar sei. Zwar sei im Streitfall die AGmbH nicht allein für die steuerliche Ausgestaltung gegründet worden; jedoch hätte auch im Streitfall der Kläger ein Darlehen in zeitlicher Nähe zur Anschaffung ausgereicht, das bis 30.06.2016 hätte zurückgezahlt werden sollen.
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Nach Auffassung der Finanzverwaltung liege bei einer solchen Fallgestaltung ein Missbrauch steuerlicher Gestaltungsmöglichkeiten im Sinnes des § 42 Abs. 2 AO vor. Die Gestaltung des Streitfalles führe zu einem Steuervorteil, der gesetzlich nicht vorgesehen sei. Durch die Zwischenschaltung der GmbH bei der Veräußerung der Zertifikate lägen die Voraussetzungen des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe EStG vor, was dazu führe, dass der Veräußerungsverlust mit positiven Einkünften aus anderen Einkunftsarten - unterliegend dem höheren tariflichen Steuersatz - verrechnet werden könnten.
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Die vom Kläger gewählte Gestaltung sei unangemessen, was sich zunächst daraus ergäbe, dass sie von einem verständigen Dritten ohne den Steuervorteil nicht gewählt worden wäre. Bliebe der Steuervorteil außer Betracht, hätte der Kläger durch den gesamten Vorgang einen Totalverlust in Höhe von ./. 902.488 € erzielt. Durch die gewählte Gestaltung belaufe sich der tatsächliche „Ertrag“ im Streitfall auf ca. 10,8 Mio €. Der „Ertrag“ ergebe sich daher aus der Steuerersparnis und nicht aus der Kapitalanlage selbst.
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Zwar ergebe sich nach § 42 Abs. 2 Satz 2 AO für den Steuerpflichtigen die Möglichkeit, die begründete Annahme eines Missbrauchs durch den Nachweis außersteuerlicher Gründe zu entkräften. Im Streitfall hätten die Kläger jedoch selbst in ihrer Begründung zur Klage angegeben, dass die Veräußerung der Zertifikate an die AGmbH aus steuerlichen Gründen erfolgt sei. Die Annahme außersteuerlicher Gründe scheide somit aus.
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Im Streitfall sehe das Finanzamt den Anwendungsbereich der allgemeinen Missbrauchsregelung des § 42 AO nicht durch § 42 Abs. 1 Satz 2 AO als ausgeschlossen an. Zwar verfange auf den ersten Blick der Grundsatz „lex specialis derogat legi generali“, da mit § 32d Abs. 2 Nr. 1 EStG eine spezialgesetzliche Missbrauchsregelung vorliege und die beabsichtigte Rechtsfolge - Versagung der Steuerbegünstigung - nicht eintrete, so dass man annehmen könne, dass dies auch nicht durch die Generalklausel (§ 42 AO) bewirkt werden könne. Mit der Neuregelung des § 42 AO durch das Jahressteuergesetz 2008 werde jedoch in § 42 Abs. 1 Satz 2 AO ausdrücklich nur die positive Konkurrenz zwischen Einzelsteuergesetz und Generalklausel geregelt. Nur wenn der Tatbestand des Einzelsteuergesetzes zur Missbrauchsvermeidung erfüllt sei, bestimmten sich die Rechtsfolgen nach dieser Vorschrift. Greife die Spezialvorschrift nicht (aus welchen Gründen auch immer), sei § 42 AO nicht in seinem Wirkungsbereich eingeschränkt.
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Spezialgesetze zur Missbrauchsvermeidung seien nicht abschließend, sondern dienten nur der Klarstellung häufiger und bereits bekannter Anwendungsgebiete (Hinweis auf Jehlin et al., Bericht zum 12. Münchner Unternehmenssteuerforum: „Grenzen steuerlicher Gestaltungsfreiheit - Verhältnis des § 42 AO zu speziellen Missbrauchsvermeidungsvorschriften“, Beihefter zu DStR Heft 3/2014, 3 (5)). Unter Berücksichtigung der im AEAO zu § 42, Nr. 1 festgehaltenen Grundsätze unterfalle der vorliegende Sachverhalt nicht § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG, da der Anwendungsbereich der Norm unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens teleologisch zu reduzieren und insoweit einzuschränken sei. Dies sei im Streitfall sogar geboten, da ein Missbrauch von spezialgesetzlichen Normen durch ihre methodengerechte Auslegung zu verhindern sei (Hinweis auf Fischer, FR 2000, 451 f., Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 42 AO Rn. 292).
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Die Gestaltung im Streitfall habe nichts mit dem wirtschaftspolitischen Lenkungsziel und dem Willen des Gesetzgebers zu tun. Mit der Einführung des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG durch das UntStRfG 2008 vom 14.08.2007 (BGBl. I 2007, 1912) habe der Gesetzgeber Gestaltungen verhindern wollen, bei denen aufgrund der Steuersatzspreizung betriebliche Gewinne - z. B. in Form von Darlehenszinsen - abgesaugt würden und so die Steuerbelastung auf den Abgeltungsteuersatz reduziert werde (BT-Drs. 16/4841). Der Gesetzgeber habe in den Fällen des § 32d Abs. 2 Nr. 1 EStG grundsätzlich die Gefahr gesehen, die Steuersatzspreizung zwischen dem Abgeltungsteuersatz und dem progressiven Steuersatz auszunutzen, ohne dem Sinn und Zweck der Einführung des abgeltenden Steuersatzes zu entsprechen (BR-Drs. 220/07, S. 98). Ausweislich der Gesetzesbegründung habe die Ausnahmevorschrift die Verlagerung von Gewinnen aus der betrieblichen Sphäre in die private verhindern sollen. Die Verlagerung von Verlusten aus der privaten Sphäre in die betriebliche wie im Streitfall widerspreche der Intention des Gesetzgebers.
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Nach Auffassung des Finanzamts sei die Gestaltung im Streitfall nach Sinn und Zweck von § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG nicht erfasst; damit trete die Sperrwirkung des § 42 Abs. 1 Satz 2 AO nicht ein.
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Die klägerseits benannten Urteile des BFH vom 24.02.2015 (VIII R 44/12, BStBl II 2015, 649) und vom 28.06.2017 (VIII R 57/14, BStBl II 2017, 1144) halte das Finanzamt für den zu entscheidenden Streitfall nicht für einschlägig.
34
Da nach Auffassung des Finanzamts der im Streitfall entstandene Verlust nur im System der Abgeltungsteuer zur Verfügung stehe, hätten die Einsprüche keinen Erfolg haben können.
35
Das Gericht hat den Beteiligten mit Schreiben vom 20.12.2019 mitgeteilt, dass mit Erlass der abweisenden Einspruchsentscheidung keine Erledigung der Hauptsache eingetreten sei. Die Einspruchsentscheidung werde Gegenstand des Klageverfahrens und die Sachentscheidungsvoraussetzung des § 44 Abs. 1 FGO sei damit erfüllt.
36
Die Prozessbevollmächtigten haben die Klage im Wesentlichen damit begründet, dass der Kläger im Streitfall mit Einkünfteerzielungsabsicht gehandelt habe. Der sich ergebende Verlust aus der Veräußerung der TecDax-Zertifikate an die A-GmbH nach § 32d Abs. 2 Nr. 1 EStG unterliege der tariflichen Einkommensteuer nach § 32a EStG und damit nicht der Verlustbeschränkung des § 20 Abs. 6 EStG (§ 32d Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 EStG).
37
Unter Darlegung der Rechtsprechungsgrundsätze zur Einkünfteerzielungsabsicht insbe-sondere bei den Einkünften aus Kapitalvermögen (Hinweise auf BFH-Beschluss vom 25.06.1984, GrS 4/82, BStBl II 1984, 751; BFH-Urteile vom 14.03.2017 VIII R 25/14, BStBl II 2017, 1038; vom 27.07.1999 VIII R 36/98, BStBl 1999, 769; vom 09.07.2019 X R 9/17, BStBl II 2021, 418; vom 15.12.1999 X R 23/95, BStBl II 2000, 267) kommt die Klägerseite zum Ergebnis, dass die Gewinnerzielungsabsicht zu bejahen sei. Es habe sich bei der Investition um eine alltägliche Kapitalanlage gehandelt. Die streitgegenständliche Anleihe habe gemäß den Emissionsbedingungen die Kurswerte der DAX und TecDAX Indizies abgebildet, mithin alltäglich am Markt gehandelter Indexwerte. Selbst bei Beibehaltung des Kurswertes (inklusive Handelsspanne) zum Anschaffungszeitpunkt hätte unter Berücksichtigung aller Transaktionskosten ein wirtschaftlicher Totalgewinn in Höhe von 185.844,73 € erwirtschaftet werden können. Dass zum Bewertungsstichtag der Referenzpreis um 3,8% fallen würde, sei für den Kläger nicht vorhersehbar gewesen. Besondere Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger nicht habe davon ausgehen dürfen, einen wirtschaftlichen Gewinn zu erzielen, lägen nicht vor. Insofern sehe die Klägerseite auch den zu entscheidenden Sachverhalt anders gelagert, als in dem vom Finanzgericht Münster am 05.09.2019 (Urteil 8 K 2950/16 E, EFG 2019, 1774, Rev. anhängig) entschiedenen Fall. Dort habe das Finanzgericht festgestellt, dass mit der zugrundeliegenden Investition allenfalls theoretisch durch außergewöhnliche Kursgewinne ein wirtschaftlicher Gewinn hätte erzielt werden können und dass die den Anleihemantel erwerbende Kapitalgesellschaft aufgrund der vertraglichen Gestaltung keine freie Verfügungsmacht über den Anlagegegenstand gehabt habe.
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Bei wortlautgetreuer Anwendung des § 32d Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b EStG seien dessen Tatbestandsmerkmale durch die Veräußerung der TecDax-Zertifikate zum marktüblichen Preis durch den Kläger an die A-GmbH, deren Anteile er zu 100% halte, erfüllt.
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Die restriktiven Voraussetzungen für eine telelogische Reduktion des § 32d Abs. 2 Nr. 1 EStG lägen nicht vor. Im Steuerrecht dürften im Wege der Rechtsfortbildung über den möglichen Wortsinn des Gesetzes hinaus grundsätzlich keine Steuertatbestände ausgeweitet bzw. verschärft werden oder neue Steuertatbestände geschaffen werden (Hinweis auf Urteil des FG München vom 16.07.2015, 14 K 277/12, EFG 2015, 1992; Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO, Rn. 360 m. w. N.; Koenig in ders., § 4 AO, Rn. 117). Ein hoheitlicher Eingriff bedürfe in Hinblick auf den Grundrechtseingriff stets einer gesetzlichen Grundlage (Hinweis auf Beschluss des BVerfG vom 14.08.1996, 2 BvR 2088/93, NJW 1996, 3146; Konzak, NVwZ 1997, 872).
40
Soweit im Einzelfall überhaupt eine den Steuerpflichtigen belastende Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion zugelassen werde, setze dies eine einwandfrei feststellbare Lücke im Gesetz voraus, für deren Schließung aus dem Gesetzeswortlaut oder den Gesetzesmaterialien eindeutig feststellbare Rechtsprinzipien zur Verfügung stünden. Der Gesetzgeber müsse das durch Rechtsfortbildung erlangte Ergebnis somit maßgeblich vorbestimmt haben (Hinweis auf BFH-Urteil vom 20.10.1983 IV R 175/79, BStBl II 1984, 221; Urteil des FG Münster vom 24.07.2015 4 K 1494/13 F, EFG 2015, 1806; nachgehend BFH-Urteil vom 07.05.2019 VIII R 31/15, BStBl II 2019, 577).
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Die Auslegung einer Norm gegen ihren Wortsinn sei stets unzulässig (Hinweis auf Beschluss des BVerfG vom 10.01.1995, 1 BvR 718/89 u. a., BVerfGE 92, 1). Nach Auffassung der Kläger führe die Auslegung des § 32d Abs. 2 N. 1 Buchstabe b EStG innerhalb des Wortsinns dazu, dass die Norm wortlautgetreu anzuwenden sei.
42
Die grammatikalische Auslegung aus dem Wortlaut stütze die Anwendung der Norm auf den streitigen Sachverhalt ebenfalls. Sie stelle allein darauf ab, wer den Kapitalertrag an den Steuerpflichtigen zahle. Ein Kapitalertrag könne auch der Ertrag aus einer Veräußerung und damit ein Veräußerungserlös sein. Eine Einschränkung auf Fälle der Kapitalüberlassung im Verhältnis zwischen dem Anteilseigner und seiner Kapitalgesellschaft habe keinen Eingang in den Wortlaut des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG gefunden.
43
Unter ausführlicher Darlegung der Entstehungsgeschichte und Inhalte der Gesetzesmaterialien kommen die Klägervertreter zu dem Ergebnis, dass auch eine historische Auslegung die Anwendung des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG auf den Streitfall bestätige. So zeige insbesondere die E-Mail des BMF vom 15.09.2010 (Anlage K22) an die Länder, dass bei einem Veräußerungsfall der Veräußerungserlös den maßgebenden Kapitalertrag im Sinne der Norm darstellen solle. Die Idee, auf ein Kapitalüberlassungsverhältnis abzustellen, sei zwar erörtert worden (E-Mail des Hessischen Ministeriums der Finanzen vom 10.09.2010, Anlage K 19). Gegen die Übernahme des hessischen Vorschlags habe man sich aber bewusst entschieden. Es komme auch unter diesem Gesichtspunkt allein darauf an, wer den Kapitalertrag an den Steuerpflichtigen zahle.
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Die systematische Auslegung aus dem Zusammenhang stütze die Anwendung der Norm auf den vorliegenden Sachverhalt ebenfalls. So müsse hierbei der Zusammenhang der Norm mit den gleichrangigen Parallelvorschriften § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a und Buchstabe c EStG gesehen werden. § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a EStG enthalte seit Änderung durch das Jahressteuergesetz 2010 die weitere Tatbestandsvoraussetzung, dass die den Kapitalerträgen entsprechenden Aufwendungen beim Schuldner Betriebsausgaben oder Werbungskosten darstellten. Das Erfordernis, betriebliche Gewinne durch einen Betriebsausgabenabzug beim Schuldner abzusaugen, sei somit nicht für die im Streitfall einschlägige Norm, sondern nur für die Fallgruppe des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a EStG bestimmt. § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe c EStG nehme - anders als § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b - ausdrücklich Bezug auf das Kapitalüberlassungsverhältnis.
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Über die unterschiedlichen Formulierungen dürfe nicht hinweggegangen werden; vielmehr sei hieraus der Schluss zu ziehen, dass die Tatbestandsvoraussetzungen für die drei Fallgruppen unterschiedlich seien (Hinweis auf BFH-Urteil vom 20.10.2016 VIII R 27/15, BStBl II 2017, 441).
46
Die Anwendung des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG auf den vorliegenden Sachverhalt sei auch vom Zweck der Norm gedeckt. Als typisierende Norm sei sie notwendigerweise typisierend und pauschalierend zur Vereinfachung des Verwaltungsvollzugs ausgestaltet (Hinweis auf BFH-Urteil vom 29.04.2014 VIII R 23/13, BStBl II, 2014, 884). Zur Vereinfachung des Verwaltungsvollzugs habe eine klare Trennung zwischen Kapitalerträgen mit Abgeltungsteuersatz und solchen mit progressivem Steuersatz erfolgen sollen. Hierfür habe man eine typisierende Regelung in Kauf genommen, die im Rahmen des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG nur darauf abstelle, wer den Kapitalertrag an den Steuerpflichtigen zahle. Darauf, ob die „Anwendung des Absatzes 1 beim Steuerpflichtigen zu keinem Belastungsvorteil führt“ (so § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe c Satz 5 EStG), komme es bei der im Streitfall einschlägigen Norm gerade nicht an. Denn schon bei der Zahlung eines Kapitalertrags durch eine Kapitalgesellschaft an den Anteilseigner bestehe die latente Gefahr, dass eine Steuersatzspreizung ausgenutzt werden könnte (Hinweis auf BT-Drs. 16/4841, S. 61). Würde man § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG nur insoweit anwenden, als sie für den Steuerpflichtigen eine negative Wirkung entfalte, würde das der getroffenen Typisierung ihre gleichheitsrechtliche Rechtfertigung entziehen und dies einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG darstellen.
47
Letztlich zeige sich, dass bei der Anwendung des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG eine Abweichung vom Wortsinn weder erforderlich noch zulässig sei. Die Entstehungsgeschichte zum heutigen Wortlaut der Norm zeige, dass das Problem der Veräußerungsgeschäfte bekannt gewesen sei. Trotzdem habe der Gesetzgeber es unterlassen, derartigen Gestaltungen durch Änderung der Vorschrift oder der Streichung des Verweises auf § 20 Abs. 6 EStG die steuerliche Wirkung zu nehmen.
48
Nach Auffassung der Klägerseite liege auch kein Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten im Sinne des § 42 AO vor. So sei bereits dem Grunde nach die Generalklausel des § 42 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 AO nicht eröffnet, da die Anwendung des § 32d Abs. 2 Nr. 1 EStG als spezialgesetzliche Missbrauchsverhinderungsnorm vorrangig sei. Laut Gesetzesbegründung (Hinweis auf BT-Drs. 16/4841, S. 60) diene die Vorschrift dazu, Gestaltungen zu verhindern, bei denen aufgrund der Steuersatzspreizung betriebliche Gewinne, z. B. in Form von Darlehenszinsen abgesaugt und so die Steuerbelastung auf den Abgeltungsteuersatz reduziert werde. Auch der BFH sehe in § 32d Abs. 2 Nr. 1 EStG eine typisierende Regelung zur Verhinderung von Steuerumgehungen (Hinweis auf BFH-Urteil vom 29.04.2014, VIII R 23/13, BStBl II 2014, 884). Sei - wie im Streitfall - der Tatbestand einer einzelsteuergesetzlichen Missbrauchsverhinderungsnorm erfüllt, so bestimmten sich die Rechtsfolgen ausschließlich nach dem Einzelsteuergesetz. Ein Rückgriff auf die Generalklausel sei damit ausgeschlossen (Hinweise auf AEAO zu § 42 Tz. 1; Drüen, Ubg 2008, 31, f.; Hey, BB 2009, 1044; BFH-Urteile vom 20.03.2002 I R 63/99, BStBl II 2003, 50; vom 29.01.2008 I R 26/06, BStBl II 2008, 978).
49
Allenfalls wenn der Tatbestand der einzelsteuergesetzlichen Missbrauchsverhinderungsvorschrift nicht erfüllt sei, käme die Prüfung der Generalklausel in Betracht.
50
Unabhängig davon, schließe § 42 Abs. 1 Satz 2 AO selbst die Anwendung im Streitfall aus, da der Tatbestand einer einzelsteuergesetzlichen Missbrauchsverhinderungsvorschrift erfüllt sei und damit ein Fall der positiven Spezialität vorliege.
51
Selbst wenn der Gesetzgeber bei Fassung des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG übersehen hätte, dass diese Missbrauchsverhinderungsvorschrift auch zugunsten des Steuerpflichtigen wirken könne, scheide ein Rückgriff auf die Generalklausel des § 42 AO aus. Soweit durch typisierende Sondervorschriften Lücken im Besteuerungssystem blieben oder sich unerwünschte Ergebnisse im Einzelfall ergäben, sei dies durch gesetzliche Ergänzungen der Sondervorschrift zu regeln und nicht durch einen Rückgriff auf 42 AO (Hinweis auf BFH-Urteile vom 15.12.1999 I R 29/97 BStBl II 2000, 527; vom 19.01.2000 I R 94/97, BStBl II 2001, 222).
52
Die These des beklagten Finanzamts vom Missbrauch einer spezialgesetzlichen Missbrauchsverhinderungsnorm gehe aus Sicht der Kläger dem Grunde nach fehl. Würde dem gefolgt werden, führte dies zu einem Zirkelschluss. Die Umsetzung dieses Konstrukts würde dazu führen, dass die Sperrwirkung der spezialgesetzlichen Missbrauchsverhinderungsnorm gegenüber dem allgemeinen Missbrauchstatbestand des § 42 Abs. 2 AO aufgehoben und ein Vorrang des allgemeinen Missbrauchstatbestandes zu den etwaigen speziellen Normen implementiert werde. Die vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung zum Vorrang der Missbrauchstypisierung würde darüber hinaus vollständig entwertet und damit das Gesetz nicht nur gegen seinen Wortlaut, sondern auch gegen den dokumentierten gesetzgeberischen Willen ausgelegt.
53
Insofern werde auf das Urteil des FG München vom 29.05.2020 (5 K 2870/19, EFG 2021, 111) verwiesen, in dem das Gericht die Anwendbarkeit des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG auf ein „verlusttragendes“ Wertpapier, das an eine dem Steuerpflichtigen gehörende GmbH verkauft wurde, bejaht habe. Insbesondere sei in der Entscheidung das Konstrukt eines „Missbrauchs einer Missbrauchsverhinderungsvorschrift“ und damit auch das Vorliegen eines Missbrauchs von Gestaltungsmöglichkeiten im Sinne des § 42 AO verneint worden. Aus Sicht der Kläger könnten die rechtlichen Erwägungen zum insoweit deckungsgleichen Sachverhalt auf den hier streitigen Sachverhalt übertragen werden.
54
Im Übrigen sehe die Klägerseite die Tatbestandsmerkmale des § 42 Abs. 2 AO im Streitfall nicht als erfüllt an. Weder das Motiv der Steuerersparnis noch die Wahl einer Gestaltung aus steuerlichen Motiven machten eine solche unangemessen (Hinweis auf Beschluss des BFH vom 29.11.1982 GrS 1/81, BStBl II 1983, 272; BFH-Urteile vom 07.03.2001, X R 192/96, BStBl II 2002, 126; vom 21.08.2012 VIII R 32/09, BStBl II 2013, 16; vom 18.12.2013, I R 25/12, BFH/NV 2014, 904 und vom 10.09.1992 V R 104/91, BStBl II 1993, 253). Grundsätzlich bleibe es einem Steuerpflichtigen unbenommen, das angestrebte wirtschaftliche Ergebnis durch entsprechende zivilrechtliche Vereinbarungen möglichst optimal zu gestalten (Hinweis auf BFH-Urteile vom 12.07.2012 I R 23/11, BFH/NV 2012, 1901; vom 04.12.2015 IV R 28/11, BFH/NV 2015, 495). Eine Gestaltung sei erst dann unangemessen, wenn zum Erreichen eines bestimmten wirtschaftlichen Zieles die vom Gesetzgeber vorausgesetzte Gestaltung nicht gebraucht, sondern dafür ein ungewöhnlicher Weg gewählt werde, auf dem nach den Wertungen des Gesetzgebers das Ziel nicht erreichbar sein solle (BFH-Urteil vom 07.12.2010 IX R 40/09, BStBl II 2011, 427).
55
Das Fehlen außersteuerlicher Gründe für die Veräußerung der Zertifikate an die GmbH bedeute daher nicht, dass es sich um einen Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten handele. Umgekehrt gelte: Nur wenn tatsächlich ein „Missbrauch“ entsprechend § 42 Abs. 2 S. 1 EStG vorliege, könne sich der Steuerpflichtige noch durch den Nachweis außersteuerlicher Gründe exkulpieren.
56
Die Zwischenschaltung der A-GmbH im Streitfall stelle jedoch keine unangemessene rechtliche Gestaltung dar. Die GmbH sei eine dauerhaft geschäftlich aktive Kapitalgesellschaft, die Einkünfte erzielt habe und erziele. Eine Zwischenschaltung einer GmbH sei nicht rechtsmissbräuchlich, wenn der Steuerpflichtige alle sich daraus ergebenden Konsequenzen trage (Hinweis auf BFH-Urteile vom 23.10.1996 I R 55/95, BStBl II 1998, 90; vom 15.10.1998 III R 75/97, BStBl II 1999, 119; vom 29.05.2008 IX R 77/06, BStBl II 2008, 789). Eine Kapitalgesellschaft sei ein eigenes Steuersubjekt; ein Durchgriff komme grundsätzlich nicht in Betracht (Hinweis auf Beschluss des BVerfG vom 21.06.2006 2 BvL 2/99, BVerGE 116, 164; BFH-Urteil vom 04.03.2008 IX R 78/06, BStBl II 2008, 789). Es liege in der Entscheidung des Gesellschafters, den Umfang des unternehmerischen Tuns der Kapitalgesellschaft abzustecken (Hinweis auf BFH-Urteile vom 20.03.2002 I R 63/99, BStBl II 2003, 50; vom 29.05.2008 IX R 77/06, BStBl II 2008, 789).
57
Allein der Umstand, dass der Verlust aus der Veräußerung der Zertifikate wegen der Zwischenschaltung der A-GmbH nach § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG dem progressiven Steuersatz unterliege und die Verlustausgleichsbeschränkung des § 20 Abs. 6 EStG nicht greife, vermöge keinen „vom Gesetz nicht vorgesehenen Steuervorteil“ zu begründen. Hierzu müsste vielmehr feststehen, dass die gewählte Steuergestaltung dem anhand objektiver Anhaltspunkte ermittelten Willen des Gesetzgebers widerspreche (Hinweis auf Wendt in DStJG 33 (2010), S. 130 f.; Gosch, in Festschrift Reiß, 2008, 597 (603)).
58
Im Streitfall habe der Kläger lediglich von den im steuerrechtlichen System selbst eingeräumten Gestaltungsspielräumen Gebrauch gemacht (Hinweis auf BFH-Urteile vom 31.05.1995 II R 31/92, BFH/NV 1996, 17; vom 10.08.2011 I R 45/10 BStBl II 2012, 118). Die Ausschöpfung von Verlusten entspreche dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit (Hinweis auf BFH-Urteile vom 19.08.1999 I R 77/96, BStBl II 2001, 43; vom 29.05.2008 IX R 77/06, BStBl II 2008, 789). Die Entscheidung, wann und an wen er Wertpapiere veräußere, stehe dem Steuerpflichtigen frei - auch an eine von ihm beherrschte Kapitalgesellschaft (Hinweis auf BFH-Urteile vom 23.10.1996 I R 55/95, BStBl II 1998, 90; vom 15.10.1998 III R 75/97, BStBl 1999, 119; vom 29.05.2008 IX R 77/06, BStBl II 2008, 789) und wenn er damit Verluste erziele (Hinweis auf BFH-Urteile vom 29.05.2008 IX R 77/06, BStBl II 2008, 789; vom 07.12.2010 IX R 40/09, BStBl II 2011, 427).
59
Die Nichtanwendung der Verlustausgleichsbeschränkung des § 20 Abs. 6 EStG sei kein gesetzlich nicht vorgesehener Steuervorteil, sondern vielmehr folgerichtige Ausgestaltung der Regelung des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG durch § 32d Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 EStG (Hinweis auf BFH-Urteil vom 29.04.2014, VIII R 23/13 BStBl II 2014, 884).
60
Wie sich aus den Gesetzesmaterialien (Hinweis auf BT-Drs. 17/3549, S. 19) ergebe, habe dem Gesetzgeber zur Vereinfachung des Verwaltungsvollzugs eine klare Trennung von Kapitalerträgen zum Abgeltungsteuersatz und solchen zur tariflichen Steuer erreichen wollen; es komme insoweit nur darauf an, wer den Kapitalertrag an den Steuerpflichtigen zahle. Für den Ausschluss des Abgeltungsteuersatzes habe dem Gesetzgeber bei Zahlung des Kapitalertrags durch die Gesellschaft an den Gesellschafter bereits die latente Gefahr gereicht, dass die Steuersatzspreizung ausgenutzt werden könnte (BT-Drs. 16/4841, S. 61).
61
Der vom Kläger im Streitfall genutzte Steuervorteil sei systemimmanent und vom Gesetz vorgesehen. Mit der in der Unternehmenssteuerreform 2008 getroffenen Grundentscheidung, eine Schedulensteuer einzuführen - einem System, dem Verwerfungen immanent seien - habe der Gesetzgeber das Anliegen einer gleichmäßigen, leistungsgerechten Besteuerung aller Bürger preisgegeben. Auch der BFH sei bereits zu dem Ergebnis gekommen, dass alleine aus der Ausnutzung des Steuersatzgefälles nicht auf eine missbräuchliche Gestaltung geschlossen werden könne (BFH-Urteile vom 24.02.2015 VIII R 44/12, BStBl. II 2015, 649; vom 28.06.2017 VIII R 57/14, BStBl II 2017, 1144).
62
Im Übrigen habe der Kläger mit der Investition auch ein erhebliches wirtschaftliches Risiko getragen und letztlich einen Gesamtverlust in Höhe von ./.902.488,46 € erlitten.
63
Die Prozessbevollmächtigten beantragen,
den Einkommensteuerbescheid 2015 vom 05.04.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19.12.2019 dahin zu ändern, dass das der tariflichen Einkommensteuer unterliegende zu versteuernde Einkommen um einen Verlust aus Kapitalvermögen in Höhe von ./.25.775.707 € vermindert sowie die nach § 32d Abs. 1 EStG zu besteuernden Kapitaleinkünfte um 24.627.416 € erhöht werden und die Steuer insgesamt entsprechend niedriger festgesetzt wird.
64
Der Vertreter des beklagten Finanzamts beantragt,
die Klage abzuweisen.
65
Für den Fall des Unterliegens beantragen beide Beteiligte die Zulassung der Revision wegen divergierender erstinstanzlicher Urteile.
66
Vom Finanzamt wird ergänzend vorgetragen, dass bereits die Einkünfteerzielungsabsicht in Frage zu stellen sei. Der Kläger habe eine Kapitalanlage gewählt, bei der unter bestimmten Voraussetzungen die Rückzahlung durch Lieferung eines anderen Wertpapieres, dessen Wert deutlich unter dem Ausgangswertpapier lag, und der Zahlung eines Barausgleichs geleistet werde. Dadurch, dass das Ausgangswertpapier und der Liefergegenstand wertmäßig erheblich voneinander abwichen, ergebe sich bei der Veräußerung ein erheblicher Verlust. Zwar sei die Rückzahlung von einem unbestimmten Ereignis abhängig; aus Sicht des Beklagten sei jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass lediglich die Rückzahlung eines Geldbetrages in Höhe von 85% des Nennbetrages (§ 3 Abs. 2 Buchstabe a der Emissionsbedingungen) erfolge, sehr gering gewesen. Für diesen Fall hätten der DAX und der Tec-DAX innerhalb der Laufzeit (08.12.2015 bis 28.12.2015) um mehr als 15% fallen müssen. Die Szenarien des § 3 Abs. 2 Buchstabe b oder c der Emissionsbedingungen, bei denen u. a. die Lieferung des anderen, an die GmbH zu veräußernden Wertpapieres vorgesehen sei, seien wesentlich wahrscheinlicher gewesen. Insoweit sei auf das Urteil des FG Münster vom 05.09.2019 (8 K 2950/16 E, juris) zum Bondstripping zu verweisen, in dem dieses - bei vergleichbarer Grundkonzeption - im Ergebnis die Einkünfteerzielungsabsicht verneint habe. Sowohl beim Bondstripping als auch im vorliegenden Fall gehe es dem Steuerpflichtigen darum, einen Verlust aus dem Regime der Abgeltungsteuer in die Besteuerung nach dem allgemeinen Tarif und damit der uneingeschränkten Verlustverrechnung zu überführen.
67
Im Übrigen halte das Finanzamt an seiner in der Einspruchsentscheidung vertretenen Auffassung fest, dass es sich um eine missbräuchliche Gestaltung im Sinne des § 42 AO handele. Die Generalnorm sei nicht gesperrt, da im Hinblick auf den zu entscheidenden Sachverhalt § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG nach teleologischer Reduktion als Spezialnorm nicht greife. Diese Vorschrift sei nach ihrer Ratio für die vorliegende Konstruktion nicht als „Missbrauchsbekämpfungsvorschrift“ zu bewerten. Im Streitfall ermögliche gerade die konstruierte Gestaltung die Steuervermeidung, in dem eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Steuersatzspreizung erreicht werde. In diesem Sinne hätten beispielsweise das Finanzgericht Düsseldorf mit Urteil vom 29.03.2019 (1 K 2163/16 E, F, EFG 2019, 1389) als auch das Finanzgericht München mit Urteil vom 20.10.2020 (12 K 3102/17, EFG 2021, 459) entschieden. Das Finanzgericht München habe in letzterer Entscheidung eine missbräuchliche Gestaltung im Sinne des § 42 AO angenommen. Die Sachverhalte seien vergleichbar, da auch im Streitfall die A-GmbH, an der der Kläger zu 100% beteiligt sei, die erworbenen Wertpapiere zeitnah am 06.01.2016 (lt. Erträgnisaufstellung der Bank1 für 2016) weiter veräußert habe. Darüber hinaus werde die GmbH überwiegend durch Darlehen des Klägers finanziert.
68
Das Finanzamt weise weiter darauf hin, dass die streitgegenständliche Gestaltung aktuell nicht dem Willen des Gesetzgebers entspreche. Mit dem geplanten Jahressteuergesetz 2020 solle eine Ergänzung des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG dahingehend vorgenommen werden, dass künftig Verluste durch den Verkauf von Wirtschaftsgütern an die Gesellschaft dem Abgeltungsteuertarif unterlägen, da der Vorgang bei der Gesellschaft nicht zu Betriebsausgaben führe.
- Inzwischen ist das Gesetz entsprechend geändert worden. -
69
Aus den Akten der A-GmbH ist noch ersichtlich, dass sie mit Vertrag vom 20.11.2012 gegründet wurde. Sitz der Gesellschaft ist 2; sie ist im Handelsregister des Amtsgerichts 2 unter HRB ... eingetragen. Als Gesellschaftszweck ist die Verwaltung eigenen Vermögens und die Beteiligung an Kapitalgesellschaften insbesondere im Bereich neuer Medien genannt. In den Streitjahren war der Kläger alleiniger Anteilseigner und Geschäftsführer. Der Jahresüberschuss 2015 betrug lt. G+V Rechnung 21.282,02 € und in 2016 der Jahresfehlbetrag (nach Betriebsprüfung) ./. 79.996 €. Zum 31.12.2015 sind Wertpapiere des Anlagevermögens mit einem Betrag von 4.233.271,24 € bilanziert (entspricht dem Kaufpreis für die angedienten TecDAX Zertifikate).
70
Laut Erträgnisaufstellung der Bank1 vom 10.02.2017 für die A-GmbH zum Depot Nr. 0000 wurden die TecDAX Zertifikate mit einem Verlust in Höhe von ./.80.780,67 € mit Wertstellung 04.01.2016 verkauft.
71
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen, die dem Gericht vorliegenden Akten (Einkommensteuerakte, Rechtsbehelfsakte, Betriebsprüfungsakte, Prüferhandakte, Akte Dauerunterlagen, Akte Vertragsunterlagen; Körperschaftsteuerakte, Bilanzakte, Akte Dauerunterlagen und Betriebsprüfungsakte der A-GmbH) sowie die Sitzungsniederschrift vom 30.03.2022 verwiesen.

Entscheidungsgründe

72
Die Klage ist zulässig und begründet.
73
Der Einkommensteuerbescheid 2015 vom 05.04.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19.12.2019 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO), da das Finanzamt zu Unrecht den erzielten Verlust aus der Veräußerung der angedienten TecDAX-Zertifikate an die A-GmbH in Höhe von ./.25.775.707 € den nach § 32d Abs. 1 EStG mit dem Abgeltungsteuersatz zu besteuernden Kapitaleinkünften zugeordnet hat.
74
Das der tariflichen Einkommensteuer unterliegende zu versteuernde Einkommen ist daher um einen Verlust aus Kapitalvermögen in Höhe von ./.25.775.707 € zu vermindern und die nach § 32d Abs. 1 EStG zu besteuernden Kapitaleinkünfte um 24.627.416 € zu erhöhen.
75
Da die Ermittlung der zutreffenden festzusetzenden Steuer für das Gericht einen nicht unerheblichen Aufwand bedeutet, war die Berechnung der Steuer dem beklagten Finanzamt zu übertragen (§ 100 Abs. 2 Satz 2 FGO).
76
Ein Missbrauch steuerlicher Gestaltungsmöglichkeiten durch die im Streitfall vollzogene Gesamtgestaltung liegt nach Überzeugung des Senats nicht vor.
77
1. Die Klage ist zulässig, da die Sachurteilsvoraussetzung des § 44 Abs. 1 FGO im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erfüllt war. Es kann im Streitfall dahingestellt bleiben, ob die Untätigkeitsklage bei Klageerhebung im Sinne des § 46 Abs. 1 FGO bereits zulässig gewesen ist. Wird - wie im Streitfall - der Rechtsbehelf während des Klageverfahrens zurückgewiesen, wird die Einspruchsentscheidung Gegenstand des Klageverfahrens und das die Untätigkeitsklage betreffende Verfahren fortgesetzt (vgl. Urteil des BFH vom 20.10.2010 I R 54/09, BFH/NV 2011, 641 m. w. N.).
78
2. Der Senat teilt nicht die Auffassung des Finanzamts unter Berufung auf das Urteil des FG Münster vom 05.09.2019 (8 K 2959/16 E, EFG 2019, 1774), dass schon mangels Einkünfteerzielungsabsicht die im Streitfall aus der Investition in die Indexanleihe resultierenden Kapitalerträge steuerlich nicht zu berücksichtigen wären.
79
a) Das Vorliegen einer Einkünfteerzielungsabsicht ist auch bei Einkünften aus Kapitalvermögen i.S. des § 20 EStG grundsätzlich zu prüfen und für jede einzelne Kapitalanlage getrennt zu beurteilen. Das Erfordernis der Einkünfteerzielungsabsicht gilt grundsätzlich für alle Einkunftsarten, allerdings unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Besonderheiten hinsichtlich der Einkünfteermittlung. Dabei bedingen die durch das UntStRefG 2008 mit der Abgeltungsteuer als Schedule eingeführten Besonderheiten der Einkünfte aus Kapitalvermögen eine tatsächliche (widerlegbare) Vermutung der Einkünfteerzielungsabsicht (BFH-Urteil vom 14.03.2017 VIII R 38/15, BStBl II 2017, 1040). Um die Vermutung zu entkräften, muss eine Erzielung eines Gewinns aus der Kapitalanlage von vornherein ausgeschlossen erscheinen (so auch Schmidt/Levedag, EStG, 41. Aufl. 2022, § 20 Rz. 20 m. w. N.).
80
b) Ungeachtet der Frage, ob die vom Finanzgericht Münster im Urteil vom 05.09.2019 (8 K 2959/16 E, a. a. O.) angestellte Gesamtbetrachtung zulässig ist, ist im Streitfall die Vermutung der Einkünfteerzielungsabsicht nicht entkräftet. Dass die Anlage spekulativ ist, spricht nicht gegen die Einkünfteerzielungsabsicht. Bei der streitgegenständlichen Indexanleihe handelt es sich nach Einschätzung des Senats um eine übliche Kapitalanlage, die an die Kurswerte der DAX und TecDax gekoppelt war. Deren Entwicklung ist - weder im positiven Sinne noch im negativen - vorhersehbar. Je nach Entwicklung wäre - wie von der Klägerseite überzeugend dargestellt - sehr wohl auch ein wirtschaftlicher Gewinn jedenfalls möglich gewesen. Allein die Tatsache, dass die Investition in die Anleihe im Streitfall Teil eines „Steuersparmodells“ war, führt nicht zur Entkräftung der Vermutung für das Vorliegen der Einkünfteerzielungsabsicht.
81
3. Der vom Kläger durch den Verkauf der angedienten TecDAX-Zertifikate an die A-GmbH erzielte Verlust war auch mit den übrigen positiven Einkünften der Kläger auszugleichen (§ 20 Abs. 3 EStG). Die Vorschrift des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 EStG ist im Streitfall anzuwenden. Daher stand die Vorschrift des § 20 Abs. 6 Satz 1 1. Halbsatz EStG einer Verlustverrechnung mit den Einkünften aus anderen Einkunftsarten nicht entgegen.
82
Der Verkauf der Zertifikate an die A-GmbH stellt auch keinen Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten im Sinne des § 42 AO dar.
83
a) Im Streitfall erzielte der Kläger - soweit auch zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig - durch den Verkauf der angedienten TecDAX-Zertifikate an die A-GmbH einen nach § 20 Abs. 2 Nr. 7 EStG steuerbaren Verlust in Höhe von ./.25.775.706,80 €.
84
Der Kläger erhielt entsprechend der Emissionsbedingungen der ursprünglich erworbenen Anleihe zum Fälligkeitszeitpunkt einen sofort steuerbaren Barausgleich (§ 20 Abs. 1 Nr. 7 i. V m. § 20 Abs. 4a Satz 2 EStG) sowie die TecDAX Zertifikate. Nach § 20 Abs. 4a Satz 3 EStG sind die Anschaffungskosten in Höhe von 30.008.978,04 € auf die als Erfüllungssurrogat erhaltenen Zertifikate übergegangen und bei Veräußerung der Zertifikate entsprechend anzusetzen (§ 20 Abs. 4 Satz 1 EStG), so dass sich unter Ansatz des Kaufpreises (4.233.271,24 €) der steuerbare Verlust ergibt.
85
b) Der Senat sieht im Streitfall den Tatbestand des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG in der für das Streitjahr gültigen Fassung seinem Wortlaut nach als erfüllt an. Die A-GmbH, deren alleiniger Anteilseigner der Kläger ist, hat an diesen einen Ertrag (Veräußerungspreis) gezahlt.
86
Entgegen der Auffassung des Finanzamts kann die Vorschrift des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG grundsätzlich auch hinsichtlich (verlustbringender) Veräußerungsgeschäfte anwendbar sein (Schmidt/Levedag, EStG 41. Auflage 2022, § 32 d Rz 6, 10; insoweit auch im Ergebnis zutreffend bejaht: Urteile Finanzgericht Düsseldorf vom 29.03.2019 1 K 2163/16 E, F, EFG 2019, 1389 - Rev. VIII R 15/19 anhängig; Finanzgericht München vom 20.10.2020 12 K 3102/17, EFG 2021, 459 - Rev. VIII R 30/20 anhängig; Finanzgericht München vom 29.09.2020 5 K 2870/19, EFG 2021, 111 - Rev. VIII R 28/20 anhängig). Das Hinzusetzen eines weiteren ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals wie „nur positive“ Erträge oder durch die analoge Anwendung der Tatbestandsmerkmale des § 32d Abs. 2 Nr.1 Buchstabe a EStG bzw. 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe c Satz 5 EStG oder auch durch ein „Vorziehen“ der erst mit JStG 2020 (BGBl I 2020, 3096) eingefügten Tatbestandsmerkmale ist aus Sicht des Senats nicht zulässig. Wegen des Grundsatzes der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie wegen des für staatliches Eingriffsrecht und damit auch für das Steuerrecht geltenden Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes und des Bestimmtheitsgebots (Art. 20 Abs. 3 GG) ist nur der Gesetzgeber, nicht aber die Verwaltung oder die Gerichte berechtigt, neue Eingriffstatbestände zu schaffen (BFH-Urteil vom 17.11.2015  X R 40/13, BFH/NV 2016, 388 mit Hinweis auf Beschluss des BVerfG vom 14.08.1996 2 BvR 2088/93, NJW 1996, 3146).
87
Eine teleologische Reduktion dieser Vorschrift dahingehend, dass sie in Fällen nicht zur Anwendung kommt, in denen durch die Veräußerung einer Kapitalforderung im Sinne des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG an eine Kapitalgesellschaft, an der der Steuerpflichtige zu mindestens 10 Prozent beteiligt ist, ein Verlust entsteht, jedoch keine Gewinnverlagerung aus dem betrieblichen in den privaten Bereich stattfindet, ist nach Überzeugung des Senats nicht zulässig (so auch Urteil des Finanzgerichts München vom 29.09.2020 5 K 2870/19, EFG 2021, 111).
88
Eine teleologische Reduktion zielt darauf, den Geltungsbereich einer Norm mit Rücksicht auf ihren Gesetzeszweck gegenüber dem zu weit gefassten Wortlaut einzuschränken. Sie ist nicht bereits dann gerechtfertigt, wenn die vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung rechtspolitisch fehlerhaft erscheint. Ihre Aufgabe ist es daher nicht, das Gesetz zu verbessern, obwohl es sich - gemessen an seinem Zweck - noch nicht als planwidrig unvollständig oder zu weitgehend erweist (BFH-Urteil vom 20.03.2003 IV R 42/00, BStBl II 2003, 798). Vielmehr muss die auf den Wortlaut abstellende Auslegung zu einem sinnwidrigen Ergebnis führen (BFH-Urteil vom 14.05.2019 V R 20/16, BStBl II 2019 586). Gegenüber einer teleologischen Reduktion ist eine besondere Zurückhaltung geboten (BFH-Urteil vom 26.06.2007 IV R 9/05, BStBl II 2007, 893)
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c) Unter Beachtung dieser Grundsätze ist nach Überzeugung des Senats im Streitfall für eine anwendungsausschließende teleologische Reduktion des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG kein Raum.
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Es ist zwar zutreffend, dass im Streitfall die Gestaltung sichtlich dazu dient, einen im Streitjahr erzielten erheblichen Gewinn (gewerblicher Veräußerungsgewinn), der dem allgemeinen Steuersatz unterliegt, mit einem Verlust aus Kapitalvermögen ausgleichen zu können, ohne im eigentlichen Sinne die Steuersatzspreizung ausnutzen zu wollen. Diese Gestaltung ist aber nicht mit denen vergleichbar, die nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 1441, S. 60f. und BR-Drs. 220, 97f.) durch die Regelungen in 32d Abs. 2 Nr. 1 EStG verhindert werden sollen. Nach der Gesetzesbegründung sind die Ausnahmen geboten, um Gestaltungen zu verhindern, „bei denen auf Grund der Steuersatzspreizung betriebliche Gewinne z.B. in Form von Darlehenszinsen abgesaugt werden und so die Steuerbelastung auf den Abgeltungsteuersatz reduziert wird.“ Grundlegendes Ziel der Einführung des Abgeltungsteuersatzes sei es, zur Verbesserung der Attraktivität des deutschen Finanzplatzes und Verhinderung von Kapitalabfluss ins Ausland beizutragen, nicht aber Eigenkapital in die privilegiert besteuerte Anlageebene zu verlagern und durch Fremdkapital zu ersetzen. Nach der Gesetzesbegründung soll die Ausnahmeregelung des § 32d Abs. 2 Nr. 1 EStG ebenfalls dazu beitragen, einer Ersetzung von Eigenkapital durch Fremdkapital entgegenzuwirken und auch eine unerwünschte Ausnutzung der Steuersatzspreizung verhindern.
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Dabei hat der Gesetzgeber § 32d Abs. 2 Nr. 1 EStG allerdings so ausgestaltet, dass nicht nur die beispielhaft genannten - „insbesondere“ - Einkünfte im Zusammenhang mit Darlehensvereinbarungen sowie mit einer Beteiligung als stiller Gesellschafter, als unter die Regelung fallend aufgenommen werden, sondern auch Einkünfte aus der Veräußerung von Kapitalforderungen gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG. Hiernach fällt auch der Gewinn aus der Veräußerung von sonstigen Kapitalforderungen jeder Art i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG, der sich als Unterschied zwischen den Einnahmen aus der Veräußerung nach Abzug der Aufwendungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Veräußerungsgeschäft stehen, und den Anschaffungskosten, § 20 Abs. 4 Satz 1 1. Halbsatz EStG, errechnet, unter die Ausnahmeregelung. Auch hierfür ist nach § 32d Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 EStG die Anwendung des § 20 Abs. 6 EStG ausgeschlossen und somit der Ausgleich eines Verlusts aus einer derartigen Veräußerung mit Einkünften aus anderen Einkunftsarten, die dem allgemeinen Steuersatz unterliegen, ausdrücklich zugelassen, auch wenn diese Konstellation in die Gesetzesbegründung nicht ausdrücklich aufgenommen war. Wenn Gewinne aus der Veräußerung von Kapitalforderungen an eine Kapitalgesellschaft, an der der Steuerpflichtige zu mindestens 10 Prozent beteiligt ist, dem allgemeinen Steuersatz unterliegen, ist es folgerichtig, bei der Erzielung von Verlusten die Verlustverrechnung mit Einkünften aus den anderen Einkunftsarten zuzulassen (so auch Urteil des Finanzgerichts München vom 29.09.2020 5 K 2870/19, EFG 2021, 111 m. w. N.). Die auf den Wortlaut abstellende Auslegung der Norm führt somit nicht zu einem sinnwidrigen Ergebnis, so dass eine teleologische Reduktion der Vorschrift nicht zulässig ist. So weist das Finanzgericht München in seiner Entscheidung vom 29.09.2020 (5 K 2870/19, a. a. O.) zu Recht darauf hin, dass auch der Gesetzgeber selbst die Norm nicht dergestalt interpretiert, dass sie in Verlustfällen mangels Zweckerreichung nicht zur Anwendung kommen könnte. Dies belegt das in der BT-Drs. 18/8739, S. 111 f. gewählte Beispiel zur Beschreibung des Modells des Bondstripping; aus Sicht des Senats ist dies eine dem hier vorliegenden Fall durchaus vergleichbare Fallgestaltung. In dem Beispiel geht der Gesetzgeber von der uneingeschränkten Anwendbarkeit des § 32d Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 b) EStG aus, mit der Folge, dass der erzielte Verlust der tariflichen Einkommensteuer unterliegt und eine Beschränkung der Verlustverrechnung nach § 20 Abs. 6 EStG nicht zu Anwendung kommt. Im Übrigen belegt nach Ansicht des Senats auch die Tatsache, dass der Gesetzgeber sich mit dem JStG 2020 (BGBl I 2020, 3096) veranlasst gesehen hat, die Anwendbarkeit des § 32d Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 b) EStG zu beschränken, dass sie vorher in Fällen wie dem Streitfall uneingeschränkt zur Anwendung kommt. Die Neuregelung gilt ausdrücklich erst ab dem VZ 2021.
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d) Im vom Kläger vorgenommenen Verkauf der angedienten TecDAX-Zertifikate an die A-GmbH liegt kein Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten; der Anwendung des § 42 Abs. 2 AO steht § 42 Abs. 1 Satz 2 AO entgegen.
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(1) Durch den Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts kann das Steuergesetz nicht umgangen werden (§ 42 Abs. 1 Satz 1 AO). Ist der Tatbestand einer Regelung in einem Einzelsteuergesetz erfüllt, die der Verhinderung von Steuerumgehungen dient, so bestimmen sich die Rechtsfolgen nach jener Vorschrift (§ 42 Abs. 1 Satz 2 AO).
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Hat der Gesetzgeber ein missbrauchsverdächtiges Feld gesichtet und durch eine Spezialvorschrift abgesteckt, legt er für diesen Bereich die Maßstäbe fest und sichert eine einheitliche Rechtsanwendung, die Gestaltungssicherheit gewährleistet. Sind in einem konkreten Einzelfall die Voraussetzungen der speziellen Missbrauchsverhinderungsbestimmungen nicht erfüllt, darf die Wertung des Gesetzgebers nicht durch eine extensive Anwendung des § 42 Abs. 1 AO a.F. unterlaufen werden. Verbleiben Rechtsfolgenlücken, ist es allein Aufgabe des Gesetzgebers, der mittels der speziellen Missbrauchsbekämpfungsnormen die Grenzen des Missbrauchs gezogen hat, diese zu schließen (BFH-Urteil vom 09.06.2021 I R 52/17, BFH/NV 2022, 151 m. w. N.). Diese Grundsätze gelten nach Überzeugung des Senats ebenso für die Anwendung des § 42 Abs. 1 AO n.F. (so auch zutreffend Urteil des Finanzgerichts München vom 29.09.2020 5 K 2870/19, EFG 2021, 111 m. w. N.).
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Unterfällt ein Sachverhalt einer Regelung i.S. des § 42 Abs. 1 Satz 2 AO, bestimmen sich die Rechtsfolgen allein nach dieser Vorschrift. Daneben kommt die Annahme eines Missbrauchs von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts nach § 42 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 AO und die daran anknüpfende Rechtsfolge in § 42 Abs. 1 Satz 3 AO grundsätz-lich nicht in Betracht (BFH-Urteil vom 23.04.2021 IX R 8/20, BStBl II 2021, 743).
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Liegt ein Fall der „positiven Spezialität“ vor, bestimmen sich die Rechtsfolgen allein nach dem Einzelsteuergesetz, ohne dass ein Missbrauch im Sinne des § 42 Abs. 2 AO zu prüfen ist. Bei tatbestandlichem Eingreifen spezieller Umgehungsvorschriften können nicht andere und strengere Rechtsfolgen aus § 42 AO abgeleitet werden, weil die positive Spezialität den Rekurs auf die Generalklausel sperrt (vgl. Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, vor 42 Tz. 12 m. w. N.).
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Der abschließende Charakter einer spezialgesetzlichen Missbrauchsnorm ergibt sich aus dem Wesen der gesetzlichen Typisierung. Die Eigenheit der unwiderleglichen Typisierung ist gerade, dass sie Abweichungen nach oben und nach unten ausblendet. Bei unwiderleglichen Typisierungen kommt es an den Tatbestandsrändern stets zu Begünstigungen und zu Belastungen; dies ist dem Instrument der gesetzlichen Typisierung immanent. Will der Gesetzgeber den Einwand außersteuerlicher Gründe abschneiden, wie in den Fällen der Schaffung einer speziellen Missbrauchsbekämpfungsnorm, muss er im Gegenzug auch gegen sich gelten lassen, wenn Gestaltungen, die er als im Regelfall nicht missbrauchsverdächtig einstuft und deshalb nicht in den Tatbestand der speziellen Missbrauchsnorm einbezogen hat, ausnahmsweise zur (alleinigen) Erreichung steuerlicher Vorteile mit Missbrauchsabsicht verwirklicht werden. Die Typisierungswirkung nur auf den für den Steuerpflichtigen ungünstigen Normenüberhang zu erstrecken, entzieht der Typisierung ihre gleichheitsrechtliche Rechtfertigung. Damit erzeugt die spezialgesetzliche Missbrauchsnorm als materielle Typisierung Sperrwirkung. Innerhalb der Typisierung scheidet ein Rückgriff auf § 42 AO aus (Hey: „Grenzen steuerlicher Gestaltungsfreiheit - Verhältnis des 42 AO zu speziellen Missbrauchsvorschriften“, DStR, Beihefter zu Heft 3/2014, 8 ff (11)).
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(2) Bei § 32d Abs. 2 Nr. 1 b) EStG handelt es sich um eine spezielle Missbrauchsvorschrift (so auch: Urteile des FG München vom 20.10.2020 12 K 3102/17, EFG 2021, 459; vom 29.09.2020 5 K 2870/19, EFG 2021, 111; des FG Düsseldorf vom 29.03.2019 1 K 2163/16 E, F, EFG 2019, 1389). Ihre Anwendung hängt nach dem Wortlaut nicht vom Vorliegen eines tatsächlichen Missbrauchsfalls, einer konkret missbräuchlichen Gestaltung ab (Urteil des FG München vom 29.09.2020 5 K 2870/19, a. a. O. mit Hinweis auf Urteil des BFH vom 29.04.2014 VIII R 23/13, BStBl II 2014, 884: keine verfassungskonforme Auslegung dahingehend, dass nur Missbrauchsfälle erfasst werden).
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Da im Streitfall die Tatbestandsmerkmale des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG durch die Veräußerung der TecDax-Zertifikate an die A-GmbH erfüllt sind, bedarf es keiner Entscheidung, ob die Anwendung des § 42 Abs. 2 AO trotz Vorhandenseins einer speziellen Missbrauchsvorschrift geboten sein kann, wenn ein oder mehrere Tatbestandsmerkmale der Missbrauchsvorschrift in Umgehungsabsicht nicht erfüllt werden (vgl. dazu Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, vor § 42 AO Tz. 13 ff. m.w.N.).
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Nach Überzeugung des Senats gilt im Streitfall vielmehr, dass aufgrund der Tatsache, dass die Tatbestandsmerkmale der speziellen Missbrauchsvorschrift erfüllt sind, ein Rückgriff auf die Generalklausel des § 42 Abs. 2 AO nicht möglich ist. Für einen nach § 42 Abs. 2 AO zu beurteilenden „Missbrauch der Missbrauchsvorschrift“ ist nach Überzeugung des Senats dann kein Raum mehr (entgegen Urteile des Finanzgerichts München vom 20.10.2020 12 K 3102/17, EFG 2021, 459; des Finanzgerichts Düsseldorf vom 29.03.2019 1 K 2163/16 E, F, EFG 2019, 1389).
101
Der Senat teilt vielmehr die Auffassung des Finanzgerichts München im Urteil vom 29.09.2021 (5 K 2870/19, EFG 2021, 111), wonach bei Tatbestandserfüllung einer spezialgesetzlichen Missbrauchsnorm die Anwendung der Generalklausel ausscheidet. Auch in diesen Fällen ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber ein missbrauchsverdächtiges Feld gesichtet und durch eine Spezialvorschrift abgesteckt hat. Er legt für diesen Bereich die Maßstäbe fest und sichert eine einheitliche Rechtsanwendung, die Gestaltungssicherheit gewährleistet. Die Wertungen des Gesetzgebers und die angeordneten Rechtsfolgen dürfen nicht durch eine extensive Anwendung des § 42 Abs. 2 AO unterlaufen werden. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, der mittels der speziellen Missbrauchsbekämpfungsnormen den Missbrauchsfall definiert hat, bei der Ausgestaltung der Rechtsfolgen die von der Missbrauchsnorm erfassten Gestaltungen in ihrer Tragweite zu bedenken und ggf. die normierten Rechtsfolgen für bestimmte Gestaltungen auszuschließen. Im Fall des Erkennens eines missbrauchsverdächtigen Felds und dessen normativer Ausgestaltung ist die einheitliche Rechtsanwendung und die Gestaltungssicherheit betreffend nicht zwischen den Fällen der (missbräuchlichen) Vermeidung der Tatbestandserfüllung und der gezielten (missbräuchlichen) Tatbestandserfüllung zu unterscheiden. In beiden Fällen obliegt es vielmehr dem Gesetzgeber, ggf. auf missbräuchliche Gestaltungen zu reagieren (so zutreffend: Urteil des Finanzgerichts München Urteil vom 29.09.2021 5 K 2870/19, EFG 2021, 111). Denn der Gesetzgeber schafft - auch ungewollt - mit echten Spezialvorschriften eine gesetzliche Typisierung des § 42 AO, die die Unangemessenheit in sachlicher, zeitlicher oder persönlicher Hinsicht konkretisieren. Wenn die Unangemessenheit durch die Spezialvorschrift konkretisiert wird, kann die tatbestandliche Gestaltung nicht (mehr) unangemessen im Sinne des § 42 AO sein (vgl. Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, vor § 42 AO Tz. 13). Soweit eine solche Gestaltung als „missbräuchlich“ erachtet wird, ist es Aufgabe des Gesetzgebers hierauf zu reagieren. Dies hat der Gesetzgeber bezogen auf die im Streitfall einschlägige Norm des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG trotz frühzeitiger Hinweise allerdings erst mit dem Jahressteuergesetz 2020 (BGBl I 2020, 3096) getan. Für das Streitjahr scheidet daher nach Auffassung des Senats daher ein Rückgriff auf § 42 Abs. 2 AO aus.
102
An der Abschirmwirkung des § 32d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG ändert sich entgegen der Auffassung des Finanzamts auch nichts dadurch, dass die - aus dessen Sicht unerwünschte Rechtsfolge der Verlustverrechnung mit den Einkünften aus anderen Einkunftsarten - auch dadurch eintritt, dass die Anschaffungskosten sich an den angedienten Wertpapieren fortgesetzt haben (§ 20 Abs. 4a Satz 3 EStG). Dies sieht der Senat unter Missbrauchserwägungen als unproblematisch an, da dies nicht zu einem gesetzlich vorgesehenen Steuervorteil führt, sondern zunächst nur eine gesetzlich normierte Zuordnung ohne steuerliche Auswirkung ist. Der Barausgleich wird „systemkonform“ der Abgeltungsteuer unterworfen (§ 20 Abs. 4a Satz 2 EStG). Erst dadurch, dass bei der Veräußerung an die A-GmbH der Tatbestand der spezialgesetzlichen Missbrauchsnorm des § 32 d Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b EStG erfüllt ist, wirken sich die Anschaffungskosten dann konsequenterweise in dessen Regelungsbereich aus.
103
Da im Streitfall die Anwendung des § 42 Abs. 2 AO ausscheidet, die Höhe des Veräußerungsgewinns zwischen den Beteiligten - zu Recht - unstreitig ist, war der Klage antragsgemäß stattzugeben.
104
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 143 Abs. 1, 135 Abs. 1 FGO und der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und über den Vollstreckungsschutz auf § 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 und Abs. 3 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
105
5. Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zuzulassen.