Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 27.07.2022 – W 1 K 22.30060
Titel:

Erfolgreiche Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nigeria, Homosexualität)

Normenkette:
AsylG § 3 Abs. 1
Leitsätze:
1. In Nigeria gibt es keine systematische staatliche Verfolgung oder aktive Überwachung von angehörigen sexueller Minderheiten, sodass keine Gruppenverfolgung angenommen werden kann und es einer individuellen Gefahrenprognose im Einzelfall bedarf. (Rn. 21 – 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Prognosen hinsichtlich des zukünftigen Auslebens der sexuellen Neigungen durch eine nach Überzeugung des Gerichts homo- oder bisexuelle Person sind grundsätzlich problematisch; sie dürfen jedenfalls nicht entscheidender Maßstab für die Frage der Zumutbarkeit einer Rückkehr ins Herkunftsland sein. (Rn. 24 – 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nigeria, Homosexualität (hier glaubhaft), Flüchtlingseigenschaft, homosexueller Mann, Zumutbarkeit
Fundstelle:
BeckRS 2022, 21429

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung von Ziffern 1, 3, 4, 5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17.01.2022 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Der Kläger wendet sich gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - vom 17.01.2022 und begehrt u. a. die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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Der am 1987 in Edo State/Nigeria geborene Kläger gab an, nigerianischer Staatsangehöriger vom Volk der Edo zu sein. Er reiste am 09.12.2019 aus Italien kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 30.01.2020 einen Asylantrag.
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In der informatorischen Anhörung beim Bundesamt vom 06.02.2020 trug der Kläger im Wesentlichen vor, dass er aus Uromi stamme. Ein Mann sei nach Uromi gekommen und habe ihm ein Handwerk beigebracht. Er habe nicht gewusst, dass der Mann homosexuell gewesen sei. Für einen Auftrag sei er von diesem nach Lagos mitgenommen worden. Dort sei er einer anderen Person vorgestellt worden, mit der er habe arbeiten sollen. Der Mann habe gefragt, ob er ein enger Freund sein wolle. Als er einverstanden gewesen sei, habe die Person ihm immer wieder Sachen gekauft. Der Mann habe ihn geküsst, umarmt und an verschiedenen Körperstellen berührt. Er habe mit dem Mann Sex gehabt und der Mann habe sich um ihn gekümmert. Der Mann, der ihn von Uromi nach Lagos gebracht habe, sei über das Verhältnis wütend gewesen und habe ein ebensolches Verhältnis eingefordert. Im Verlauf sei er dann nach Benin City geschickt worden. Dort sei er dann homosexuellen Freunden vorgestellt worden. Sie seien dann auf eine Geburtstagsfeier gegangen, auf der viel geknutscht, geschrien und getrunken worden sei. Als die von Nachbarn gerufene Polizei kam, seien sie festgenommen worden. Sie seien geschlagen worden, weil sie homosexuell gewesen seien. Die Polizei habe gesagt, dass der König von Uromi an seinem Fall interessiert sei. Deshalb habe man ihn nach Uromi in ein Gefängnis gebracht. Man habe ihm gesagt, dass er entweder lebenslänglich bekommen oder erhängt würde. Als Taxifahrer im Zuge einer Protestaktion randaliert hätten, habe er wegrennen können. Er sei nach Abuja. Dort habe er versucht ein neues Leben aufzubauen. Zwei Jahre sei er dortgeblieben. Eines Tages habe er eine Person aus seinem Dorf erkannt. Der König habe ihm gesucht. Er sei weggelaufen, habe sich versteckt und bemerkt, dass die Polizei mit Hilfe der Person aus seinem Dorf nach ihm suche. Er sei dann nach Kano und habe dort auf einem Feld gearbeitet. Dort habe er einen Mann kennengelernt, der ihm geholfen habe am 06.03.2014 auszureisen. In seiner Anhörung am 20.12.2021 trug er im Wesentlichen vor, dass er homosexuell gewesen sei und bei Rückkehr nach Nigeria ins Gefängnis kommen würde. Der König würde es nicht vergessen haben. Auf Nachfrage, dass er jetzt mit einer Frau zusammenlebe, trug er vor, dass er sich vorgestellt habe, dass der König nachsichtig sein würde, wenn er jetzt mit einer Frau zusammenlebe. Er müsse seinem König beweisen, dass er nicht mehr homosexuell sei. Deshalb sei er jetzt mit einer Frau zusammen. Er habe in Deutschland keine näheren Kontakte zu Männern, weil dies seine Frau nicht erlaube. Sie erlaube ihm nicht Männer zu grüßen und zu treffen. Er versuche mit seiner Frau Kinder zu bekommen. Auf weitere Nachfrage gab er an, dass er in Nigeria der Polizei gemeldet worden sei, weil er Gemeindemitglieder in die Homosexualität einführen würde. Der Vater eines Freundes habe dies der Polizei gemeldet.
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Mit Bescheid vom 17.01.2022 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), Asylanerkennung (Ziffer 2) und Zuerkennung subsidiären Schutzes (Ziffer 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Ziffer 4). Weiterhin wurde der Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist wurde die Abschiebung nach Nigeria angedroht (Ziffer 5). Das einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate befristet (Ziffer 6). Auf die Bgründung des Bescheides wird Bezug genommen.
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Gegen diese Entscheidung hat der Kläger am 02.02.2022 Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erhoben.
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Er b e a n t r a g t:
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Unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17.01.2022 wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Die Beklage b e a n t r a g t,
die Klage abzuweisen.
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Mit Beschluss vom 21.06.2022 ist der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.
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In der mündlichen Verhandlung vom 26.07.2022 ist der Kläger unter Hinzuziehung eines Dolmetschers ergänzend zu seinen Ausreisegründen angehört worden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die dem Gericht vorliegende Akte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Entscheidung konnte ergehen, obwohl die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht erschienen bzw. vertreten war. Diese war in der rechtzeitigen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden, § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -.
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Die zulässige Klage ist begründet. Der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 17.01.2022 ist - soweit angegriffen - rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Dem Kläger steht im hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 1 AsylG zu.
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Voraussetzung für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus ist, dass der Ausländer Flüchtling im Sinne von Artikel 1 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlings-Konvention - GFK -) ist. Dies ist dann der Fall, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (§ 3 Abs. 1 AsylG). Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3 c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3 c Nr. 2 AsylG) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in § 3 c Nrn. 1 und 2 AsylG genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3 d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3 c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3 d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3 e Abs. 1 AsylG).
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Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 i.V. m. § 3a Abs. 1 AsylG gelten zunächst Handlungen (Verfolgungshandlung), die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), ferner Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). § 3a Abs. 2 AsylG nennt als mögliche Verfolgungshandlungen beispielhaft u. a. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt einschließlich sexueller Gewalt, sowie gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden.
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Bei der Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft ist der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 -, juris). Nach Artikel 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 ist hierbei die Tatsache, dass ein Betroffener bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Betreffenden vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betreffende erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr Begünstigten eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bedroht werden. Dadurch wird derjenige, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 -, juris Rn. 23). Als vorverfolgt gilt eine Person dann, wenn sie aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.
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Es obliegt dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, B.v. 26.10.1989, InfAuslR 1990, 38). Dazu bedarf es - unter Angabe genauer Einzelheiten - einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts, aus welchem sich - als wahr unterstellt - ergibt, dass ihm bei verständiger Würdigung politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (BVerwG, B.v. 19.10.2001 - 1 B 24.01 -, juris Rn. 5; U.v. 24.3.1987 - Az. 9 C 321.85 -, juris Rn. 9; U.v. 22.3.1983 - 9 C 68.81 -, juris Rn. 5).
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Nach diesen Maßstäben ist der Kläger als Flüchtling anzuerkennen. Dabei kann es dahinstehen, ob der Kläger Nigeria bereits vorverfolgt verlassen hat. Jedenfalls steht zur Überzeugung des erkennenden Gerichts fest, dass dem Kläger nunmehr im Falle seiner Rückkehr bei verständiger Würdigung aller Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aufgrund seiner Homosexualität droht. Der erkennende Einzelrichter ist nach eingehender Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung überzeugt davon, dass seine Schilderungen bezüglich seiner Homosexualität der Wahrheit entsprechen, der Kläger also tatsächlich homosexuell ist. Der Kläger machte bei seiner Befragung einen authentischen und aufrichtigen Eindruck, ohne in irgendeine Richtung zu übersteigern oder auszuweichen. Seine Antworten stimmten in den wesentlichen Grundfragen mit den in seinen Anhörungen bei der Beklagten getätigten Aussagen überein bzw. ergänzten diese. Dabei kommt insbesondere der vom Bundesamt in seiner ablehnenden Entscheidung aufgezeigte Widerspruch zu den Umständen seiner Verhaftung in Nigeria zur Überzeugung des erkennenden Einzelrichters schon deshalb keine entscheidende Bedeutung zu, da maßgeblich darauf abzustellen ist, dass der Kläger tatsächlich homosexuell ist. Dies steht aber nach dem persönlichen Eindruck, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung hinterlassen hat, zur Überzeugung des Einzelrichters fest. Der Kläger hat bereits in seiner ersten Anhörung beim Bundesamt ausführlich und detailreich vorgetragen, wie seine sexuelle Entwicklung vor sich gegangen ist. Dieser Vortrag hebt sich von Angaben anderer Asylbewerber, die Homosexualität für sich behaupten, entscheidend ab. Gerade angesichts der bekannten Vorbehalte in der nigerianischen Gesellschaft gegenüber Homosexualität (dazu unten mehr) erscheinen die ausführlichen Schilderungen des Klägers authentisch. Dies gilt insbesondere auch hinsichtlich der Ausführungen des Klägers zu seiner Freundin. Darauf angesprochen, vermochte der Kläger nachvollziehbar darzustellen, dass die Beziehung zu seiner Freundin im Wesentlichen wegen des äußeren Eindrucks in seiner community motiviert ist, was er auch schon in der zweiten Anhörung beim Bundesamt zum Ausdruck gebracht hat („ich muss dem König beweisen, dass ich nicht mehr homosexuell bin, deshalb bin ich mit einer Frau zusammen“). In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger nachvollziehbar seinen Zwiespalt geschildert, dass die Beziehung zu der Frau für ihn nicht erfüllend sei und er auch aus Loyalität der Frau gegenüber daran festhält. Überzeugend hat er dargestellt, dass ihm am liebsten wäre, wenn die Frau von sich aus die Beziehung beenden würde. Auch die Tatsache, dass aus dieser Verbindung bislang keine Nachkommen hervorgegangen sind, spricht dafür, dass die Angaben des Klägers zu dieser Beziehung glaubhaft sind.
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Homosexualität stellt einen anerkannten Verfolgungsgrund gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar. Homosexuelle bilden in Nigeria eine „soziale Gruppe“, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen wird unzweifelhaft deutlich, dass LGBTI Personen in Nigeria ihre sexuelle Orientierung nicht öffentlich ausleben können und massiven Diskriminierungen und Anfeindungen ausgesetzt sind. Das gesellschaftliche Klima ihnen gegenüber ist feindselig. Die Regierung beschreibt Homosexualität als „unnatürlich“ und „unafrikanisch“. Homosexuelle Handlungen stehen unter Strafe und können mit langen Haftstrafen geahndet werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, Stand September 2020 vom 5.12.2020, S. 16). Homosexuelle Handlungen jeglicher Art sind - unabhängig vom Geschlecht der betroffenen Personen - sowohl nach säkularem Recht als auch nach Scharia-Recht (Körperstrafen bis hin zum Tod durch Steinigung in besonderen Fällen) strafbar. § 214 des Strafgesetzbuchs sieht 14 Jahre Haft für gleichgeschlechtliche Beziehungen vor. Der 2014 verabschiedete Same Sex Marriage Prohibition Act - SSMPA - sieht zudem vor, dass homosexuelle Paare, die heiraten oder öffentlich ihre Zuneigung zeigen, mit Haft bestraft werden können. Das Gesetz sieht bis zu 14 Jahre Haft für Eheschließungen und zivilrechtliche Partnerschaften zwischen zwei Frauen oder zwei Männern vor. Wer seine Liebesbeziehung zu einem Menschen des gleichen Geschlechts direkt oder indirekt öffentlich zeigt, soll dem Gesetz zufolge mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden können. Die gleiche Strafe ist für die Gründung und Unterstützung von Clubs, Organisationen oder anderen Einrichtungen für Schwule und Lesben vorgesehen. In den zwölf nördlichen Bundesstaaten, wo das islamische Recht in Kraft ist, können homosexuelle Handlungen mit Haft, Stockschlägen oder Tod durch Steinigung bestraft werden. Im Jahr 2020 wurden von Scharia-Gerichten keine solchen Urteile verhängt. In den vergangenen Jahren kam es zu Verurteilungen zu Stockschlägen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Nigeria, 3. September 2021, S. 45). Im August 2018 wurden 47 Personen bei einer Hotelparty in Lagos verhaftet, wo die Polizei „homosexuelle Aktivitäten“ feststellte. Ein Richter hat am 27.Oktober 2020 den Fall abgewiesen, in dem 47 Männer wegen der Erfüllung eines Straftatbestands der nigerianischen Anti-Homosexuellen-Gesetzgebung vor Gericht standen - Zurschaustellung gleichgeschlechtlicher Liebesbeziehungen. Konkreter Grund für die Abweisung war „Mangel an korrekter Prozessführung“, die Unfähigkeit der Anklage, Zeugen zu benennen und Beweise zu bringen. Der Fall wurde jedoch lediglich ausgesetzt („struck out“) und nicht abgewiesen („dismissed“). D.h., die Angeklagten können sich frei bewegen, könnten aber von der Polizei aufgrund derselben Anklage nochmals inhaftiert werden. Gerade im Rahmen der Verabschiedung des SSMPA 2014 kam es zu einer Zunahme an Fällen von Belästigung und Drohung. Es wurde von zahlreichen Verhaftungen berichtetet. Denn der SSMPA hat zu einer weiteren Stigmatisierung von Lesben und Schwulen geführt. Diese werden oftmals von der Polizei schikaniert und misshandelt, sowie von der Bevölkerung gemobbt oder mittels Selbstjustiz verfolgt. Das Gesetz dient dabei zur Rechtfertigung von Menschenrechtsverletzungen wie Folter, sexueller Gewalt, willkürlicher Haft, Erpressung von Geld sowie Verletzung von Prozessrechten. Seit der Verabschiedung des SSMPA ist die Zahl an Gewaltvorfällen gegen Homosexuelle leicht zurückgegangen. Zugleich nahmen Fälle von Erpressungen, Eindringen in die Privatsphäre und willkürlichen Verhaftungen zu. Im Jahr 2020 gab es einen Anstieg an Menschenrechtsverletzungen gegen Angehörige sexueller Minderheiten, verstärkt durch die COVID-19 Pandemie. Die überwiegende Mehrheit von Menschenrechtsverletzungen gegenüber Angehörigen sexueller Minderheiten geht von nichtstaatlichen Akteuren aus. Staatlicher Schutz ist diesbezüglich nicht zu erwarten. Mitunter kommt es sogar zur Nötigung oder Verhaftung des Opfers (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, a. a. O., S. 46).
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Über das Kriterium der Gruppenverfolgung auf die Gefährdung des Einzelnen kann hier jedoch nicht geschlossen werden, da es an einer bestimmten Verfolgungsdichte mangelt, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigen würde. Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Schutzsuchenden, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gruppenverfolgung; vgl. hierzu BVerwG, U.v. 18.7.2006 - 1 C 15/05 -, juris Rn. 20 ff.; U.v. 1.2.2007 - 1 C 24/06 -, juris Rn. 7). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt - abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms (vgl. BVerwG, U.v. 5.7.1994 - 9 C 158/94 -, juris) - ferner eine bestimmte „Verfolgungsdichte“ voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt (vgl. BVerwG, U.v. 18.7.2006, a.a.O.; vgl. zur Gruppenverfolgung VGH BW, U.v. 7.3.2013 - A 9 S 1872/12 -, juris Rn. 30). Insgesamt gibt es in Nigeria keine systematische staatliche Verfolgung oder aktive Überwachung von Angehörigen sexueller Minderheiten. Die Rechtsänderung durch den SSMPA hat bisher nicht zu einer flächendeckenden verschärften Strafverfolgung geführt. Es gibt nach keinem der betroffenen Gesetze Haftbefehle wegen Homosexualität. Über- oder Zugriffe durch die Polizei erfolgen zufällig oder nach Hinweisen. Es gibt nahezu keine Anklagen unter den spezifisch gegen Angehörige sexueller Minderheiten anwendbaren Gesetzen und noch weniger Verurteilungen. Die Anwendung von Strafgesetz und Scharia gestaltet sich schwierig, denn es gilt der Nachweis gleichgeschlechtlichen Sexualverkehrs. Auch unter dem SSMPA gab es kaum Anklagen. Üblicherweise verlaufen Gerichtsfälle unter diesen Gesetzen im Sand.
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Allerdings werden manchmal andere Vergehen vorgeschoben, um eine Verurteilung zu vereinfachen. Zudem schafft die Existenz der spezifisch auf sexuelle Minderheiten anwendbaren Gesetze die Basis dafür, dass Personen von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren drangsaliert, bedroht oder erpresst werden können. Verhaftungen wiederum ziehen kaum jemals Anklagen nach sich, sondern dienen in erster Linie der Erpressung (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, a.a.O. S. 45f.). Bei Übergriffen auf sexuelle Minderheiten sind zudem überwiegend nichtstaatliche Akteure als Täter involviert (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, a.a.O. S. 46). Da unter Zugrundelegung des Vorbenannten davon auszugehen ist, dass in Nigeria eine Gruppenverfolgung nicht stattfindet - es fehlt sowohl an einem (staatlichen) Verfolgungsprogramm als auch an einer entsprechenden Verfolgungsdichte -, bedarf es der Prüfung einer individuellen Gefahrenprognose im Einzelfall.
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Aufgrund der dargestellten Auskunftslage drohen dem Kläger jedoch gerade wegen seiner Homosexualität Verfolgungshandlungen in Form von Anwendung physischer und psychischer Gewalt einschließlich sexueller Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG), gesetzlichen, administrativen, polizeilichen oder justiziellen Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (§ 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG), sowie unverhältnismäßiger oder diskriminierender Strafverfolgung oder Bestrafung (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG).
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Hierfür ist es unerheblich, inwiefern der Kläger seine Homosexualität in Deutschland auslebt. Im Gegensatz zur politischen oder religiösen Überzeugung, die sozial geprägte Bereiche darstellen und sich typischerweise in der Kundgabe und Verbreitung bestimmter politischer Positionen bzw. der Vornahme von und Beteiligung an religiösen Riten äußern, betrifft die sexuelle Betätigung die Intimsphäre eines Menschen. Somit darf von einer nur zurückhaltend ausgelebten Sexualität nicht ohne weiteres auf ein fehlendes oder geringes Bedürfnis dazu geschlossen werden, wie es etwa naheläge, wenn ein vorgeblich religiöser Mensch keinerlei Kontakt zu anderen Gläubigen sucht oder ein mutmaßlicher politischer Aktivist kein erkennbares Interesse an regimekritischen Tätigkeiten zeigt. Dies gilt umso mehr, wenn der Betreffende in einem gesellschaftlichen Umfeld wie in Nigeria aufgewachsen ist und geprägt wurde, in dem jedwede Sexualität ein tabuisiertes Thema ist und in dem abweichende sexuelle Orientierungen als krankhaft und kriminell geächtet werden. Auch wenn sich die Betroffenen diesen Einflüssen durch ihre Flucht entzogen haben, ist zu erwarten, dass ihre sexuelle Orientierung für sie aufgrund der erlebten Stigmatisierung noch lange ein scham- oder gar schuldbesetztes Thema bleibt (vgl. VG Freiburg (Breisgau), U.v. 3.12.2020 - A 6 K 2552/18 -, juris Rn. 19). Angesichts dessen davon sind Prognosen hinsichtlich des zukünftigen Auslebens der sexuellen Neigungen durch eine nach Überzeugung des Gerichts homo- oder bisexuelle Person grundsätzlich problematisch. Sie dürfen jedenfalls nicht entscheidender Maßstab für die Frage der Zumutbarkeit einer Rückkehr ins Herkunftsland sein. Auf Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist anerkannt, dass „bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die zuständigen Behörden von dem Asylbewerber nicht erwarten [können], dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden“ (EuGH, U.v. 7.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 -, juris Rn. 76 a.F.).
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Dies wird von der deutschen Rechtsprechung bisher weitgehend dahingehend ausgelegt, dass diskretes Verhalten bei der Prüfung eines Asylantrages nicht vom Antragsteller „verlangt“ werden (so VG Potsdam, U.v. 27.5.2021 - 2 K 3028/18.A -, juris Rn. 35; VG Berlin, U.v. 17.8.2020 - 6 K 686.17 A -, juris Rn. 42), er nicht „darauf verwiesen“ werden (so BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22.1.2020 - 2 BvR 1807/19 -, juris Rn. 19; VG Würzburg, U.v. 15.6.2020 - W 8 K 20.30255 -, juris Rn. 26) oder es ihm nicht „zugemutet“ werden (so VG Chemnitz, U.v. 18.5.2021 - 4 K 2610/17.A -, juris Rn. 39) dürfe. Dennoch wird in der Regel eine Prognose dahingehend angestellt, in welchem Umfang der Betroffene voraussichtlich seine Neigungen im Herkunftsland ausleben wird, ob im Verborgenen oder äußerlich erkennbar, oftmals orientiert an der bisherigen Risikobereitschaft oder der Lebensweise in Deutschland (so etwa VG München, U.v. 8.3.2019 - M 9 K 17.39188 -, juris Rn. 21; VG Freiburg (Breisgau), U.v. 8.10.2020 - 4 K 945/18 -, juris Rn. 52; VG Berlin, U.v. 17.8.2020 - 6 K686.17 A -, juris Rn. 46). Es wird von den Klägern mithin erwartet, dass sie in irgendeiner Form unter Beweis stellen, dass ihnen das Verfolgen ihrer Neigungen wichtig und damit relevanter Bestandteil ihrer Identität ist. Die sexuelle Orientierung ist aber zwingend bedeutsamer Bestandteil der Identität eines Menschen. Dies würde man auch einer heterosexuellen Person nicht absprechen, selbst wenn diese seit Jahren ohne Partner oder sexuelle Kontakte lebt. Wie viel Platz Sexualität und Partnerschaft im Leben eines Menschen einnehmen, ist individuell unterschiedlich und kann sich jederzeit massiv verändern, wenn der Betreffende eine Person kennen lernt, zu der er sich hingezogen fühlt (ähnlich VG Chemnitz, U.v. 18.5.2021 - 4 K 2610/17.A -, juris Rn. 30). Selbst wenn das bisherige ungebundene Dasein für denjenigen bis zu dem Zeitpunkt akzeptabel oder sogar erfüllt gewesen sein mag, kann sich sodann von einem Tag auf den anderen das Bedürfnis einstellen, mit dieser Person sein Leben zu verbringen oder etwa eine Familie zu gründen. Unter dieser Prämisse darf ein Geflüchteter nicht in ein Land zurückgeschickt werden, in dem ihm das offene Zusammenleben mit einem frei gewählten Partner der Gefahr staatlicher Verfolgung aussetzen würde. Auch der Europäische Gerichtshof hat in der Originalfassung des Urteils vom 7. November 2013 (C-199/12 bis C201/12) bei wörtlicher Übersetzung tatsächlich ausgeführt, „bei der Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft können die zuständigen Behörden vernünftigerweise nicht erwarten, dass der Asylbewerber seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden.“ (EuGH, U.v. 7.11.2013 - C-199/12 bis C-201/12 -, juris, Rn. 76; vgl. auch Anmerkung bei juris unter „i“ a. E.). Der Einschub „von dem Asylbewerber“ (vgl. juris a.a.O. a. F.) anstatt „vernünftigerweise“ ist eine Veränderung des Urteilstextes in der deutschen Übersetzung, die den Sinn der Aussage verändert. Es muss angenommen werden, dass der Gerichtshof nicht nur ausschließen wollte, dass die Behörden ein solches Verhalten vom Betroffenen verlangen oder fordern (i.S.v. etwas „von jemandem“ erwarten), sondern klarstellen, dass sie eine solche Diskretion auch nicht - etwa aufgrund einer bisher sexuell zurückhaltenden Lebensweise - unterstellen oder prognostisch vermuten und daraus Schlüsse ziehen dürfen. Diese Annahme wird bestätigt durch die Begründung des Urteils, in der der Gerichtshof ausführt, „dass [der Betroffene] die Gefahr dadurch vermeiden könnte, dass er beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung größere Zurückhaltung übt als eine heterosexuelle Person, ist insoweit unbeachtlich“ (EuGH, a. a. O., Rn. 75).
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Schon weil der Einzelrichter also davon überzeugt ist, dass der Kläger tatsächlich homosexuell ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine dauerhafte und erzwungene Unterdrückung seiner Neigungen in Nigeria für ihn zumutbar wäre (so auch VG Magdeburg, U.v. 21.10.2021 - 6 A 486/19 MD, 7912967 - juris). Die Entscheidung, wie jemand seine sexuelle Orientierung auslebt und insbesondere, ob er sich offen zu seiner sexuellen Orientierung bekennen möchte oder nicht, ist eine höchstpersönliche, deren Bewertung dem Gericht entzogen ist (VG Leipzig, U.v. 18.11.2021 - 3 K 1759/20.A, 7697635 - juris). Der Kläger hat ein berechtigtes Interesse an der Bewahrung dieser Freiheit (VG Braunschweig, U.v. 9.8.2021 - 2 A 77/18 -, juris Rn. 43-49). Anderslautende Entscheidungen deutscher Verwaltungsgericht (vgl. u.a. VG Halle (Saale), U.v. 21.7.2021 - 2 A 230/20 HAL, 7676861; VG München, U. v. 25.5.2021 - M 15 K 18.32180, 6839071; VG Hamburg, U.v. 31.3.2021 - 19A 926/21, alle bei juris) verkennen diese Freiheit (so im Ergebnis auch VG Würzburg, U.v. 23.7.2021 - W 1 K 21.30218).
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Es ist auch nicht ersichtlich, dass hinsichtlich der Situation Homosexueller in Nigeria regionale Unterschiede bestehen, sodass ein interner Schutz nach § 3e AsylG ausscheidet. Die Gefahr von Misshandlungen und Übergriffen durch nichtstaatliche Akteure besteht landesweit.
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Weil dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen ist, war die Ziffer 1 des Bescheides aufzuheben, da sie dem entgegensteht. Dementsprechend waren auch die Ziffern 3 und 4 des Bescheides aufzuheben, da die Entscheidung über den subsidiären Schutzstatus sowie die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. S. 1 AufenthG nicht vorliegen, regelmäßig gegenstandslos werden, wenn die Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft Erfolg hat. Entsprechendes gilt für die Ausreiseaufforderung und Androhung der Abschiebung nach Nigeria (Ziffer 5) sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1
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AufenthG (Ziffer 6).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.