Inhalt

LG Nürnberg-Fürth, Beschluss v. 18.02.2022 – 7 KLs 358 Js 22840/19
Titel:

Anwendung des Jahresfrist des § 154b Abs. 4 S. 2 iVm § 154 Abs. 4 StPO auf die Wiederaufnahme eingestellter Verfahren

Normenkette:
StPO § 154b Abs. 3, Abs. 4 S. 2
Leitsätze:
1. Auch für Wiederaufnahmen eines gem. § 154b Abs. 4 S. 1, S. 2 iVm § 154 Abs. 3–5 StPO eingestellten Strafverfahrens ist die Frist von einem Jahr für die Wiederaufnahme zu beachten. Dies ergibt sich bereits aus Wortlaut und Gesetzessystematik des § 154b Abs. 4 S. 2 StPO. (Rn. 7 – 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Diese Auslegung des Gesetzes ist unter Berücksichtigung auch des Beschleunigungsgebotes sowie der Verfahrensklarheit, der effektiven bzw. zeitnahen Strafverfolgung und mit Blick auf den Rechtsfrieden vorzugswürdig. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Wiederaufnahme, Jahresfrist, Ausweisungsfall, Rechtsfrieden
Rechtsmittelinstanz:
OLG Nürnberg, Beschluss vom 11.04.2022 – Ws 235/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 20867

Tenor

1. Der Antrag der Staatsanwaltschaft N.-Fü. vom 02.02.2022, gerichtet auf die Wiederaufnahme des Verfahrens, wird zurückgewiesen.
2. Der Angeklagte ist für erlittene Strafverfolgungsmaßnahmen nicht zu entschädigen.
3. Die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse. Der Angeklagte trägt seine notwendigen Auslagen.

Gründe

I.
(Verfahrensgang)
1
Die Staatsanwaltschaft N.-Fü. führte gegen den Angeklagten ein Ermittlungsverfahren u.a. wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Der Tatverdacht beruhte im Wesentlichen auf den Angaben des anderweitig Verfolgten AKINCI.
2
Unter dem 09.09.2020 (Bl. 242ff d.A.) erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zum Landgericht Nürnberg-Fürth. Mit Beschluss vom 21.10.2020 (Bl. 263f d.A.) wurde die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet.
3
Mit einem in der Hauptverhandlung am 14.01.2021 gefassten Beschluss (Bl. 321 d.A.) wurde das Verfahren vorläufig gemäß § 154b Abs. 4 Sätze 1, 2 i.V.m. § 154 Abs. 3 bis 5 StPO mit Blick auf die bevorstehende Entfernung des Angeklagten aus dem Bundesgebiet gemäß Bescheid der Stadt Fü. - Ausländeramt - vom 21.09.2020 im Verfahren zum dortigen Az. BA/Ausl/Fr (Bl. 223ff SH „Ausländerakte“) eingestellt. Eine Entscheidung über Kosten und Auslagen blieb dabei vorbehalten.
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Mit Verfügung vom 02.02.2022 (Bl. 396 d.A.) beantragte die Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme des Verfahrens, weil der Angeklagte seiner Ausweisung bislang keine Folge geleistet hat. Die Staatsanwaltschaft begründete den Wiederaufnahmeantrag mit weiterer Verfügung vom 09.02.2022, nachdem die Kammer darauf hingewiesen hatte, dass möglicherweise der Antrag zurückzuweisen sein wird.
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Auf den Inhalt der zitierten Schriftstücke wird vollumfänglich Bezug genommen.
II.
(Wiederaufnahme)
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Eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens kommt aufgrund des Ablaufs der Frist des § 154b Abs. 4 Satz 2 StPO nicht mehr in Betracht.
7
Mit der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30.11.1989 - Az. 3 Ws 873/89, MDR 1990, S. 568; Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung/Gieg, 8. Auflage 2019 [KKStPO], § 154b Rz. 8; Löwe-Rosenberg/Mavany, StPO, 27. Auflage 2020 [LR-StPO], § 154b Rz. 17; BeckOK-StPO/, 42. Edition, § 154b Rn. 7; KMR-StPO/Kulhanek, § 154b Rz.11; aA Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt Strafprozessordnung, 65. Auflage 2022, § 154b Rn. 4 [MG-StPO]; Münchener Kommentar StPO, 1. Aufl. 2016 [MüKo-StPO], § 154b Rn. 27) ist die Kammer der Auffassung, dass auch für die vorliegend von der Staatsanwaltschaft beantragte Wiederaufnahme des gemäß § 154b Abs. 4 Sätze 1, 2 i.V.m. § 154 Abs. 3 bis 5 StPO eingestellten Strafverfahrens eine Frist von einem Jahr für die Wiederaufnahme zu beachten gewesen wäre:
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Bereits vom Wortlaut und der Gesetzessystematik her bezieht sich § 154b Abs. 4 Satz 2 StPO auf den vorangehenden Satz 1, d.h. auf die gerichtliche Einstellung (vgl. hierzu BeckOK-StPO, 42. Edition, § 154b Rn. 8; KMR-StPO/Kulhanek, § 154b Rz.11).
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Für die Ausweisungsfälle nach Absatz 3 passen zwar weder § 154 Abs. 3 noch Absatz 4, da hier die Einstellung nicht mit Rücksicht auf ein Urteil erfolgt, das in Wegfall geraten oder rechtskräftig werden könnte. Hieraus kann aber nicht gefolgert werden, dass in den Fällen des § 154b Abs. 3 StPO eine Wiederaufnahme möglich bleibt, solange die Tat noch verfolgbar - also insbesondere nicht verjährt - ist (so auch LR-StPO/Mavany, § 154b Rz. 18). Denn Anlass für das Absehen von weiterer Verfolgung ist in den Fällen des Absatz 3 die Erwartung, dass sich der Beschuldigte bzw. Angeklagte künftig nicht (mehr) im Bundesgebiet aufhalten wird bzw. aufhalten darf und gerade dies der Erwartung des § 154 entspricht, dass der Beschuldigte bzw. Angeklagte wegen einer anderen Tat verurteilt wird ist (so auch LRStPO/Mavany, § 154b Rz. 18). Weiterhin steht die Ausweisung der Erteilung einer neuen Aufenthaltserlaubnis nicht in jedem Fall entgegen (so auch LRStPO/Mavany, § 154b Rz. 18). Im Übrigen gilt § 154 Abs. 3 bis 5 lediglich entsprechend.
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Daher erscheint unter Berücksichtigung auch des Beschleunigungsgebotes sowie der Verfahrensklarheit (so auch LRStPO/Mavany, § 154b Rz. 18), der effektiven bzw. zeitnahen Strafverfolgung (so auch KMR-StPO/Kulhanek, § 154b Rz. 11) und mit Blick auf den Rechtsfrieden die von der Kammer präferierte Auslegung vorzugswürdig. Auf die Fälle des § 154b Abs. 3 StPO ist die Jahresfrist des § 154 Abs. 4 i.V.m. § 154b Abs. 4 Satz 2 anzuwenden. Dies hatte die Kammer im Übrigen bereits mit der Zitierung der entsprechenden Vorschriften im Einstellungsbeschluss kenntlich gemacht.
III.
(Keine Entschädigung)
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Eine Entschädigung des Angeklagten für die erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 bis 4 StrEG erfolgt nicht, da die Voraussetzungen des § 3 StrEG nicht vorliegen.
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Da es sich bei der Einstellung nach § 154b StPO um eine Ermessensentscheidung handelt, ist § 3 StrEG die einschlägige Vorschrift (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30.11.1989 - Az. 3 Ws 873/89, MDR 1990, S. 568; MüKo-StPO/Kunz, StrEG § 3 Rn. 22). Die Billigkeitsentscheidung nach § 3 StrEG ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme und setzt voraus, dass sich die Fallkonstellation von anderen auffallend abhebt (MG-StPO/Schmitt, aaO, § 3 StrEG Rn. 2). Es müssen besondere Billigkeitsgründe vorliegen, die eine Entschädigung angebracht erscheinen lassen (MüKo-StPO/Kunz, StrEG § 3 Rn. 29). Bei der erforderlichen Abwägung sind alle festgestellten Tatsachen zu berücksichtigen: die Tatumstände, aber u.a. auch die Interessenlage des Beschuldigten. Erheblicher Tatverdacht, ein langer Zeitraum umfassende Tatbeiträge und durch das Handeln drohender erheblicher Gesundheitsschäden für eine Vielzahl von Menschen und die hierdurch drohende finanzielle Belastung der Allgemeinheit gebieten es nicht, den Staat zu einer Billigkeitsentscheidung zu verpflichten (MüKo-StPO/Kunz, StrEG § 3 Rn. 29 m.w.N.). Gemessen hieran ist dies vorliegend nicht der Fall:
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Die Kammer berücksichtigte zunächst, dass mit Beschluss vom 21.10.2020 das Hauptverfahren eröffnet wurde, mithin ein hinreichender Tatverdacht bestand, der sich u.a. aus den Angaben des anderweitig Verurteilten AKINCI ergab. Dieser hatte in anderen Fällen, zu denen er Angaben nach § 31 BtMG gemacht und auch bereits vor der Kammer als Zeuge ausgesagt hatte, Bestätigung erfahren durch die Geständnisse der von ihm belasteten anderweitig Verfolgten.
14
Ferner sah die Kammer das Ergebnis der Durchsuchung betreffend den Angeklagten vom 27.11.2019. Diese führte zum Auffinden der sichergestellten Mengen an Betäubungsmitteln, die vermutlich zum Eigenkonsum bestimmt waren.
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Weiter sah die Kammer, dass die Einstellung des Verfahrens gemäß § 154b StPO bereits am ersten Hauptverhandlungstag erfolgte, mithin vor Einlassung des Angeklagten zur Sache und Eintritt in die Beweisaufnahme (Bl. 320f d.A.).
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Ferner nahm die Kammer in den Blick, dass der Haftbefehl gegen den Angeklagten bereits am Tag der vorläufigen Festnahme gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt wurde und sodann am 21.07.2020 aufgehoben wurde, ohne dass der Angeklagte einen Tag in Untersuchungshaft verbringen musste. Hinzu kam, dass dem Angeklagten Taten nach dem BtMG vorgeworfen wurden, u.a. unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen und unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, wobei diese Taten regelmäßig mit einer Gefährdung der Abnehmer einhergehen. Die Einstellung erfolgte zudem wegen der vorliegend vollziehbaren Ausweisung und lag auch im Interesse des Angeklagten, da somit eine mögliche weitere Verurteilung einer späteren Wiedereinreise nicht im Wege stehen würde.
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Nach alldem war zur Überzeugung der Kammer eine Billigkeitsentscheidung zugunsten des Angeklagten betreffend erlittene Strafverfolgungsmaßnahmen nicht zu treffen.
(Kosten-/Auslagenentscheidung)
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Nachdem sich die Kammer im Beschluss vom 14.01.2021 (Bl. 321 d.A.) eine Entscheidung über Kosten und Auslagen vorbehalten hat, war diese nunmehr zu treffen:
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1. Der Ausspruch zu den Kosten beruht auf § 467 Abs. 1 StPO, nachdem das Strafverfahren - nunmehr endgültig - eingestellt bleibt. Auch die Verfahrenseinstellung gemäß § 154b Abs. 4 Sätze 1, 2 i.V.m. § 154 Abs. 3 bis 5 StPO fällt unter § 467 Abs. 1 StPO (KMR-StPO/Bader, § 467 Rn. 6/§ 464 Rn. 12).
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2. Die Entscheidung zu den Auslagen des Angeklagten beruht - abweichend von § 467 Abs. 1 StPO - auf § 467 Abs. 4 StPO, der auch auf die Einstellung gemäß § 154b Abs. 4 StPO Anwendung findet (KMR-StPO/Bader, § 467 Rn. 28 m.w.N.). Hierbei berücksichtigte die Kammer
- die Stärke des Tatverdachts (MG-StPO/Schmitt, § 467 Rn. 19; KK-StPO/Gieg, § 467 Rn. 11; KMRStPO/Bader, § 467 Rn. 31 m.w.N), welche zum Erlass des Eröffnungsbeschlusses vom 21.10.2020 geführt hat;
- die Art des vorgeworfenen Delikts (u.a. unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge);
- den Zeitpunkt des Erlasses des Ausweisungsbescheids nach Anklageerhebung;
- den Zeitpunkt der Vollziehbarkeit der Ausweisung;
- den Zeitpunkt der Einstellung aus Ermessensgründen, wobei die Kammer auch in den Blick nahm, dass eine frühzeitigere Einstellung des Verfahrens gemäß § 154b StPO - z.B. schon im Ermittlungsverfahren - nicht möglich gewesen wäre;
- der Verteidiger erst mit Entscheidung vom 14.07.2020 (Bl. 206 d.A.) und somit erst nach Haftantritt in anderer Sache als Pflichtverteidiger bestellt wurde.
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Nach alledem erschien es der Kammer nach umfassender Abwägung der genannten Punkte angezeigt, die notwendigen Auslagen des Angeklagten nicht der Staatskasse aufzuerlegen.