Titel:
Entziehung der Fahrerlaubnis wegen hohen Aggressionspotentials
Normenketten:
FeV § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 6
StVG § 2 Abs. 4
Leitsätze:
1. Nicht jede Straftat, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung steht und Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bietet, stellt zugleich eine erhebliche Straftat iSv § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 6 FeV dar. Einen Anhalt für aggressive Neigungen oder eine generell geringe Hemmschwelle gegenüber der körperlichen Integrität anderer bieten die Massivität der Gewaltanwendung oder die Gefahrgeneigtheit oder Verletzungseignung der Handlung. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es hat nicht außer Betracht zu bleiben, wie es zu der Tat gekommen ist, weil sich hieraus Rückschlüsse auf eine Wiederholungsgefahr ergeben können. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3. Auf die Rechtmäßigkeit der Anordnung, ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorzulegen, kommt es nicht an, wenn der Kraftfahrer das Gutachten vorgelegt hat. Das Ergebnis des Gutachtens schafft eine neue Tatsache, die selbständige Bedeutung hat. Ein Verbot, diese Tatsache für die Entscheidung über die Fahrerlaubnisentziehung zu verwerten, lässt sich aus der Fahrerlaubnis-Verordnung oder sonstigem innerstaatlichen Recht nicht ableiten. Einem Verwertungsverbot steht auch das Interesse der Allgemeinheit entgegen, vor Kraftfahrern geschützt zu werden, die sich aufgrund festgestellter Tatsachen als ungeeignet erwiesen haben. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
erhebliche Straftat im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung, hohes Aggressionspotential, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf, Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, vorgelegtes Gutachten, Fahrerlaubnisentziehung, erhebliche Straftat, medizinisch-psychologisches Gutachten, hohes Aggressionspotenzial, Verletzungseignung, Gefahrgeneigtheit, Wiederholungsgefahr
Fundstelle:
BeckRS 2022, 21105
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klasse 3 (ausgestellt am … 1985) durch das Landratsamt … (Landratsamt).
2
Laut Auszug aus dem seit dem 24. April 2017 rechtskräftigen Strafbefehl des Amtsgerichts … übersah der Kläger am 28. Dezember 2016 einen anderen vorfahrtsberechtigten Pkw, weshalb es zu einer Kollision der Fahrzeuge kam. Der Kläger wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung in 2 tateinheitlichen Fällen zu 70 Tagessätzen verurteilt (Az. …).
3
Der Kläger wurde durch Urteil des Amtsgerichts … vom 2. September 2020, im Schuldspruch nach Maßgabe des Landgerichts … rechtskräftig seit 13. März 2021 (… - …) wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt. Den Urteilsgründen ist zu entnehmen, dass sich der Kläger bei einer Verkehrskontrolle am 9. November 2019 geweigert habe, den Führerschein und Fahrzeugschein vorzulegen. Der Kläger musste unter Anwendung unmittelbaren Zwangs dazu gebracht werden, das Fahrzeug zu verlassen. Als ein Polizeibeamter dabei den Kopf des Klägers habe sichern wollen, habe der Kläger den Polizeibeamten in die rechte Hand gebissen. Auf spätere Nachfrage des Polizeibeamten nach ansteckenden Krankheiten habe der Kläger wahrheitswidrig angegeben, AIDS zu haben. In den Urteilsgründen ist ausgeführt: „Der Angeklagte hegt aus nicht näher bekannten Gründen einen Groll gegenüber der Polizei. Dies ist auch in der Videoaufzeichnung erkennbar, als der Angeklagte den beiden Polizeibeamten mitteilte, er habe ein Problem mit der Polizei. Die Handlungen des Angeklagten zielten alleine darauf ab, die Verkehrskontrolle aus Trotz zu sabotieren.“
4
Eine polizeiliche Erkenntnisanfrage erbrachte folgende Sachverhalte:
5
Der Kläger fiel am 2. März 2017 bei einer Verkehrskontrolle insofern auf, als er nach polizeilichen Angaben nicht mit der Polizeibeamtin habe sprechen wollen. Laut weiterer Mitteilung habe der Kläger am 18. August 2018 den Beamten bei einer Verkehrskontrolle zunächst angeschrien und dann gesagt, dass er die Polizei nicht akzeptiere. Polizei, Staat und Gesetze seien falsch. Als Reichsbürger bezeichne er sich aber nicht. Am 30. August 2018 habe der Kläger bei einer Verkehrskontrolle seine Personalien nicht nennen wollen. Er habe sich unkooperativ verhalten und sei keiner Aufforderung gefolgt. Er habe geäußert, dass die Polizei abgeschafft gehöre. Am 28. Dezember 2019 habe sich der Kläger bei einer Verkehrskontrolle aggressiv und uneinsichtig gezeigt.
6
Das Landratsamt forderte den Kläger mit Schreiben vom 23. Juni 2021 auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten einer Begutachtungsstelle für Kraftfahreignung vorzulegen zur Beantwortung der Frage:
„Ist trotz der aktenkundigen Straftaten im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung auf Grund von Anhaltspunkten für ein hohes Aggressionspotential zu erwarten, dass Herr … künftig nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen wird?“
7
Der Kläger legte das geforderte Gutachten der TÜV … vom 9. September 2021, das von einer Gutachterin für Verkehrsmedizin und einem Diplom-Psychologen erstellt wurde, vor.
8
Die behördliche Fragestellung werde so beantwortet, dass der Kläger künftig erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen werde. Es werde dem Kläger empfohlen, sich an einen auf dem Gebiet der Verkehrspsychologie ausgebildeten Therapeuten zu wenden. Es sei an eine intensive therapeutische Maßnahme mit nicht wenigen Terminen zu denken.
9
Im Gutachten wird ausgeführt, dass sich Hinweise auf psychische Störungen oder Erkrankungen fänden. Es bestünden Hinweise auf eine Dysthymie, d.h. auf eine depressiv-gereizte Grundhaltung in Kombination mit weiteren überdauernden psychischen Problemen und einer zusätzlichen Belastung durch bestimmte Lebens- und Arbeitssituationen. In der Begutachtungssituation selbst hätten sich Hinweise auf eine pathologisch ausgeprägte, paranoid getönte Misstrauenshaltung Institutionen gegenüber gezeigt mit Hinweisen auf eine mangelnde Fähigkeit einer realitätsgerechten Einschätzung. Hinweise auf eine organische Problematik hätten sich durch eingeschränkte kognitive Fähigkeiten in den Leistungstests ergeben. Ohne weitere Abklärung einer möglichen neuro-psychiatrischen fahreignungsrelevanten Erkrankung sei bereits aus medizinischer Sicht keine Fahreignung gegeben. Außerhalb der Fragestellung hätten sich zudem Hinweise auf einen Diabetes mellitus Typ II gezeigt. Bei der Prüfung der psycho-physischen Leistungsmöglichkeiten habe sich ergeben, dass die Leistungen nicht den Anforderungen genügen würden, die an eine sichere Verkehrsteilnahme zu stellen seien. Die in den Begutachtungsleitlinien geforderten Normwerte seien nicht erreicht worden. Unzureichende Ergebnisse seien im Reaktionsvermögen und Konzentrationsvermögen erzielt worden. Die deutliche Unterschreitung der Mindestanforderungen lasse keine hinreichende Kompensationsmöglichkeit erwarten. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit sei daher auf weitere Untersuchungsschritte (z.B. Fahrverhaltensbeobachtung) verzichtet worden. Auf Grund des Delikts in der Vergangenheit (das auf ein erhöhtes Aggressionspotential schließen lasse) und den aktenkundigen Verhaltensauffälligkeiten sei abzuklären gewesen, ob der Kläger sein Fehlverhalten habe erkennen und richtig bewerten können. Es müsse eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Problematik erfolgen, um ein ähnliches Verhalten in Zukunft auszuschließen. Laut den Begutachtungsleitlinien müssen Alternativen zu dem früheren Fehlverhalten aufgezeigt werden. In dem Untersuchungsgespräch habe der Kläger eine erhebliche Schuldabwehr an den Tag gelegt. Er neige in erheblichem Maße dazu, die Schuld an den Auffälligkeiten bei den Polizeibeamten zu suchen. Er fühle sich ungerecht behandelt; das rechtskräftige Urteil könne er nicht nachvollziehen. Es sei nicht auszuschließen, dass die Auffälligkeiten als Ausdruck einer generalisierten Störung der sozialen Anpassungsbereitschaft, der Impulssteuerung und/oder der emotionalen Ansprechbarkeit zu sehen seien (Beurteilungskriterien: Hypothese V1). Die Verhaltensauffälligkeiten seien offenbar wiederholt bewusst, intentional oder mit erhöhter Aggressionsbereitschaft begangen worden. Eigene Anteile an seinen Auffälligkeiten erkenne er nicht. Der Kläger habe sich nicht ausreichend selbstkritisch mit seinem Fehlverhalten auseinandergesetzt. Von einer erhöhten Rückfall- bzw. Wiederauffallenswahrscheinlichkeit sei auszugehen.
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Mit Schreiben vom 15. September 2021 hörte das Landratsamt den Kläger zur Entziehung der Fahrerlaubnis an.
11
Mit Bescheid vom 28. September 2021 (zugestellt am 2. Oktober 2021) entzog das Landratsamt dem Kläger die Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen (Nr. 1). Der Führerschein sei beim Landratsamt abzuliefern (Nr. 2). Die sofortige Vollziehung der Nrn. 1 und 2 wurde angeordnet (Nr. 3). Falls der Kläger der Verpflichtung aus Nr. 2 des Bescheids nicht innerhalb von 5 Tagen nach Zustellung des Bescheids nachkomme, werde die Polizei zur Einziehung des Führerscheins durch unmittelbaren Zwang angewiesen (Nr. 4). Für den Bescheid wurden eine Gebühr von 200 EUR festgesetzt und Auslagen in Höhe von 5,11 EUR veranschlagt. Im Bescheid wurden zunächst im Sachverhalt verschiedene Polizeianfragen und die rechtskräftigen Verurteilungen des Klägers aufgeführt. Nach § 2 Abs. 4 StVG sei ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wer Straftaten begangen habe, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr oder im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung stünden, wenn sie auf ein hohes Aggressionspotential schließen ließen. Auf Grund des fortgesetzten regelwidrigen Verhaltens des Klägers seien erhebliche Zweifel an der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen entstanden. Das Gutachten sei auf der Grundlage von § 11 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV verlangt worden. Der Kläger habe die Fahreignung verloren, da der Gutachter festgestellt habe, dass aufgrund der aktenkundigen Straftaten im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung aufgrund von Anhaltspunkten für ein hohes Aggressionspotential künftig wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen werde. Die Fahrerlaubnis müsse gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG entzogen werden, ein Raum für eine Ermessensausübung bestehe nicht.
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Der Kläger gab seinen Führerschein beim Landratsamt ab.
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Mit Schreiben vom 20. Oktober 2021, eingegangen beim Verwaltungsgericht Bayreuth am selben Tage, ließ der Kläger durch seinen Bevollmächtigten Klage erheben und beantragen,
den Bescheid des Landratsamts … vom 28. September 2021 aufzuheben.
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Zur Begründung der Klage ließ der Kläger mit Schreiben des Bevollmächtigten vom 30. November 2021 ausführen, dass der Kläger nicht charakterlich ungeeignet sei. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 4, § 3 Abs. 1 StVG lägen nicht vor. Nach § 2 Abs. 4 StVG müssten erhebliche Straftaten in Zusammenhang mit dem Straßenverkehr im Raum stehen oder eine erhebliche Tat, die Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotential biete oder unter Nutzung eines Fahrzeugs begangen worden sei. Die vom Kläger begangenen Straftaten stünden nicht in Zusammenhang mit dem Straßenverkehr. Ein erhebliches Aggressionspotential könne dem Kläger entgegen den Feststellungen im Sachverständigengutachten nicht unterstellt werden. Der Kläger habe den Polizeibeamten nur leicht verletzt. Er habe diese Verletzungshandlung erst begangen, nachdem ihm mit Pfefferspray begegnet worden sei. Bei den anderen Vorfällen habe der Kläger nur diskutiert.
15
Mit gerichtlichem Schreiben vom 27. Dezember 2021 wurden die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.
16
Der Kläger ließ durch seinen Bevollmächtigten mit Schreiben vom 24. Januar 2021 ausführen, dass bei der Ermessensentscheidung des Beklagten zu berücksichtigen sei, dass der Kläger dringend auf seine Fahrerlaubnis angewiesen sei. Seine Partnerin müsse viermal die Woche zu Gesundheitsanwendungen sowie mehrmals pro Monat zum Rheumatologen und Orthopäden gefahren werden. Auch der Kläger selbst müsse einmal wöchentlich zum Hausarzt und zweimal pro Monat zur diabetischen Überwachung, einmal monatlich zum Psychologen und zweimal die Woche zur Krankengymnastik. Der Kläger sei zudem Betreuer seiner Mutter, die in … lebe und bettlägerig sei. Der Kläger trinke keinen Alkohol, konsumiere keine Drogen und sei verkehrsrechtlich nicht aufgefallen. Er neige nicht zu Aggressionen.
17
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird gemäß § 84 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
18
I. Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, der als Urteil wirkt, entschieden werden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Halbsatz 1 VwGO). Die Beteiligten wurden gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid gehört.
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II. Die hinsichtlich der Anfechtung des Bescheids in Nrn. 1, 2 und 5 zulässige Anfechtungsklage hat in der Sache keinen Erfolg. Im Übrigen (Anfechtung der Nrn. 3 und 4 des Bescheids) ist die Klage bereits unzulässig.
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1. Nr. 3 des Bescheids stellt keinen Verwaltungsakt nach Art. 35 Satz 1 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG) dar, sondern ist eine verfahrensrechtliche Nebenentscheidung zum Hauptverwaltungsakt, die rechtliche Aussagen zum Zeitpunkt der Wirksamkeit des Verwaltungsaktes trifft. Rechtsschutz gegen die erfolgte Anordnung der sofortigen Vollziehung richtet sich daher ausschließlich nach § 80 Abs. 5 VwGO und ist nicht im Rahmen eines Klageverfahrens zu gewähren (vgl. hierzu Schmidt in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 14. Auflage 2014, § 80 Rn. 33 m.w.N; Schoch in Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, Stand: 36. EL Februar 2019, § 80 Rn. 199 m.w.N.).
21
Da der Kläger den Führerschein abgegeben hat, ist nicht davon auszugehen, dass das Landratsamt die Erfüllung dieser Verpflichtung weiterhin durch Zwangsmittel durchsetzen wird, so dass einer Anfechtungsklage gegen Nr. 4 des Bescheids das Rechtsschutzbedürfnis fehlt (VG Bayreuth, B.v. 12.7.2018 - B 1 S 18.564 - juris Rn. 21).
22
2. Die Entziehung der Fahrerlaubnis des Klägers (Nr. 1 des Bescheids des Landratsamts vom 28. September 2021) erweist sich als rechtmäßig, so dass die dagegen gerichtete Klage abzuweisen ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Gericht nimmt zunächst gemäß § 117 Abs. 5 VwGO Bezug auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids des Landratsamts und macht sich diese zu eigen. Ergänzend wird zur Sache und zum Klagevorbringen Folgendes ausgeführt:
23
Bei der gerichtlichen Prüfung fahrerlaubnisrechtlicher Entziehungsverfügungen ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung der handelnden Verwaltungsbehörde abzustellen (vgl. BayVGH, B.v. 21.10.2015 - 11 CS 15.2036 - juris Rn. 17 m.w.N.). Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) und § 46 Abs. 1 Satz 1 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Hierbei handelt es sich nicht um eine Ermessensentscheidung, weshalb die Angewiesenheit des Klägers auf die Fahrerlaubnis auf Grund der Wahrnehmung von Arztterminen oder Pflege der Mutter hier nicht entscheidungserheblich ist.
24
a) Charakterliche Eignungsmängel liegen nach § 2 Abs. 4 StVG vor, wenn erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen wurde. Der Begriff „erheblich“ ist nicht gleichzusetzen mit „schwerwiegend“ im Sinne einer strafrechtlichen Bewertung, er bezieht sich auf die Kraftfahreignung. Ungeschriebene tatbestandliche Voraussetzung für beide Alternativen ist ein für die Kraftfahreignung relevanter Bezug.
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Anhaltspunkte dafür, welche Straftaten sich negativ auf die Kraftfahreignung auswirken können, liefert § 11 Abs. 3 Satz 1 Nrn. 5 - 7 FeV (Siegmund in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. Stand: 1.12.2021, § 2 StVG Rn. 86). In Betracht kommt hier § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV. Abzustellen ist auf eine erhebliche Straftat, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung steht, insbesondere wenn Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bestehen oder die erhebliche Straftat unter Nutzung eines Fahrzeugs begangen wurde. In diesem Fall kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zur Klärung von Eignungszweifeln anordnen (§ 11 Abs. 3 Satz 1 FeV). Bei der ersten Alternative reicht das Vorliegen einer Straftat, die „erheblich“ sein muss und im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung steht. Der Bezug zur Kraftfahreignung setzt weder voraus, dass für die Bejahung des Begriffs „erhebliche Straftat“ ein Pkw als Mittel zur Straftat benutzt worden ist noch muss es sich um Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften handeln, die Verstöße müssen auch nicht im Straßenverkehr begangen worden sein. Ein Zusammenhang zwischen dem Begehen einer Straftat und einer mangelnden Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen liegt vor, wenn die Tat Rückschlüsse auf die charakterliche Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zulässt.
26
Die „Erheblichkeit“ im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV beurteilt sich nach den gleichen Kriterien wie der „Zusammenhang mit der Kraftfahreignung“, erfordert aber hier - auch im Unterschied zu § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV -, dass bereits die einzelne Straftat so massive Zweifel an der Fahreignung begründet, dass sie eine medizinisch-psychologische Untersuchung rechtfertigt. Festzustellen ist dies (gleichfalls) anhand der konkreten Umstände, die sich aus der Tat unter Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit ergeben, letztlich also von Fall zu Fall. Im Sinne eines - nicht abschließenden - Regelbeispiels erwähnt die Norm das Vorliegen von hohem Aggressionspotenzial. Nicht jede Straftat, die im Zusammenhang mit der Fahreignung steht und Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bietet, ist eine erhebliche Straftat im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV. Bei Aggression kann es sich im Einzelfall auch um ein isoliertes Fehlverhalten oder Augenblicksversagen handeln, was noch keine tragfähigen Rückschlüsse auf die Fahreignung zulässt. Anders liegt es jedoch, wenn die Tat auf eine Disposition, etwa in Form bestimmter Persönlichkeitsmerkmale oder verfestigter Einstellungen, hinweist. So können z.B. die Massivität der Gewaltanwendung und die Gefahrgeneigtheit sowie Verletzungseignung der Handlung einen Anhalt für aggressive Neigungen oder eine generell geringe Hemmschwelle gegenüber der körperlichen Integrität anderer bieten. Ein hohes Aggressionspotenzial kommt abstrakt betrachtet regelmäßig in solchen Straftaten zum Ausdruck, die sich durch Aggression gegen Personen oder Sachen ausdrücken (Siegmund in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl. Stand: 1.12.2021, § 11 FeV Rn. 100 ff.). In Betracht kommen insoweit typischerweise solche Straftaten, die sich durch Aggression gegen Personen oder Sachen ausdrücken, wie etwa Körperverletzung, Raub, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung, Nötigung und Sachbeschädigung (BayVGH, B.v. 9.3.2021 - 11 CS 20.2793 - juris Rn. 12).
27
Die Tat vom 9. November 2019 (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung) bot hinreichend konkrete Anhaltspunkte für eine erhebliche Straftat im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV. Das tatsächliche Vorliegen des erhöhten Aggressionspotenzials wurde sodann im Gutachten der TÜV … vom 9. September 2021 (insbesondere auf Seite 16) festgestellt.
28
Auf die Rechtmäßigkeit der Gutachtensanordnung selbst kommt es vorliegend nicht an, da der Kläger das Gutachten vorgelegt hat. Das Ergebnis des Gutachtens schafft eine neue Tatsache, die selbständige Bedeutung hat. Ein Verbot, diese Tatsache für die Entscheidung über die Fahrerlaubnisentziehung zu verwerten, lässt sich aus der Fahrerlaubnis-Verordnung oder sonstigem innerstaatlichen Recht nicht ableiten. Einem Verwertungsverbot steht auch das Interesse der Allgemeinheit entgegen, vor Kraftfahrern geschützt zu werden, die sich aufgrund festgestellter Tatsachen als ungeeignet erwiesen haben (BayVGH, B.v. 20.6.2018 - 11 CS 18.1027 - juris Rn. 9 unter Berufung auf BVerwG, U.v. 28.4.2010 - 3 C 2.10 - BVerwGE 137, 10, U.v. 28.6.2012 - 3 C 30.11 - BayVBl 2013, 408/410; BayVGH, B.v. 26.7.2017 - 11 ZB 17.1199 - juris Rn. 19; B.v. 3.3.2015 - 11 ZB 14.2418 - juris Rn. 18).
29
b) Das Vorliegen einer erheblichen Straftat im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 FeV ist zu bejahen. Der Kläger hat sich bei einer einfachen Verkehrskontrolle gegenüber Polizeibeamten aggressiv verhalten, einen Polizeibeamten in die Hand gebissen und behauptet, AIDS zu haben. Aus den weiteren vorgelegten Polizeimeldungen kann geschlossen werden, dass es sich hierbei um kein einmaliges Verhalten handelte, da der Kläger sich auch bei früheren Kontrollen verhaltensauffällig gezeigt hat. Er hat nach zahlreichen auffälligen Verkehrskontrollen sein Verhalten ohne nachvollziehbaren Grund bis hin zu der nunmehr begangenen Straftat gesteigert. Bei dem Verhalten handelte es sich somit nicht um ein isoliertes Fehlverhalten oder ein Augenblicksversagen. Nach der Rechtsprechung muss das Verhalten tragfähige Rückschlüsse darauf zulassen, dass der Betroffene allgemein bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen Interessen unterzuordnen. Dies ist anhand der konkreten Umstände, die sich aus der Tat unter Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit ergeben, festzustellen. Dabei kann auch nicht außer Betracht bleiben, wie es zu der Tat gekommen ist, weil sich hieraus Rückschlüsse auf eine Wiederholungsgefahr ergeben können (BayVGH, B.v. 9.3.2021 - 11 CS 20.2793 - juris Rn. 13).
30
In dem zugrundeliegenden strafrechtlichen Urteil (vom 2. September 2020 - …*) wurde ausgeführt, dass auf Grund der zu Beginn der Kontrolle aggressiven Stimmung des Klägers und der damit einhergehenden Befürchtung von Gewalttätigkeiten durch den Kläger selbst das Vorzeigen des Dienstausweises durch den Polizeibeamten eine Gefahr für diesen hätte darstellen können (da dies eine Ablenkung der Aufmerksamkeit bedeutet hätte). Weiter heißt es in den Urteilsgründen auf Seite 7: „Der Angeklagte gab in der Hauptverhandlung in Bezug auf sein Verhalten bei der Polizeikontrolle an, „es wird auch das nächste Mal wieder geben.“ Der Angeklagte hat, wie er in der Videoaufzeichnung selbst angab, „Probleme mit der Polizei“ an sich. Das unangemessene und aggressive Verhalten des Angeklagten bei der Polizeikontrolle lässt auf eine tief sitzende Abneigung gegen Polizeibeamte im Allgemeinen schließen. Auch in der Hauptverhandlung fiel der Angeklagte durch fehlende Einsicht für die Vorgehensweise der Strafprozessordnung und für die Sitzungsleitung durch den Vorsitzenden auf und bestätigte den bereits aus der Videoaufzeichnung gewonnenen Eindruck des Gerichts von der Persönlichkeit des Angeklagten und seine Einstellung gegenüber dem Staat und der Polizei.“
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Bei der Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit spielen auch die weiteren Verhaltensauffälligkeiten des Klägers - die allesamt mit Verkehrskontrollen im Zusammenhang stehen - eine Rolle. Hierbei fällt auf, dass er eine Abneigung gegen Polizeibeamte und seine diesbezügliche Aggressionsbereitschaft mehrfach zeigte (teilweise sogar mit Auswirkung auf den Straßenverkehr: So hat der Kläger sein Fahrzeug bei einer Verkehrskontrolle am 2. März 2017 nach Angaben der Polizei quer über die Straße geparkt. Erst nach weiterem Zureden fuhr der Kläger an die rechte Seite heran, um den anderen, bereits schon wartenden Verkehrsteilnehmern die Weiterfahrt zu ermöglichen). Bei einer Verkehrskontrolle am 30. August 2018 soll der Kläger nach Angaben der Polizei gesagt haben, dass die Straßenverkehrsordnung für ihn nicht gelte und die Gurtpflicht abgeschafft gehöre. Bei einer Kontrolle am 18. August 2018 habe er angegeben, sich an Gesetze zu halten, soweit es notwendig sei, er fühle sich jedoch nicht daran gebunden. Zwar ist dem Klägerbevollmächtigten zuzugeben, dass es sich bei all diesen Verhaltensweisen nicht um Straftaten gehandelt hat. Das Verhalten gibt aber Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Klägers wieder, was nach der Rechtsprechung mit einzubeziehen ist.
32
c) Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bestehen und der Kläger künftig erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen werde. Es entspricht den Anforderungen des § 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Anlage 4a zu FeV, ist schlüssig und nachvollziehbar und hat den Zusammenhang von Straftat, Kraftfahreignung und Wahrscheinlichkeit von aggressivem Verhalten im Straßenverkehr nachvollziehbar dargelegt.
33
aa) Die Ausführungen des Gutachtens zum Vorliegen des Aggressionspotenzials sind für das Gericht nachvollziehbar, auch wenn das Gutachten im Ergebnis auf Seite 19 von „aktenkundigen Straftaten“ im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr spricht. Insoweit ist zuzugeben, dass die für die Heranziehung des Gutachtens angenommene Rechtsgrundlage des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 FeV nicht anzuwenden ist, da die weitere vom Kläger begangen Straftat „nur“ eine fahrlässig begangene Körperverletzung (bei einem Verkehrsunfall) war, die im vorliegenden Kontext keinen Zusammenhang mit der Kraftfahreignung erkennen lässt. Da die Gutachter aber auf Seite 16 des Gutachtens auf Grund des einen Delikts (vom 9. November 2019 - Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) annahmen, dass dieses auf ein erhöhtes Aggressionspotenzial schließen lässt (Seite 16 des Gutachtens 4. Abschnitt) und im Gutachten die fahrlässige Körperverletzung vom 28. Dezember 2016 zwar berücksichtigt wurde (Seite 3 und Seite 12), das Aggressionspotenzial aber nicht auf Grund des Zusammentreffens der Delikte vom 28. Dezember 2016 und vom 9. November 2019, sondern vielmehr auf Grund des Delikts vom 9. November 2019 im Zusammenhang mit den aktenkundigen Verhaltensauffälligkeiten bejaht wurde, wurde das Vorliegen des hohen Aggressionspotenzials für das Gericht nachvollziehbar begründet.
34
bb) Das im Gutachten ausführlich wiedergegebene Gespräch mit dem Kläger lässt erkennen, dass eine grundlegende Aufarbeitung und Verhaltensänderung noch nicht stattgefunden hat. Nach Nr. 3.16 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 in der Fassung vom 28. Oktober 2019 (auf die sich das Gutachten stützt) wäre die Voraussetzung zum sicheren Führen von Kraftfahrzeugen erst wieder gegeben, wenn der Betroffene eine Veränderung aus seinem Problembewusstsein heraus vollzogen hat, generelle Fehleinstellungen oder Störungen, die eine soziale Einordnung verhindern, sich nicht mehr feststellen lassen und sich diese Voraussetzungen über einen gewissen Zeitraum (in der Regel ein Jahr) als stabil erwiesen haben. Der Kläger hat in dem Gespräch kein Problembewusstsein zum Sachverhalt des Strafurteils entwickelt, da er der Ansicht ist, das Urteil stimme nicht. Die Schuld für sein Verhalten liegt seiner Ansicht nach bei den Polizeibeamten (Verwendung eines Pfeffersprays), ohne zu reflektieren, warum diese eine solche Maßnahme anwenden mussten. Die Gutachter führen aus, dass die weiteren aktenkundigen Auffälligkeiten (mit der Polizei) als Ausdruck einer generalisierten Störung der sozialen Anpassungsbereitschaft, der Impulssteuerung und/oder der emotionalen Ansprechbarkeit zu sehen seien. Eigene Anteile an den Auffälligkeiten vermag er nicht zu erkennen (Ausführungen auf Seite 17 des Gutachtens).
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3. Die Anordnung zur Abgabe des Führerscheins hat sich nicht durch die zwischenzeitlich erfolgte Abgabe an das Landratsamt erledigt, sondern stellt eine Rechtsgrundlage für das Einbehalten des Dokuments dar (BayVGH, B.v. 6.10.2017 - 11 CS 17.953 - juris Rn. 9; B.v. 12.2.2014 - 11 CS 13.2281 - juris Rn. 22). Nachdem dem Kläger die Fahrerlaubnis zu Recht entzogen worden ist, ist die Abgabeverpflichtung als begleitende Anordnung geboten, um die Ablieferungspflicht nach § 47 Abs. 1 FeV durchzusetzen.
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4. Die Höhe der Gebühr von 200,00 EUR ist nicht zu beanstanden, da § 1 Abs. 1 der Gebührenordnung für Maßnahmen im Straßenverkehr (GebOSt) i.V. m. Nr. 206 der Anlage 1 zu § 1 GebOSt einen Gebührenrahmen von 33,20 EUR bis 256,00 EUR vorsehen, in dem sich die festgesetzte Gebühr bewegt. Die Auslagen in Höhe von 5,11 EUR für die Postzustellung durften richtigerweise nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 GebOSt erhoben werden.
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III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Als unterliegender Beteiligter hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO. Der Einräumung einer Abwendungsbefugnis bedurfte es angesichts der - wenn überhaupt anfallenden - jedenfalls geringen, vorläufig vollstreckbaren Aufwendungen des Beklagten nicht, zumal dieser auch die Rückzahlung garantieren kann, sollte in der Sache eine Entscheidung mit anderer Kostentragungspflicht ergehen.