Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 31.05.2022 – Au 1 K 21.1123
Titel:

Verpflichtung zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen

Normenketten:
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 25 Abs. 3, Abs. 5 S. 2, § 60 Abs. 5, Abs. 7, Abs. 8, § 72 Abs. 2
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1, § 154 Abs. 1, § 167
AsylG § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, S. 2, § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, S. 2, § 24 Abs. 3 Nr. 2b, § 73c
StPO § 170 Abs. 2
StGB § 129a, § 129b S. 2 Var. 4, § 267
ZPO §§ 708 ff.
Leitsätze:
1. Aufgrund des Grundsatzes der Einheit der Rechtsordnung würde es einen erheblichen Wertungswiderspruch darstellen, wenn einerseits eine Verfahrenseinstellung mangels hinreichenden Tatverdachts erfolgt ist, andererseits jedoch schwerwiegende Gründe iSd § 25 Abs. 3 S. 3 AufenthG bejaht würden, denn die Bedeutung der erfolgten Verfahrenseinstellung nach § 170 Abs. 2 StPO würde in erheblicher Weise entwertet werden (vgl. VG Freiburg BeckRS 2021, 19972). (Rn. 85) (redaktioneller Leitsatz)
2. Aufgrund von § 5 Abs. 3 S. 1 AufenthG ist in den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 3 S. 1 AufenthG von der Anwendung der Absätze 1 und 2 (zwingend) abzusehen; der Beklagten steht insoweit kein Ermessen zu. (Rn. 102) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erfolgreiche Verpflichtungsklage in Bezug auf eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Vorliegen schwerwiegender Gründe im Sinne des § 25 Abs. 3 Satz 3 AufenthG (hier verneint), Anklageschrift aus der Türkei wegen des Vorwurfs eines versuchten Nagelbombenanschlags, Verneinung eines Anfangsverdachts hinsichtlich eines Organisationsdelikts durch die (deutsche) Generalbundesanwaltschaft, Einstellungsverfügung der (deutschen) Staatsanwaltschaft gemäß § 170 Abs. 2 StPO aus tatsächlichen Gründen, Aufenthaltserlaubnis, humanitäre Gründen, subsidiärer Schutz, Einheit der Rechtsordnung, hinreichender Tatverdacht, Einstellung, Sicherung des Lebensunterhalts, Nagelbombenanschlag, Anklage in der Türkei
Vorinstanzen:
VGH München, Beschluss vom 21.12.2018 – 9 ZB 16.30193
VG Augsburg, Entscheidung vom 09.05.2016 – Au 6 K 15.30669
Fundstelle:
BeckRS 2022, 20839

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger unter Aufhebung des Bescheids vom 30. März 2021 eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. 
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
2
Der am ... 1990 in …Türkei geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger.
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Er reiste am 2. August 2011 mit einem gefälschten türkischen Reisepass und einem ebenfalls gefälschten Visum in die Bundesrepublik Deutschland ein.
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Gegen den Kläger liegt eine Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft der Türkei vom 10. Oktober 2011 vor. Darin werden ihm und seinem Vater die Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung, versuchte vorsätzliche Tötung, unerlaubter Besitz gefährlicher Stoffe und die Gefährdung der Einheit des Staates und der territorialen Integrität des Landes vorgeworfen.
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In der Anklageschrift bzw. den sonstigen Verfahrensunterlagen aus der Türkei wird ausgeführt, am 27. Februar 2011 sei an einem (näher bezeichneten) Ort in der Türkei eine Vorrichtung einer Nagelbombe mit Druckwirkung sichergestellt worden, welche mittels eines Mobiltelefons fernzündbar gewesen sei.
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Der Kläger sei durch einen Zeugen als der Käufer des Mobiltelefons identifiziert worden, das als Bestandteil der Zündvorrichtung am Sprengsatz installiert gewesen sei.
7
Bezüglich des weiteren Mobiltelefons, vom welchem die Kurznachricht an den Sprengsatz gesendet worden sei, stehe jedenfalls im Raum, dass es der Vater des Klägers beschafft habe. Ebenso seien die beiden SIM-Karten der Mobiltelefone vom Vater des Klägers erworben worden. Dieser habe sich im Februar 2011 im Irak aufgehalten. Entsprechend den Ausführungen auf Blatt 79/89 der Verfahrensakte aus der Türkei seien die beiden SIM-Karten zwar an einen nicht vollständig namentlich bekannten irakischen Staatsangehörigen verkauft worden. Allerdings lägen Ein- und Ausreisedaten des Vaters des Klägers im vorgenannten Zeitraum vor, welche einen Erwerb der SIM-Karten durch den Vater des Klägers belegen würden.
Ebenfalls habe eine Durchsuchung des Ladengeschäfts, welches der Kläger mit seinem Vater betrieben habe, zum Auffinden weiterer Beweismittel geführt.
So seien dort zahlreiche Gegenstände bzw. Werkzeuge gefunden worden, welche mit den im Sprengsatz verbaut gewesenen Teilen übereinstimmen würden bzw. bei der Herstellung des Sprengsatzes zum Einsatz gekommen seien.
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Ferner seien dort an versteckter Stelle 58 Notizblätter sichergestellt worden, welche Listen mit Bedarfsgegenständen darstellen würden, die zum einen üblicherweise nicht gemeinsam verkauft würden, zum anderen typisch für die ... seien. Die auf den Notizblättern aufgelisteten Gegenstände würden exakt denjenigen Materialien, welche im Rahmen einer bewaffneten Auseinandersetzung mit Mitgliedern der ... vom 2. Dezember 2010 zurückgelassen worden seien, entsprechen. Im Einzelnen seien auf den Notizblättern Reinigungs- und Nahrungsmittel, Hilfsmittel für Unterkunft und Übernachtung sowie Kommunikationsmittel erwähnt. Einige der Teillisten würden Preis-, Stückzahl und Datumsangaben erwähnen. In der Verfahrensakte aus der Türkei wird näher konkretisierend ausgeführt, dass es sich bei den auf den Notizblättern erwähnten Gegenständen u.a. um Tabak, Hausschuhe, Taschenlampen, T-Shirts, mehrere Schachteln Batterien, Schlafsäcke, Hausschuhe, eine Uhr, Tabakdosen, eine Speicherkarte, ein Zelt, Utensilien zum Regenschutz sowie um Medikamente gehandelt habe, nach den Ausführungen in der Anklageschrift ferner um Fluss-Schlauchboote.
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Insgesamt würden die Beweismittel belegen, dass der Kläger und sein Vater für die ... Gegenstände des Alltagsbedarfs wie Nahrungsmittel, Bekleidung sowie Hilfsmittel für Unterkunft und Übernachtung beschafft hätten. Der Vater des Klägers habe im Irak die SIM-Karten für die Bombe sowie die Einzelteile zur Herstellung der Bombe beschafft und sie zu seinem Betrieb (Ladengeschäft) verbracht. Der Kläger habe das auf dem Sprengsatz verbaut gewesene Telefon besorgt. Angesichts der Tatsache, welcher Art die in dem Betrieb (Ladengeschäft) sichergestellten Materialien seien, müsse davon ausgegangen werden, dass die Bombe in dem vom Kläger und seinem Vater geführten Ladengeschäft zusammengebaut worden sei. Ebenso müsse angenommen werden, dass der Kläger sowie sein Vater die Bombe im Bereich der Nachhilfeschule abgelegt hätten. Nachdem die Bombe dort abgelegt worden sei, sei versucht worden, diese mittels einer Kurznachricht zu aktivieren. Jedoch sei der Sprengsatz nicht detoniert und später von Einsatzkräften entschärft worden.
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Aus der Akte ergeben sich keine Hinweise darauf, dass Fingerabdrücke bzw. sonstige Spuren des Klägers an der Sprengvorrichtung festgestellt worden seien (vgl. Bl. 44/1 der Verfahrensakte aus der Türkei). Ebenso sind keine den Kläger belastenden Videoaufzeichnungen in der Akte.
11
Die Akte enthält ferner eine Einlassung des Vaters des Klägers (vgl. Bl. 79/2 der Verfahrensakte aus der Türkei), nach welcher dieser momentan nur für Taten vor Gericht stehe, die sein Sohn verübt habe oder verübt haben könne.
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Das gegen den Kläger in der Türkei geführte Strafverfahren ist nach Aktenlage noch bei dem 7. Gericht für schwere Straftaten in der Türkei anhängig. Eine Einstellung des Verfahrens bzw. eine Verurteilung sind nach Aktenlage bisher nicht erfolgt. Nach Aktenlage wurde - aus in der Akte näher ersichtlichen Gründen - der vorläufige Auslieferungshaftbefehl aufgehoben und der Kläger entlassen.
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Der Vater des Klägers wurde mit Urteil vom 20. März 2013 von der 7. Großen Strafkammer in Diyarbakir/Türkei zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt. Er wurde schuldig gesprochen der wissentlichen und willentlichen Beihilfe zu den Straftaten einer kriminellen Vereinigung (ohne in deren hierarchische Strukturen eingebunden zu sein), der versuchten Tötung, des unerlaubten Besitzes gefährlicher Stoffe sowie der Gefährdung der Einheit des Staates und der territorialen Integrität des Landes. In den Urteilsgründen wird u.a. ausgeführt, dass für den Verdacht, dass der Vater des Klägers auch derjenige gewesen sein könnte, der die Bombe gebaut, sie zusammen mit dem Mobiltelefon vervollständigt und sie (an dem in der Akte näher bezeichneten Ort) abgelegt habe, kein Beweis vorliege. Die SIM-Karte und das Telefon, die in dem Sprengsatz sichergestellt worden seien, hätten vielmehr dem Kläger gehört. Das Urteil enthält ferner die im Ermittlungsverfahren getroffene Feststellung, dass sich der Vater des Klägers am 25. Februar 2011 am selben Ort wie sein Sohn (der Kläger) befunden habe.
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Im Rahmen des gegen den Vater des Klägers geführten Strafverfahrens hatte sich dieser am 7. April 2011 dahingehend eingelassen, dass das vorgenannte Ladengeschäft aufgrund gesundheitlicher Probleme des Vaters des Klägers seit ca. zweieinhalb Jahren vom Kläger betrieben werde. Der Vater des Klägers befinde sich (zum Zeitpunkt seiner Einlassung gegenüber der Polizei) aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme nur ein- bis zweimal in der Woche im Ladengeschäft. Die im Ladengeschäft vorgefundenen Nägel seien (nach Angaben des Vaters des Klägers) für das Zusammenbauen von Zelten und Befestigen von Planen vorgesehen.
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Ferner ist der Kläger in Deutschland wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten:
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Im Jahr 2011 wurde er vom Amtsgericht München wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit Verschaffen von falschen amtlichen Ausweisen zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Hintergrund der Verurteilung war die Einreise des Klägers am 2. August 2011 mit einem totalgefälschten türkischen Reisepass einschließlich eines totalgefälschten türkischen Visums.
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Des Weiteren wurde gegen den Kläger im Jahr 2012 in Deutschland ein Ermittlungsverfahren wegen eines Verstoßes gegen das Vereinigungsverbot (§ 85 StGB) geführt. Der ganze Wohn-/Schlafraum in der Asylbewerberunterkunft war entsprechend einem Schlussvermerk der Kriminalpolizeiinspektion Augsburg optisch durchgängig mit *- und Öcalan-Devotionalien ausgestaltet (besonders auffällig im persönlichen Bereich des Klägers). Strafbare Kennzeichen/Symbole waren nach Ansicht der Polizei nicht vorhanden. Eine Nähe und Verbundenheit des Klägers zur ... habe sich (entsprechend dem Schlussvermerk der Kriminalpolizeiinspektion Augsburg) förmlich aufgedrängt. Schriftstücke oder sonstige Unterlagen seien nicht festgestellt worden. Der optische Eindruck habe (entsprechend dem vorgenannten Schlussvermerk) jedoch den Verdacht begründet, dass der Kläger in Deutschland als Asylbewerber eine aktive Rolle im Zusammenhang mit der ... haben könnte. Eine Auswertung des Mobiltelefons habe keinen Bezug zu den Verdachtsmomenten ergeben, die darauf befindlichen SMS hätten keinerlei politisch motivierten Inhalt gehabt. Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom 12. Juli 2012 wurde das vorgenannte Ermittlungsverfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.
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Am 22. August 2011 stellte der Kläger beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Asylantrag. Im Rahmen der Anhörung erklärte er, dass er in der Türkei ein Ladengeschäft besessen habe. Manchmal hätte ihm beim Betrieb des Ladens sein Vater geholfen. Im Ladensortiment hätten sich verschiedenste Artikel befunden (u.a. Bekleidung, Lebensmittel). Eines Tages seien zwei Personen in das Ladengeschäft gekommen, die der Kläger nicht gekannt habe. Sie hätten sich als Bauarbeiter ausgegeben und verschiedene Sachen (Kleidung, Schuhe, Tee, Tabak) kaufen wollen und auch gekauft. Die beiden Personen hätten angegeben, sie würden die Gegenstände für die Baustelle brauchen. Der Kläger habe die von den zwei Personen gekauften Sachen auf einer Liste vermerkt, die er an diese ausgehändigt habe. Eine Kopie der Liste habe er selbst behalten. Da er an diesem Tag nichts in die Kasse habe eintippen können, sei die Erstellung der Liste handschriftlich erfolgt. Einen Monat später sei es - wie der Kläger sinngemäß anmerkte - zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung gekommen. In diesem Rahmen sei die vom Kläger erstellte (Original-)Liste gefunden worden, ebenso wohl die Kopie derselben im Haus des Klägers. Der Vater des Klägers sei verhaftet worden, nach dem Kläger sei gesucht worden. Im Rahmen der Anhörung legte der Kläger die vorgenannte Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft der Türkei vor. Der Kläger gab an, nichts mit den Vorwürfen zu tun zu haben. Er merkte jedoch an, aufgrund des gegenüber ihm erhobenen Vorwurfs, die ... durch Lebensmittel unterstützt zu haben, in der Türkei gesucht zu werden.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 20. Oktober 2015 wurden die Anträge des Klägers auf Asylanerkennung und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt. Allerdings wurde festgestellt, dass hinsichtlich des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt. In der Begründung des Bescheids wurde hinsichtlich der Ablehnung der Anträge auf Asylanerkennung und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeführt, der Ausschlusstatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 AsylVfG sei beim Kläger gegeben. Der Ausschlusstatbestand sei erfüllt, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt sei, dass der Ausländer vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat begangen habe, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt worden seien. Die Ausschlussgründe würden nicht nur für Täter, sondern auch für sonstige Beteiligte entsprechender Straftaten gelten. Die Regelung des § 3 Abs. 2 AsylVfG sei zwingender Natur, für eine restriktive Auslegung sei damit kein Raum. Die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Satz 2 AsylVfG seien beim Kläger gegeben, da ihm in der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft der Türkei zahlreiche schwerwiegende Delikte zum Vorwurf gemacht würden. Das gegen den Kläger anhängige Strafverfahren habe - aufgrund seiner Abwesenheit - bislang nicht abgeschlossen werden können. Eine rechtskräftige Verurteilung liege somit nicht vor, ebenso bestreite der Kläger jegliche Tatbeteiligungen. Dennoch sei aufgrund des vorliegenden Sachverhalts und der sich hieraus ergebenden Indizien aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt, dass der Kläger die ihm vorgeworfenen Taten wirklich begangen habe. Beim Kläger sei eine nichtpolitische Straftat gegeben.
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Der Antrag auf Zuerkennung subsidiären Schutzes wurde abgelehnt, da beim Kläger ein Ausschlussgrund nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 AsylVfG vorliege.
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Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht Augsburg Klage (Au 6 K 15.30669), welche durch Urteil vom 9. Mai 2016 abgewiesen wurde. In den Urteilsgründen wird ausgeführt, ein Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung sei aufgrund der Regelung des § 3 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. Satz 2 AsylG ausgeschlossen. Im Falle des Klägers sei - aufgrund der gegebenen Einzelfallumstände und unter Berücksichtigung eines abgesenkten Beweismaßes - aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt, dass er an der vorgenannten schweren nichtpolitischen Straftat zumindest „in sonstiger Weise“ gemäß § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG beteiligt gewesen sei. Obwohl der Kläger eine bewusste Tatbeteiligung an dem Anschlag bestreite, legten die Unterlagen aber nachvollziehbar einen Tatverdacht hinsichtlich des Klägers dar. Der Kläger habe eingeräumt, Kunden eine handschriftliche Liste gekaufter Waren erstellt zu haben. Während er gegenüber dem Bundesamt angegeben habe, die Kunden hätten sich als Bauarbeiter ausgegeben, habe er im Rahmen der mündlichen Verhandlung im Verfahren Au 6 K 15.30669 ausgeführt, er frage seine Kunden nicht, „wo sie herkämen“. Die Angaben des Klägers, weshalb er die Liste erstellt habe, seien ebenfalls nicht widerspruchsfrei. Insbesondere habe er in der mündlichen Verhandlung angegeben, er habe diese erstellt, weil nicht alle Waren vorrätig gewesen seien. Auf diese Liste stütze sich unter anderem der konkrete Tatverdacht hinsichtlich des Klägers. Dem sei der Kläger nicht substantiiert entgegengetreten. Vielmehr bestreite er schlicht, von dem Block Kenntnis gehabt zu haben, obwohl er nach eigenen Angaben das Ladengeschäft aufgrund der häufigen Erkrankungen seines Vaters selbst geführt habe. Ferner sei davon auszugehen, dass der Kläger Kenntnis von der Auseinandersetzung gehabt habe, bei welcher die Liste sichergestellt worden sei; hierauf deuteten seine Angaben beim Bundesamt hin. Der Tatverdacht, der Kläger habe das auf der Bombenvorrichtung befindliche Telefon organisiert, basiere nach Aktenlage auf einer Aussage eines namentlich benannten Zeugen. Auch dies sei - wie in den Urteilsgründen sinngemäß ausgeführt wird - ein klares Indiz dafür, dass der Kläger die Tat begangen habe. Im Übrigen habe er hinsichtlich des Geschäfts, in welchem er sein Handy gekauft habe, in der mündlichen Verhandlung eher ausweichend geantwortet. Er gab an, der Zeuge, welcher den Kläger beim Kauf des Handys identifiziert habe, habe zwar einen Handyladen; in der Straße gebe es jedoch viele Handygeschäfte. Der Vortrag des Klägers, nicht zu wissen, wo er sein Handy gekauft habe, überzeuge (im Verfahren Au 6 K 15.30669) nicht. Anhaltspunkte gegen die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage seien jedoch weder vorgetragen noch ersichtlich.
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Entsprechend den Urteilsgründe sei die Gewährung subsidiären Schutzes durch die Regelung des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Satz 2 AsylG ausgeschlossen.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 21. Dezember 2018 abgelehnt (Verfahren 9 ZB 16.30193).
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In der Antragsschrift auf Zulassung der Berufung wurde u.a. ausgeführt, dass jedenfalls nicht die Feststellung getroffen werden könne, dass der Kläger das (in der Bombe verbaut gewesene) Telefon in Kenntnis des Verwendungszwecks erworben habe. Denkbar erscheine, dass er das Telefon gekauft habe, um es weiterzuverkaufen. Möglich sei ferner, dass er lediglich als Bote das Telefon erworben habe; immerhin habe er den Laden mit seinem Vater und seinem Onkel gemeinsam betrieben. Ebenso sei denkbar, dass der Kläger das Telefon für seinen Vater ohne Kenntnis der Hintergründe erworben habe und dass er, um seinen Vater nicht zu belasten, insoweit keine Aussage mache. Insgesamt liege kein schwerwiegendes Indiz für die Annahme, dass der Kläger an der Anschlagsplanung und -vorbereitung beteiligt gewesen sei, vor.
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Im Übrigen gebe es keinerlei weitere Indizien für eine Beteiligung des Klägers an dem Bombenanschlag. Dass in dem Laden „verdächtige“ Gegenstände gefunden worden seien, führe nicht zwingend zur Mitwisserschaft des Klägers. Schließlich sei der Laden nach den Aussagen des Klägers von ihm gemeinsam mit seinem Vater, nach der Anklageschrift vom Vater allein, betrieben worden. Die im Laden vorgefundenen Gegenstände (Lötdraht, Glühbirnen, Kupferdraht etc.) seien in der ländlichen Türkei übliche und allgemein vorrätige Materialien, die nicht zwingend auf einen (durch den Kläger erfolgten) Bombenbau hindeuteten. Gleiches gelte für die 6 cm langen Nägel, die ähnlich (aber nicht identisch) mit denen in der Bombe gewesen seien. Dass ein Heftblock mit der Handschrift des Vaters, der möglicherweise Bestellungen der ... enthalten habe, im Laden gewesen sei, sei allenfalls ein Indiz für eine Unterstützung der Guerilla durch den Vater des Klägers. Dass der Kläger diesen Heftblock gesehen haben müsse, sei (aus Sicht der Klägerseite) eine Unterstellung, die gegen die Unschuldsvermutung verstoße. Dass der Kläger selbst angegeben habe, bei den getöteten Guerillas sei eine von ihm gefertigte Bestellliste gefunden worden, belege zunächst nur, dass der Kläger Geschäfte gemacht habe, möglicherweise auch, dass er die ... damit unterstützt habe. Die gegen den Kläger vorliegenden Indizien seien nicht in dem Maße schlüssig, dass aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt sei, dass der Kläger im strafrechtlichen Sinne in sonstiger Weise an dem Mordversuch beteiligt gewesen sei. Seitens des Klägerbevollmächtigten werde befürchtet, dass der gegen den Kläger erhobene Tatvorwurf nicht objektiv geprüft, sondern der Kläger aus politischen Gründen verurteilt werde.
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Mit Verfügung vom 16. September 2016 wurde das bei der Staatsanwaltschaft Augsburg wegen versuchten Mordes geführte Ermittlungsverfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Dem Kläger habe zur Last gelegen, die Straftat dadurch gefördert zu haben, dass er in Kenntnis der geplanten Tat das Mobiltelefon erworben habe, welches an dem Sprengsatz angebracht gewesen sei und zur Fernzündung desselben gedient habe. Ein hinreichender Tatverdacht bestehe jedoch nicht. Der Kläger habe sich weder selbst zum vorgeworfenen Geschehen geäußert, noch sei er von seinem Vater als (Mit-)Täter benannt worden. Der Anfangsverdacht in Bezug auf den Kläger stütze sich allein darauf, dass der Kläger das Mobiltelefon, das zur Zündung der Bombe hätte dienen sollen, erworben habe, und dass der Kläger zu dem Ladengeschäft seines Vaters, in welchem Materialien zum Bau der Bombe nach den Feststellungen des türkischen Gerichts aufbewahrt worden seien, zumindest Zugang gehabt habe. Dies allein begründe jedoch keinen hinreichenden Tatverdacht. Nicht ermittelbar sei, dass der Kläger bei Erwerb (und offensichtlicher Weitergabe) des Mobiltelefons von dessen späterer Verwendung Kenntnis gehabt habe. Dass der Kläger Zugang zu dem Ladengeschäft gehabt habe, sei für sich genommen irrelevant, da es sich beim Kläger um den Sohn des Ladeninhabers handle. Dafür, dass der Kläger die Bombe gar selbst gebaut und/oder gelegt habe, fänden sich keinerlei Anhaltspunkte. Weitere Beweismittel bestünden nicht.
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Die Akte enthält ferner einen Vermerk der Generalbundesanwaltschaft vom 24. März 2014. Aus diesem folgt, dass schon kein Anfangsverdacht hinsichtlich eines vom Kläger begangenen Organisationsdelikts (§§ 129a, 129b Satz 2 Var. 4 StGB) bestehe. Hinsichtlich der weiteren dem Kläger zur Last liegenden strafrechtlichen Tatbestände bestehe eine insgesamt unklare Verdachtslage.
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Am 18. Januar 2019 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Als Zweck des weiteren Aufenthalts wurden völkerrechtliche, humanitäre, politische Gründe angegeben.
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In diesem Zusammenhang wurde das Bundesamt gemäß § 72 Abs. 2 AufenthG beteiligt. Mit Schreiben vom 11. Mai 2020 wurde seitens des Bundesamts mitgeteilt, die Vorschriften des § 60 Abs. 8 AufenthG bzw. der §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 2 AsylG würden die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft/Asylberechtigung bzw. des subsidiären Schutzstatus ausschließen. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sei in diesen Fällen (auch bei bestehenden Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG) durch die Regelung des § 25 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ausgeschlossen.
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In der Folgezeit wurde dem Kläger eine Bescheinigung über die Beantragung eines Aufenthaltstitels erteilt, zunächst gültig bis zum 13. September 2019. Die Bescheinigung wurde in der Folgezeit immer wieder verlängert, aktuell bis zum 16. August 2022. Sie enthält den Hinweis, bis zur abschließenden Entscheidung der Ausländerbehörde über den Antrag (auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis) sei der Aufenthalt des Klägers als geduldet zu betrachten.
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Mit Schreiben vom 2. Juni 2020 wurde dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme hinsichtlich einer beabsichtigten Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG gegeben. Zur Begründung wurde ausgeführt, eine Ablehnung sei aufgrund der Regelung des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 AufenthG beabsichtigt. Auch wurde auf die vorgenannten Ausführungen des Bundesamts im Rahmen seiner Beteiligung nach § 72 Abs. 2 AufenthG Bezug genommen.
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Im Rahmen der Anhörung hinsichtlich der beabsichtigten Ablehnung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis teilte der Klägerbevollmächtigte mit, der Kläger habe einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG i.V.m. § 60 Abs. 5 AufenthG. Ein Ausschlussgrund gemäß § 25 Abs. 3 Satz 3 AufenthG sei nicht gegeben.
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Im Asylverfahren habe sich das Bundesamt allein auf Polizeiberichte und Anklagen aus der Türkei berufen, also dem Staat, hinsichtlich dessen sich der Kläger auf Verfolgung berufe. Allerdings sei der Kläger an der ihm vorgeworfenen Tat nicht beteiligt gewesen und habe diese nie begangen. Entsprechend habe die Staatsanwaltschaft Augsburg das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Die Entscheidung der deutschen Behörden dürfte aus Sicht des Klägerbevollmächtigten mehr Gewicht haben als diejenige aus der Türkei. Die Ermittlung der Staatsanwaltschaft Augsburg sowie die dortige Feststellung, dass der Kläger unschuldig sei, habe dem Bundesamt bei seiner Entscheidung vom 20. Oktober 2015 noch nicht vorgelegen. Auch ergebe sich aus der Beteiligungsanfrage gemäß § 72 AufenthG beim Bundesamt nicht, dass dieses von der Entscheidung der Staatsanwaltschaft Augsburg Kenntnis gehabt habe. Darüber hinaus spreche auch der Werdegang des Klägers seit seiner Ankunft in Deutschland dafür, dass er sich nie aktiv an der ... und erst recht nicht an der vorgeworfenen Straftat beteiligt habe. Der Kläger habe sich in Deutschland von Anfang an gut integriert. Er habe von Juli 2013 bis Mai 2020 beim selben Arbeitgeber durchgehend gearbeitet, habe seine Arbeit jedoch wegen der Coronakrise verloren. Derzeit erhalte er ALG I und sichere daher weiterhin seinen Lebensunterhalt.
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Hilfsweise habe der Kläger einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG. Die Voraussetzungen der Norm seien erfüllt. Im Übrigen sei die Abschiebung des Klägers dauerhaft unmöglich; auch das Bundesamt habe entschieden, dass das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG aufrechterhalten werde.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 30. März 2021 wurde der Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG abgelehnt. Beim Kläger liege zwar ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vor, allerdings habe das Bundesamt mit Schreiben vom 11. Mai 2020 dahingehend Stellung genommen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG bzw. der §§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 2 AsylG die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft/Asylberechtigung bzw. des subsidiären Schutzstatus ausschließen würden. Im Übrigen habe es ausgeführt, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sei in diesen Fällen (auch bei bestehenden Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG) durch die Regelung des § 25 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ausgeschlossen. Vorliegend sei nach der Mitteilung des Bundesamts der Ausschlussgrund des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 AufenthG gegeben (vgl. § 24 Abs. 3 Nr. 2b AsylG).
Die Beklagte verweist ferner auf die seitens der türkischen Generalstaatsanwaltschaft erhobene Anklageschrift. Das Strafverfahren hinsichtlich des Klägers sei derzeit bei dem 7. Gericht für schwere Straftaten in …Türkei anhängig. Da eine mündliche Verhandlung des Klägers noch ausstehe, könne das Verfahren nicht abgeschlossen werden. Es sei bereits wiederholt vertagt worden. Verurteilungen ohne vorherige Anhörung des Angeklagten seien nach türkischem Recht nicht möglich, deshalb würden diese Verfahren in der Regel fortgesetzt. Eine mögliche Ausnahme hiervon wäre nach Angaben der Beklagten ein Freispruch nach vorliegender Beweislage. Ein gegen den Kläger gerichteter Festnahmebefehl vom 26. Oktober 2011 sei noch in Kraft (Stand 20.10.2015).
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Der Kläger erfülle durch sein Verhalten auch aus Sicht der Beklagten den Ausschlusstatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG.
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Insgesamt sehe die Beklagte unter Beteiligung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge insbesondere die Ausschlussklausel des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 AufenthG als erfüllt an (s.o.). Der Ausschlusstatbestand lehne sich an § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG an. Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umfasse die innere sowie die äußere Sicherheit und schütze nach innen den Bestand und die Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Einrichtungen. § 60 Abs. 8 AufenthG enthalte keine Einschränkung im Hinblick auf die gefährdeten Rechtsgüter. Auch im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit einer Gefahrenverwirklichung enthalte das Gesetz keine Hinweise. Insgesamt solle ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer, der wegen eines Abschiebungsverbots nicht abgeschoben werden könne, nicht mit der Legalisierung seines „zwangsläufigen“ Aufenthalts belohnt werden, wenn von ihm eine Gefährdung von Rechtsgütern ausgehen könne. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
38
So könne eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland angenommen werden, wenn ein Ausländer eine die Sicherheit des Staates gefährdende Organisation, hier die, in qualifizierter Weise - insbesondere durch eigene Gewaltbeiträge oder als Funktionär - unterstütze bzw. unterstützt habe. Dies sei vorliegend der Fall.
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Gegen diesen Bescheid ließ der Kläger mit Schriftsatz vom 6. Mai 2021 Klage erheben. Die Klage sei begründet. § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 AufenthG schließe lediglich die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG aus. Sonstige Aufenthaltstitel seien hiervon nicht betroffen. Der Ausschlussgrund des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 AufenthG erfordere ferner die Feststellung, dass von dem Kläger weiterhin eine Gefahr ausgehe. Bei Straftätern sei zu prüfen, ob die Gefahr bestehe, dass auch in Zukunft Straftaten begangen würden. In diesem Zusammenhang sei festzuhalten, dass gegen den Kläger keinerlei Verurteilung wegen terroristischer Aktivitäten vorliege. Es gebe lediglich eine Anklageschrift aus der Türkei. Aus Sicht des Klägerbevollmächtigten lägen bereits keine schwerwiegenden Gründe vor, anzunehmen, die Anklageschrift treffe zu. Der Kläger bestreite weiterhin seine Beteiligung an dem ihm vorgeworfenen Anschlag. Jedenfalls gehe aber vom Kläger keinerlei Gefährdung aus. Der Kläger lebe seit über zehn Jahren in Deutschland, er sei lediglich wegen eines einzigen Vorfalls der Urkundenfälschung bei seiner Einreise zu 90 Tagessätzen Geldstrafe verurteilt worden.
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Selbst wenn die Beklagte die Beteiligung des Klägers an einer Straftat vor mehr als zehn Jahren annehme, so hätte sie im Rahmen des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 AufenthG begründen müssen, warum nach dieser Zeit eine Gefahr von ihm ausgehen solle. In den mehr als zehn Jahren sei der Kläger weder straf- noch sicherheitsrechtlich in Erscheinung getreten. Zur Begründung einer solchen Gefahr reiche eine vergangene Verurteilung gerade nicht aus. Die Wiederholungsgefahr müsse aktuell feststehen. Teile der Literatur würden sogar das Vorliegen einer besonders hohen Wiederholungsgefahr fordern.
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Der Kläger lässt beantragen,
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1. unter Aufhebung des Bescheides vom 30.03.2021, Az., den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
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2. hilfsweise unter Aufhebung des Bescheides vom 30.03.2021, Az., den Beklagten zu verpflichten, über den Antrag auf Aufenthaltserlaubnis unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
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Die Beklagte beantragt,
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Die Klage wird abgewiesen.
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Die Klage sei zwar zulässig, jedoch unbegründet. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
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Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG scheitere am Vorliegen des Ausschlussgrundes nach § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 AufenthG. Der Ausschlusstatbestand lehne sich an § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG an. Aus der Gesetzesbegründung zu § 60 Abs. 8 AufenthG ergebe sich u.a., dass Ausländer, die aus schwerwiegenden Gründen schwerster Verbrechen verdächtig seien, keinen Aufenthaltstitel erhielten. Aus der Begründung folge aus Sicht der Beklagten ferner, dass dieses Ergebnis auch für § 25 Abs. 3 AufenthG gelte. Eine andere Auslegung würde der Intention des Gesetzgebers zuwiderlaufen. Dass der Kläger aus schwerwiegenden Gründen schwerster Verbrechen verdächtig sei, ergebe sich aus den Ausführungen im Bescheid des Bundesamts vom 20. Oktober 2015 sowie dem Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 9. Mai 2016.
48
Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG scheitere darüber hinaus auch am Vorliegen des Ausschlussgrundes nach § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG, da der Kläger eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen habe.
Vorliegend rechtfertigten schwerwiegende Gründe die Annahme, dass der Kläger eine schwere Straftat begangen habe. Auch insoweit werde auf die Ausführungen im Bescheid des Bundesamts vom 20. Oktober 2015 sowie im Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 9. Mai 2016 Bezug genommen. In diesem Zusammenhang sei maßgeblich auf die einzelne Straftat abzustellen. Sie müsse nach Art und Schwere so gewichtig sein, dass die Erteilung eines Aufenthaltsrechts für den Betroffenen unbillig erschiene. Eine rechtskräftige Verurteilung sei nicht erforderlich, für die Begehung der Tat müssten allerdings Anhaltspunkte von erheblichem Gewicht vorliegen. Dies sei beim Kläger der Fall. Eine konkrete Wiederholungsgefahr müsse nicht gegeben sein; es komme auch nicht darauf an, wie lange die Tat zurückliege. Für die Ausschlussgründe des Art. 12 Abs. 2 lit. b und c RL 2011/95/EU (weitgehend entsprechend Art. 17 Abs. 1 lit. b betreffend den subsidiären Schutz) habe der EuGH bereits festgestellt, dass der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling nicht voraussetze, dass von der betreffenden Person eine gegenwärtige Gefahr für den Aufnahmestaat ausgehe. Die damit verbundene Wertung sei auch auf die Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund nationaler Abschiebungsverbote übertragbar.
49
Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Der Kläger, dessen Abschiebung seit mehr als 18 Monaten ausgesetzt ist, stelle keinen Regelfall dar; vielmehr befinde er sich in einer atypischen Sachlage. Das Vorliegen von Ausschlusstatbeständen nach § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 bis 4 AufenthG beim festgestellten Abschiebungsverbot stelle einen atypischen Fall dar, der zum Abweichen vom Regelfall und zu einer behördlichen Ermessenentscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führe. Anderenfalls bestünde ein vom Gesetzgeber nicht gewollter Wertungswiderspruch. Der Kläger unterscheide sich von der Vielzahl von Geduldeten, die aus familiären und gesundheitlichen Gründen nicht ausreisen könnten. Wolle man hier keine Atypik annehmen, wäre der Zweck des § 25 Abs. 3 Satz 3 AufenthG, schwersten Straftätern kein humanitäres Aufenthaltsrecht, sondern lediglich Abschiebungsschutz nach nationalem Recht zu gewähren, bereits nach 18 Monaten Duldungsdauer unterlaufen und praktisch wirkungslos. Dies entspreche auch dem in Art. 17 der Qualifikationsrichtlinie zum Ausdruck kommenden Grundgedanken, wonach die Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen sei, wenn Ausschlussgründe vorlägen (s.o.). Art. 17 der Qualifikationsrichtlinie sei daher auch bei der Prüfung der Frage, ob ein atypischer Sachverhalt der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 AufenthG entgegenstehe, zu beachten.
50
Zur Vermeidung des vom Gesetzgeber nicht gewollten Wertungswiderspruchs hätten die festgestellten Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, Abs. 5 AufenthG bei der Prüfung der Gründe für die Unmöglichkeit der Ausreise außer Betracht zu bleiben. Die Beklagte gewichte das öffentliche Interesse an der Nichterteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG bei Bestehen eines Ausschlussgrundes nach § 25 Abs. 3 Satz 3 AufenthG höher als das Interesse des Klägers an der Legalisierung seines Aufenthalts. Schließlich würde die gesetzgeberische Intention, diesem Personenkreis keine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, völlig unterlaufen, wenn nach einer Verneinung eines Anspruchs nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG der Aufenthalt aufgrund der Regelung des § 25 Abs. 5 AufenthG legalisiert würde.
51
Mit Schriftsatz vom 25. Mai 2022 weist der Klägerbevollmächtigte darauf hin, die Generalbundesanwaltschaft habe am 24. März 2014 die Einleitung eines Strafverfahrens wegen des Verdachts der Begehung eines Organisationsdelikts abgelehnt. Ein Anfangsverdacht bezüglich eines vom Kläger begangenen Organisationsdelikts bestehe nicht. Die in der Anklageschrift aus der Türkei beschriebenen Verbindungen zur ... bezögen sich ausschließlich auf den Vater des Klägers. Allein die verwandtschaftliche Beziehung des Klägers zu diesem und der Kauf des Mobiltelefons seien für sich gesehen oder in der Gesamtheit nicht ausreichend, um einen - über bloße Vermutungen hinausgehenden - belastbaren Verdacht zu begründen, der Kläger habe eine konkrete mitgliedschaftliche Beteiligungs- oder Unterstützungshandlung im Sinne der §§ 129a, b StGB begangen. Insgesamt gingen sowohl die Generalbundesanwaltschaft als auch die Staatsanwaltschaft Augsburg zurecht davon aus, dass weder hinsichtlich der Begehung von Organisationsdelikten noch des versuchten Mordes Anhaltspunkte für eine Beteiligung des Klägers vorlägen, die über bloße Verdachtsmomente hinausgingen. Im Übrigen gehe selbst die Beklagte nicht vom Vorliegen einer aktuellen Gefahr im Sinne des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 AufenthG aus; der streitgegenständliche Bescheid enthalte keine diesbezüglichen Ausführungen. Zu § 25 Abs. 5 AufenthG werde angemerkt (und näher ausgeführt), dass die Ablehnung einer derartigen Aufenthaltserlaubnis dem gesetzgeberischen Willen widerspreche.
52
Am 31. Mai 2022 fand in der Sache mündliche Verhandlung statt. Auf das dabei gefertigte Protokoll wird zur Ergänzung des Sachverhalts ebenso Bezug genommen wie auf den Inhalt der Gerichtsakte, der von der Beklagten vorgelegten Behördenakte, der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte zum Verfahren 103 Js 125487/14 sowie der Gerichts- und der Behördenakte im Verfahren Au 6 K 15.30669.

Entscheidungsgründe

53
Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Klage hat in der Sache Erfolg.
I.
54
Gegenstand der Klage ist der Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, hilfsweise nach § 25 Abs. 5 AufenthG.
II.
55
Die zulässige Klage ist auch begründet. Der Kläger hat einen (rechtlich gebundenen) Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, weshalb die Beklagte zu verpflichten war, dem Kläger diese zu erteilen (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
56
1. Nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegt.
57
Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt. Das Bundesamt hat mit (mittlerweile bestandskräftigem) Bescheid vom 20. Oktober 2015 festgestellt, dass beim Kläger (hinsichtlich der Türkei) ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt. In den Gründen des Bescheids wird näher ausgeführt, aufgrund der individuellen Umstände des Klägers sei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung außergewöhnlich erhöhe.
58
Eine Aufhebung der Zuerkennung des Abschiebungsverbots erfolgte auch in der Folgezeit nicht. Auf Anfrage der Beklagten vom 15. Juli 2020 teilte dieser das Bundesamt mit Schreiben vom 23. Oktober 2020 mit, eine Überprüfung (…) der Abschiebungsverbote nach § 73c AsylG habe ergeben, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme der Begünstigung nicht vorlägen.
59
Das Gericht geht daher davon aus, dass das Abschiebungsverbot auch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung fortbesteht.
60
2. Der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis stehen - anders als von der Beklagten angenommen - auch nicht die Ausschlussgründe des § 25 Abs. 3 Satz 3 AufenthG entgegen.
61
a) Insbesondere liegt in der Person des Klägers nicht der Ausschlussgrund des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG vor. Demnach wird eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht erteilt, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Ausländer eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen hat. Rechtlich nicht erforderlich ist für diesen Ausschlusstatbestand, dass der Ausländer eine Gefahr für die Sicherheit Deutschlands oder der Allgemeinheit darstellt (vgl. Zimmerer, in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 11. Edition, Stand 15.4.2022, Rn. 35 zu § 25 AufenthG).
62
aa) Für das Gericht steht außer Zweifel, dass die Tatvorwürfe, welche dem Kläger zur Last lagen bzw. in der Türkei immer noch zur Last liegen (insbesondere der versuchte Mord im Zusammenhang mit einer Beteiligung an einem Sprengstoffanschlag), Straftaten von erheblicher Bedeutung darstellen.
63
bb) Allerdings bestehen keine schwerwiegenden Gründe, welche die Annahme rechtfertigen, dass gerade der Kläger derartige Straftaten begangen hat.
64
(1) Für ein Vorliegen schwerwiegender Gründe sind mehr als bloße Verdachtsmomente erforderlich. Andererseits sind die Beweisanforderungen geringer als die für eine strafrechtliche Verurteilung geltenden Maßstäbe. Zum Nachweis können unter anderem Aussagen des Antragstellers in seiner Anhörung vor der Ausländerbehörde oder dem Bundesamt, Zeugenaussagen, Urkunden, Auskünfte des Auswärtigen Amts oder anderer Stellen, aber auch Zeitungsartikel, Urteile oder Anklageschriften herangezogen werden (vgl. Zimmerer, in BeckOK Migrationsrecht, 11. Edition, Stand 15.4.2022, Rn. 34 zu § 25 AufenthG unter Bezugnahme auf Nr. 25.3.7.7 AufenthGAVwV). Als schwerwiegend können damit nur solche Gründe angesehen werden, die klare und glaubhafte Indizien für die Begehung der Tat liefern und die somit nicht lediglich die bloße Möglichkeit oder den Verdacht der Begehung einer der in § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 bis 4 AufenthG genannten Handlungen begründen. Erforderlich ist aber weder die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens noch die Durchführung von Ermittlungsverfahren oder strafgerichtlichen Verfahren. Vor diesem Hintergrund genügt ein gegenüber der nach § 108 VwGO erforderlichen Überzeugungsgewissheit abgesenkter Beweisstandard (vgl. Hailbronner, in Hailbronner, Ausländerrecht, 122. Ergänzungslieferung, Oktober 2021, Rn. 86 zu § 25 AufenthG unter Bezugnahme auf BayVGH, U.v. 20.3.2013 - 19 BV 11.288 - BeckRS 2013, 49514 Rn. 53).
65
(2) Im vorliegenden Fall sind aus Sicht des Gerichts allenfalls bloße Verdachtsmomente dafür gegeben, dass der Kläger an dem versuchten Bombenanschlag vom 27. Februar 2011 und damit an einer schwerwiegenden Straftat beteiligt gewesen sein könnte. Für das Gericht sind keine derart gravierenden Indizien erkennbar, welche allein bzw. in der Gesamtschau zur Annahme des Ausschlussgrundes nach § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG führen.
66
(a) Gegen den Kläger liegt - wie bereits oben ausgeführt - eine Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft der Türkei vom 10. Oktober 2011 vor. Darin werden ihm und seinem Vater die Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung, versuchte vorsätzliche Tötung, unerlaubter Besitz gefährlicher Stoffe und die Gefährdung der Einheit des Staates und der territorialen Integrität des Landes vorgeworfen.
67
In der Anklageschrift bzw. den sonstigen Verfahrensunterlagen aus der Türkei wird konkret ausgeführt, am 27. Februar 2011 sei an einem (näher bezeichneten) Ort in der Türkei eine Vorrichtung einer Nagelbombe mit Druckwirkung sichergestellt worden, welche mittels eines Mobiltelefons fernzündbar gewesen sei.
68
Hinsichtlich des Verfahrens in der Türkei liegt weder nach Aktenlage noch nach den Einlassungen der Beteiligten eine den Kläger betreffende Verurteilung bzw. eine anderweitige verfahrensabschließende Entscheidung vor. Auch der Umstand, dass das gegen den Kläger in der Türkei noch nicht abgeschlossen ist, deutet aus Sicht des Gerichts nicht zwingend darauf hin, dass mit einer vollumfänglichen Verurteilung des Klägers zu rechnen ist. Vielmehr kann das Verfahren wohl aufgrund der fehlenden dortigen Anwesenheit des Klägers nicht abgeschlossen werden. Das am 20. März 2013 in der Türkei ergangene strafgerichtliche Urteil bezieht sich demgegenüber allein auf den Vater des Klägers.
69
(aa) Das Vorliegen einer Anklageschrift indiziert in der Regel durchaus, dass hinsichtlich des Betroffenen - hier des Klägers - ein nicht unerheblicher Tatverdacht in Bezug auf ein strafrechtlich relevantes Verhalten gegeben ist (vgl. in Deutschland: Erfordernis des hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 1 StPO).
70
(bb) Vorliegend ist jedoch zu bedenken, dass der in der (vor nahezu 11 Jahren ergangenen) Anklageschrift aufgeführte Umstand, wonach der Kläger durch einen Zeugen als der Käufer des Mobiltelefons identifiziert worden sei, das als Bestandteil der Zündvorrichtung am Sprengsatz installiert gewesen sei, als solcher noch keine strafrechtlich relevante Beteiligung des Klägers an dem Geschehen vom 27. Februar 2011 in erheblicher Weise nahelegt. Mindestens genauso wahrscheinlich ist, dass der Kläger das vorgenannte Mobiltelefon erworben (sowie weitergegeben) hat, ohne Kenntnis von der späteren strafbaren Verwendung des Telefons zu haben. Insbesondere gibt es keinerlei Zeugenaussagen, welche nahelegen, dass der Kläger das Mobiltelefon in der strafrechtlich relevanten Verwendungsabsicht erworben haben könnte.
71
Es liegen auch keinerlei konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger das Mobiltelefon selbst zum Sprengsatz hinzugefügt hat. Auch hierfür gibt es keine den Kläger belastenden Zeugenaussagen. Aus der Strafakte der Türkei ergeben sich ferner keine Hinweise darauf, dass Fingerabdrücke bzw. sonstige Spuren des Klägers an der Sprengvorrichtung (bzw. am darin verbaut gewesenen Mobiltelefon) festgestellt worden seien.
72
(cc) Die ebenfalls in der Anklageschrift erwähnte Umstand, dass im Ladengeschäft an versteckter Stelle 58 Notizblätter sichergestellt worden seien, stellt ebenso wenig einen gravierenden Anhaltspunkt für eine strafrechtlich relevante Beteiligung des Klägers an dem Geschehen vom 27. Februar 2011 dar. Zum einen tragen die Notizblätter nach den Feststellungen in der Anklageschrift schon die Handschrift des Vaters des Klägers, und damit gerade nicht die des Klägers selbst. Hinzu kommt, dass es sich dabei zumindest teilweise um alltägliche Gegenstände handelt (z.B. Hausschuhe, Taschenlampen, T-Shirts, Speicherkarte).
Selbst wenn man - im Einklang mit der Anklageschrift aus der Türkei - davon ausgehen würde, dass die auf die auf den 58 Notizblättern verzeichneten Gegenstände typisch für die ... seien, stellt dies allenfalls ein Indiz für die Unterstützung der ... durch den Kläger bzw. seinen Vater dar. Dieselbe Betrachtung wäre ebenfalls anzunehmen, wenn man darüber hinaus die Übereinstimmung der auf den 58 Notizblättern verzeichneten Gegenstände mit denjenigen, welche auf der am 2. Dezember 2010 aufgefundenen Liste vermerkt sind, bejahen würde.
73
Keinesfalls lässt sich aus Sicht des Gerichts daraus jedoch ein konkreter Bezug zwischen dem Kläger und dem Geschehen vom 27. Februar 2011 herleiten.
74
Demgegenüber hat der Kläger zwar im Rahmen des Asylverfahrens vorgebracht, er selbst habe eine (die vorgenannte/eine andere?) Liste der Gegenstände, welche zwei Personen bei ihm gekauft hätten, erstellt (die am 2.12.2010 aufgefundene Liste). Allerdings begründet auch dies für das Gericht allenfalls die Vermutung, dass der Kläger mit diesem Verkauf die ... unterstützt haben könnte. Jedoch lässt auch dieser Umstand keinen plausiblen Bezug zwischen dem Kläger und dem Geschehen vom 27. Februar 2011 erkennen.
75
(dd) Des Weiteren wird in der Anklageschrift aus der Türkei zwar erwähnt, dass im Ladengeschäft zahlreiche Gegenstände und Werkzeuge (u.a. 6 cm lange Nägel, Lötkolben, Lötdraht, Lötfett, Messgerät zur Messung der Stromstärke) aufgefunden worden seien, welche mit den im Sprengsatz verbaut gewesenen Teilen übereinstimmen würden bzw. bei der Herstellung des Sprengsatzes zum Einsatz gekommen seien. Allerdings kann das Auffinden dieser Gegenstände keinen konkreten Bezug gerade zu einer etwaigen Täterschaft des Klägers begründen, wohl nicht einmal ohne Weiteres allgemein zur Familie des Klägers. Selbst wenn im Ladengeschäft des Vaters des Klägers Materialien mit denselben/ähnlichen Eigenschaften wie die im Sprengsatz verbaut gewesenen aufgefunden worden sein sollten, wäre es (jedenfalls ohne weitere Feststellungen) nicht einmal ausgeschlossen, dass diese Gegenstände zufällig eine derartige Übereinstimmung zeigen. Ferner ist die Einlassung des Klägerbevollmächtigten, wonach Lötmaterialien in ländlichen Gebieten in der Türkei in zahlreichen Haushalten vorhanden sind, für das Gericht jedenfalls nicht widerlegbar.
Des Weiteren ist zu sehen, dass der Kläger das Ladengeschäft entsprechend der Einlassung seines Vaters in dem gegenüber diesem geführten Strafverfahren zwar grundsätzlich selbst betrieben hat. Dennoch hat sich der Vater des Klägers ein- bis zweimal pro Woche im Ladengeschäft aufgehalten. Selbst wenn die im Sprengsatz verwendet gewesenen Materialien bzw. die zu dessen Herstellung gebrauchten Werkzeuge teilweise erwiesenermaßen dem Ladengeschäft des Vaters des Klägers entstammen sollten, drängt sich für das Gericht damit nicht die Schlussfolgerung auf, gerade der Kläger habe diese zum Bau eines Sprengsatzes verwendet. Für eine andere Annahme bestehen vielmehr keine konkreten Beweise bzw. belastbaren Indizien.
76
(ee) Für die Annahme in der Anklageschrift, der Kläger hätte die Bombe gemeinsam mit seinem Vater im Bereich des Fundortes abgelegt, finden sich - soweit ersichtlich - in den Ermittlungsakten der Türkei keine konkreten belastenden Indizien. Insbesondere wurden ausweislich der Ermittlungsakte weder Fingerabdrücke noch sonstige Spuren des Klägers an der Sprengvorrichtung festgestellt (s.o.). Des Weiteren enthält die Anklageschrift die Anmerkung, dass die Aufnahmen der Überwachungskamera am Fundort der Bombe bisher nicht vollständig auswertbar gewesen seien. Von den Kläger belastenden Videoaufzeichnungen ist gerade nicht die Rede (s.o.). Das Gericht hat keine Anhaltspunkte dafür, dass die Videoaufzeichnungen bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ausgewertet worden wären und eine den Kläger belastende Sachlage ergeben hätten.
77
(ff) Insgesamt hält es das Gericht bereits ausgehend von der Anklageschrift für fraglich, ob in der Türkei eine Verurteilung des Klägers aufgrund des ihm dort zur Last liegenden Sachverhalts erfolgen würde. So wurde schon in der Begründung des Strafurteils betreffend den Vater des Klägers ausgeführt, für den Verdacht, dass dieser derjenige gewesen sein könnte, der die Bombe gebaut, sie zusammen mit dem Mobiltelefon vervollständigt und zwecks Detonation am Auffindungsort abgelegt habe, habe kein Beweis erbracht werden können. Das Gericht hält es für denkbar, dass - gerade aufgrund der fehlenden den Kläger belastenden Videoaufzeichnungen sowie Fingerabdrücke - eine derartige Beurteilung auch hinsichtlich des Klägers erfolgen würde. Keinesfalls ist zwingend davon auszugehen, dass aufgrund der teilweise bejahten Täterschaft des Vaters des Klägers das türkische Strafgericht auch eine Täterschaft bzw. Beteiligung des Klägers an den Geschehnissen vom 27. Februar 2011 annimmt.
78
(b) Des Weiteren führten sämtliche der gegen den Kläger in der oben genannten Sache in Deutschland geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren jedenfalls nicht zur Feststellung eines hinreichenden Tatverdachts.
79
(aa) Aus dem Vermerk der Generalbundesanwaltschaft vom 24. März 2014 folgt, dass schon kein Anfangsverdacht hinsichtlich eines vom Kläger begangenen Organisationsdelikts (§§ 129a, 129b Satz 2 Var. 4 StGB) besteht. Darin wird ferner ausgeführt, die von den türkischen Ermittlungsbehörden aufgedeckten Verbindungen der Tat zur ... bezögen sich ausschließlich auf den Vater des Klägers. Weder die verwandtschaftliche/geschäftliche Beziehung zu diesem noch der Umstand, dass der Kläger das als Auslöser für die Nagelbombe vorgesehen gewesene Mobilfunkgerät erworben haben solle, genügten für sich gesehen oder in der Gesamtheit, um einen - über bloße Vermutungen hinausgehenden - belastbaren Verdacht zu begründen, der Kläger habe eine konkrete mitgliedschaftliche Beteiligungs- oder Unterstützungshandlung im Sinne der §§ 129a, b StGB begangen.
Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Generalbundesanwaltschaft zwischenzeitlich die Ermittlungen aufgrund neuer Erkenntnisse wiederaufgenommen haben könnte.
80
(bb) Das bei der Staatsanwaltschaft Augsburg gegen den Kläger geführte Ermittlungsverfahren u.a. wegen des Verdachts des versuchten Mordes wurde mit staatsanwaltschaftlicher Verfügung vom 16. September 2016 gemäß § 170 Abs. 2 StPO (aus tatsächlichen Gründen) eingestellt. Ein hinreichender Tatverdacht gegen den Kläger bestehe demnach nicht. Der Anfangsverdacht in Bezug auf den Kläger stütze sich allein darauf, dass der Kläger das Mobiltelefon, das zur Zündung der Bombe hätte dienen sollen, erworben habe, und dass der Kläger zu dem Ladengeschäft seines Vaters, in welchem Materialien zum Bau der Bombe nach den Feststellungen des türkischen Gerichts aufbewahrt worden seien, zumindest Zugang gehabt habe. Dies allein begründe jedoch keinen hinreichenden Tatverdacht. Nicht ermittelbar sei, dass der Kläger bei Erwerb (und offensichtlicher Weitergabe) des Mobiltelefons von dessen späterer Verwendung Kenntnis gehabt habe. Dass der Kläger Zugang zu dem Ladengeschäft gehabt habe, sei für sich genommen irrelevant, da es sich beim Kläger um den Sohn des Ladeninhabers handle. Dafür, dass der Kläger die Bombe gar selbst gebaut und/oder gelegt habe, fänden sich keinerlei Anhaltspunkte. Weitere Beweismittel bestünden nicht.
81
(cc) Insgesamt haben damit zwei deutsche Strafverfolgungsbehörden jedenfalls keinen hinreichenden Tatverdacht in Bezug auf eine strafrechtlich relevante Tatbeteiligung des Klägers an dem Geschehen vom 27. Februar 2011 feststellen können.
82
Ein hinreichender Tatverdacht wäre gegeben, wenn nach vorläufiger Bewertung des sich aus dem gesamten Akteninhalt ergebenen Sachverhalts und der Beweisergebnisse eine Verurteilung des Beschuldigten wahrscheinlicher als ein Freispruch wäre, mithin eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung bestünde (vgl. Gorf, in BeckOK StPO, 42. Edition, Stand 1.1.2022, Rn. 2 zu § 170 StPO).
Das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts wurde (ebenso wie das Vorliegen eines Anfangsverdachts hinsichtlich eines Organisationsdelikts) aus nachvollziehbaren Erwägungen verneint. Wie bereits oben ausgeführt, bestehen auch aus Sicht des Gerichts keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger bei Erwerb bzw. Weitergabe des Mobiltelefons von dessen späterer strafrechtlich relevanter Verwendung Kenntnis hatte bzw. diese auch nur erahnen konnte. Allenfalls ergeben sich insoweit vage Vermutungen bzw. die Möglichkeit einer etwaigen Tatbeteiligung durch den Kläger. Hinsichtlich der Zugangsmöglichkeit des Klägers zu dem Ladengeschäft merkt das Gericht an, dass der Kläger wohl aufgrund der gesundheitlichen Probleme des Vaters das Ladengeschäft geführt hatte. Allerdings hatte auch der Vater des Klägers weiterhin Zugang zu dem Ladengeschäft, er machte davon auch ein- bis zweimal in der Woche Gebrauch. Dass dies ausschließlich während der ununterbrochenen Anwesenheit des Klägers der Fall gewesen sein soll, ist aus den dem Gericht vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich.
83
Die vorgenannte Betrachtung (Fehlen eines hinreichenden Tatverdachts auch aus Sicht des Gerichts) ist ungeachtet dessen anzunehmen, dass der Vater in seiner Beschuldigtenvernehmung (vgl. Bl. 79/2 der Verfahrensakte der Türkei) angegeben hat, er stehe momentan nur wegen Taten vor Gericht, die sein Sohn (Anm.: der Kläger) verübt hat bzw. verübt haben könnte. In dieser pauschalen - teilweise im Konjunktiv formulierten - Einlassung liegt insbesondere nicht die konkrete Bezichtigung des Sohnes des Klägers als Täter, Mittäter oder sonstiger Tatbeteiligter; sie könnte insoweit allein zu Zwecken seiner eigenen Strafverteidigung erfolgt sein. Im Übrigen müsste eine etwaige konkrete Bezichtigung des Sohnes des Klägers ohnehin zuerst auf den Wahrheitsgehalt überprüft werden.
84
Des Weiteren ist zu sehen, dass auch seitens der Türkei bisher keine strafgerichtliche Verurteilung des Klägers erfolgt ist (s.o.); das Gericht hält es vielmehr für fraglich, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang eine Verurteilung des Klägers aufgrund der vorgenannten Anklageschrift in der Türkei erfolgen würde (im Falle der Rückkehr des Klägers in die Türkei). Im Übrigen ist zu bedenken, dass es sich - wie sich aus dem Vorbringen des Klägers im Asylverfahren ergibt - bei der Türkei um den Staat handelt, hinsichtlich dessen sich der Kläger auf politische Verfolgung beruft.
85
In einer Gesamtschau ergeben sich für das Gericht weder aus der Anklageschrift aus der Türkei noch aus den Unterlagen der beiden deutschen vorgenannten Strafverfolgungsbehörden schwerwiegende Gründe, welche die Annahme rechtfertigen, dass der Kläger eine Straftat von erheblicher Bedeutung begangen hat (vgl. § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG). Aus Sicht des Gerichts würde es - bereits aufgrund des Grundsatzes der Einheit der Rechtsordnung - einen erheblichen Wertungswiderspruch darstellen, wenn einerseits eine Verfahrenseinstellung aus tatsächlichen Gründen wegen einer unzureichenden Verurteilungswahrscheinlichkeit erfolgt ist, andererseits jedoch schwerwiegende Gründe im Sinne des § 25 Abs. 3 Satz 3 AufenthG bejaht würden. In diesem Fall würde die Bedeutung der mangels hinreichenden Tatverdachts erfolgten Verfahrenseinstellung nach § 170 Abs. 2 StPO in erheblicher Weise entwertet (vgl. zu einer Verfahrenseinstellung nach § 170 Abs. 2 StPO: VG Freiburg, U.v. 24.6.2021 - 10 K 1661/19 - BeckRS 2021, 19972).
86
(c) Auch das gegen den Kläger in Deutschland im Jahr 2012 aufgrund des Vorwurfs des Verstoßes gegen ein Vereinigungsverbot (§ 85 StGB) geführte Ermittlungsverfahren kann weder allein noch in Zusammenschau mit den obigen Erwägungen zur Annahme schwerwiegender Gründe im Sinne des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG führen. Zum einen wurde auch dieses Ermittlungsverfahren (wohl aus tatsächlichen Gründen) nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Im Übrigen folgt, selbst wenn man zum damaligen Zeitpunkt eine gewisse Nähe des Klägers zur ... annehmen würde, daraus kein gravierendes Indiz für eine strafrechtlich relevante Beteiligung des Klägers an dem Geschehen vom 27. Februar 2011.
87
(d) Ebenfalls nicht zur Annahme schwerwiegender Gründe im Sinne des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG führen kann der Umstand, dass das Bundesamt mit Bescheid vom 20. Oktober 2015 (und dem folgend das Verwaltungsgericht Augsburg mit Urteil vom 9.5.2016 im Verfahren Au 6 K 15.30669) einen Anspruch auf Asylanerkennung, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie Feststellung des subsidiären Schutzstatus aufgrund der Annahme entsprechender asylrechtlicher Ausschlusstatbestände verneint hatte.
88
Aus Sicht der Kammer begründet der in dem verwaltungsgerichtlichen Urteil vom 9. Mai 2016 dargelegte Umstand hinsichtlich der handschriftlichen Listen allenfalls die Annahme, dass der Kläger bzw. dessen Vater die ... unterstützt haben könnten. Eine strafrechtlich relevante Beteiligung des Klägers gerade an den Geschehnissen vom 27. Februar 2011 lässt sich daraus nicht erkennen. Ebenso belegt der durch eine Zeugenaussage bestätigte Erwerb des Mobiltelefons, welches sich in der Sprengvorrichtung befunden hatte, keinen dringenden Verdacht, dass der Kläger schon bei dessen Erwerb von einem Einsatz des Mobiltelefons zu strafrechtlich relevanten Zwecken Kenntnis gehabt hat. Diese Annahme wäre selbst dann geboten, wenn die Zeugenaussage - wie im vorgenannten verwaltungsgerichtlichen Urteil erfolgt - für glaubhaft erachtet wird. Eine ausweichende Antwort auf die Frage nach dem Laden, in welchem der Kläger sein Handy gekauft hat, begründet ebenfalls weder allein noch in der Gesamtschau mit den anderen Umständen ein wesentliches Indiz für einen strafrechtlich relevanten Tatbeitrag des Klägers zu den Geschehnissen vom 27. Februar 2011. Die in der mündlichen Verhandlung vom 26. April 2016 erfolgte Einlassung des Klägers, er bezeichne die (getöteten) Guerillas nicht als Terroristen, sondern als „Schützer“, steht schon nicht in einem konkreten Zusammenhang zu den Geschehnissen vom 27. Februar 2011.
89
Ferner ist maßgeblich zu bedenken, dass zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids des Bundesamts (20.10.2015) sowie des verwaltungsgerichtlichen Urteils (9.5.2016) jedenfalls die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Augsburg vom 16. September 2016 noch nicht vorlag, und aufgrund ihres Ergehens zu einem späteren Zeitpunkt als dem 20. Oktober 2015 sowie dem 9. Mai 2016 auch noch nicht vorliegen konnte. Insoweit ist dem Vorbringen des Klägerbevollmächtigten im Rahmen der Anhörung zu folgen.
Damit konnten in dem Bescheid des Bundesamts vom 20. Oktober 2015 sowie dem vorgenannten verwaltungsgerichtlichen Urteil allein die Einlassung des Klägers sowie die Anklageschrift aus der Türkei inhaltlich gewürdigt werden. Mit dem Zeitpunkt der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Augsburg (16.9.2016), welche auf Basis der gesamten (übersetzten) Ermittlungsakte der Türkei bzw. jedenfalls eines großen Teils davon ergangen ist, hat sich insoweit eine vollkommen andere Sachlage hinsichtlich der beim Kläger bestehenden Verdachtsmomente gegeben. Erstmals ist in diesem Kontext eine Situation eingetreten, wonach die Geschehnisse vom 27. Februar 2011 von verschiedenen Strafverfolgungsbehörden - in ihrer Gesamtheit - vollkommen verschieden bewertet werden. Der Vermerk der Generalbundesanwaltschaft vom 24. März 2014 hatte schließlich allein ausgesagt, dass kein Anfangsverdacht hinsichtlich eines vom Kläger begangenen Organisationsdelikts (§§ 129a, 129b Satz 2 Var. 4 StGB) besteht. In Bezug auf die weiteren dem Kläger (im Zusammenhang mit den Geschehnissen vom 27.2.2011) zur Last gelegenen Delikte wies dieser dagegen zwar auf die insgesamt unklare Verdachtslage betreffend den Kläger hin, verneinte jedoch weder einen Anfangs- noch einen hinreichenden Tatverdacht.
90
Vor diesem Hintergrund kann zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Verfahren Au 1 K 21.1123 das Vorliegen schwerwiegender Gründe im Sinne des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 - 4 AufenthG weder dem Bescheid des Bundesamts vom 20. Oktober 2015 noch der gerichtlichen Entscheidung im Verfahren Au 6 K 15.30669 entnommen werden. Der gegenteiligen Rechtsauffassung der Beklagten auf Seite 3 der Klageerwiderung vom 20. September 2021 kann damit nicht gefolgt werden.
91
(e) Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 21. Dezember 2018, mit welchem der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil vom 9. Mai 2016 abgelehnt worden war, führt ebenfalls zu keiner anderen Schlussfolgerung. Darin werden bereits keine tatsächlichen Ausführungen zum Ausmaß der beim Kläger gegebenen Verdachtsmomente getroffen.
92
(f) Weitere Indizien bzw. Beweismittel, welche zur Annahme schwerwiegender Gründe im Sinne des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG führen könnten, liegen nicht vor.
93
Insbesondere hat der Kläger hinsichtlich der ihm vorgeworfenen Straftaten weder gerichtlich noch außergerichtlich ein Geständnis abgelegt. Er hat stets jede strafrechtlich relevante Tatbeteiligung an dem Geschehen vom 27. Februar 2011 bestritten.
94
Im Übrigen wurde auf Nachfrage des Gerichts seitens der Beklagten verneint, dass sicherheitsrelevante Erkenntnisse (z.B. vom Verfassungsschutz) aktuell vorlägen. Anhaltspunkte dafür, dass diese Einlassung unrichtig bzw. unvollständig sein könnte, bestehen für das Gericht nicht. Des Weiteren enthalten die dem Gericht vorliegenden Behördenakten keine konkreten Hinweise darauf, dass zu einem anderen Zeitpunkt seines mittlerweile nahezu 11 Jahre andauernden Aufenthalts in Deutschland relevante Erkenntnisse des Verfassungsschutzes vorgelegen hätten (vgl. hierzu auch Bl. 249 der Behördenakte).
95
Das gegen den Vater des Klägers in der Türkei ergangene Urteil stellt auch in Verbindung mit den darin getroffenen Feststellungen kein gravierendes Indiz dafür dar, dass auch der Kläger in strafrechtlich relevanter Weise an den Geschehnissen vom 27. Februar 2011 beteiligt gewesen sein könnte.
96
(g) Des Weiteren weist das Gericht darauf hin, dass der Kläger in Deutschland im Jahr 2011 zwar einmal strafrechtlich wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit Verschaffen von falschen amtlichen Ausweisen zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Weitere strafrechtliche Verurteilungen des mehrere Jahre (von Juli 2013 bis Mai 2020) in Deutschland berufstätig gewesenen Klägers - insbesondere solche mit einem Zusammenhang zu terroristischen Aktivitäten - liegen nicht jedoch nicht vor (vgl. auch unten).
97
(h) Ergänzend wird angemerkt, dass von dem Schreiben des Bundesamts vom 11. Mai 2020, wonach die Aufenthaltserlaubnis in den dort genannten Fällen durch die Regelung des § 25 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ausgeschlossen sei, weder eine Bindungswirkung für die Beklagte noch für das Gericht ausgeht. Das Schreiben stellt ausschließlich die Stellungnahme des Bundesamts im Rahmen seiner Beteiligung nach § 72 Abs. 2 AufenthG dar.
98
b) Des Weiteren ist in der Person des Klägers nicht der Ausschlussgrund des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 AufenthG gegeben. Demnach wird eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht erteilt, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Ausländer eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt.
99
Wie bereits im Zusammenhang mit § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG dargestellt, liegen bereits keine schwerwiegenden Gründe im Sinne der Norm vor.
100
Vor diesem Hintergrund kann das Gericht auch keinen Anknüpfungspunkt erkennen, weshalb vom Kläger zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Gefahr für die Bundesrepublik Deutschland ausgehen soll. Die Anklageschrift aus der Türkei sowie die Feststellungen bzw. Ausführungen im Bescheid des Bundesamts vom 20. Oktober 2015 sowie im verwaltungsgerichtlichen Urteil vom 9. Mai 2016 genügen - entgegen der Rechtsansicht der Beklagten - für das Gericht nicht zur Annahme schwerwiegender Gründe im vorgenannten Sinne (s.o.).
Es bestehen für das Gericht zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ferner keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger in Deutschland in strafrechtlich relevanter Weise an terroristischen Aktivitäten mitwirkt bzw. sein bisheriger Werdegang in Deutschland dies befürchten lässt.
101
c) Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die weiteren Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erfüllt sind.
102
Ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass der Kläger aufgrund seiner derzeit fehlenden Erwerbstätigkeit seinen Lebensunterhalt wohl nicht selbst sichern kann. Bei der Lebensunterhaltssicherung handelt es sich grundsätzlich um eine Regelerteilungsvoraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Allerdings folgt aus § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, dass in den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG von der Anwendung der Absätze 1 und 2 (zwingend) abzusehen ist; der Beklagten steht insoweit kein Ermessen zu.
103
Im Übrigen befindet sich in der Akte ein aus dem Jahr 2018 stammender Strafbefehlsentwurf des Amtsgerichts Augsburg (Bl. 376 ff. der Behördenakte), in welchem dem Kläger eine gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung zur Last gelegt wird. Das Gericht nimmt nicht an, dass der Strafbefehl erlassen und rechtskräftig wurde. Schließlich weist der Bundeszentralregisterauszug des Klägers vom 9. April 2019 keine Eintragungen auf. Im Übrigen ist in den Fällen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG auch von der Regelerteilungsvoraussetzung des Nichtvorliegens eines Ausweisungsinteresses (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) abzusehen (vgl. § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG).
104
d) Bei (hier gegebener) Erfüllung der Voraussetzungen des § 25 Abs. 3 AufenthG hat die Ausländerbehörde grundsätzlich keinen Ermessensspielraum. Eine andere Annahme wäre nur beim Vorliegen eines atypischen Falles denkbar. Hierfür bestehen jedoch aus Sicht des Gerichts keinerlei Anhaltspunkte. Insbesondere sind zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keine Hinweise dafür erkennbar, dass das Bundesamt einen Widerruf des Abschiebungsverbots hinsichtlich des Klägers beabsichtigt bzw. bereits ein derartiges Widerrufsverfahren eingeleitet hätte (vgl. hierzu: Zimmerer, in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 11. Edition, Stand 15.4.2022, Rn. 45 zu § 25 AufenthG). Vor diesem Hintergrund war die Beklagte unmittelbar zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu verpflichten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
105
e) Nachdem sich der Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bereits aus § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ergibt, bedarf es keiner gerichtlichen Ausführungen zu § 25 Abs. 5 AufenthG.
III.
106
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Beklagte hat als unterlegener Teil die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.