Titel:
Dublin-III Verfahren, Ungarn: Erfolgreicher Eilantrag aufgrund systemischer Mängel
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a
EMRK Art. 3
Dublin III-VO Art. 3
Leitsatz:
Die derzeitige verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, der sich das Gericht anschließt, hält an der Annahme des Bestehens von systemischen Mängeln im ungarischen Asylverfahren weiterhin fest. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Zielstaat Ungarn, Systemische Mängel (bejaht)
Fundstelle:
BeckRS 2022, 20654
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 9. Juni 2022 mit dem Aktenzeichen M 30 K22.50353 wird hinsichtlich Nr. 3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 25. Mai 2022 (Gesch.-Z.: …) angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
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Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Ungarn im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
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Die afghanische Antragstellerin zu 1. reiste nach eigenen Angaben mit ihren Kindern, den Antragstellern zu 2. bis 4., am 1. November 2021 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 27. Januar 2022 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (fortan Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.
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Bei ihrer Befragung vor dem Bundesamt am 27. Januar 2022 sowie ihrer dortigen Anhörung am 6. April 2022 gab die Antragstellerin zu 1. an, ihr Heimatland mit ihren Kindern am 23. August 2021 verlassen zu haben und unter anderem über Ungarn und Österreich nach Deutschland eingereist zu sein. In Ungarn hätten sie sich zwei Monate aufgehalten, ohne jedoch einen Asylantrag gestellt zu haben.
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Eine EURODAC-Recherche vom 1. November 2021 ergab keinen Treffer. Das Bundesamt stellte ausweislich der Zugangsbestätigung vom 1. Februar 2022 ein Wiederaufnahmeersuchen an Ungarn, welches dieses mit Mitteilung vom 7. Februar 2022, dem Bundesamt am gleichen Tage zugegangen, annahm.
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Mit Bescheid vom 25. Mai 2022 - Gesch.-Z.: …, zugestellt am 2. Juni 2022, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2).
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Es ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von elf Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4). Zur Begründung führte es insbesondere aus, dass Ungarn aufgrund der dortigen illegalen Einreise für den in Deutschland gestellten Asylantrag zuständig sei. Gründe zur Annahme systemischer Mängel im ungarischen Asylverfahren und der dortigen Aufnahmebedingungen lägen nicht vor.
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Die Antragsteller erhoben am 9. Juni 2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 30 K 22.50353) und begehren zugleich vorläufigen Rechtsschutz (M 30 S 22.50354). Zur Begründung tragen sie vor, dass sich die Situation betreffend dem ungarischen Asylverfahren seit der Feststellung systemischer Mängel durch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in den Jahren 2017 und 2018 nicht zugunsten der Schutzsuchenden verändert habe. Auch die im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 14. Mai 2020 veranlassten Änderungen führten nicht zu einer grundlegenden Änderung der Rechtspraxis. Die Europäische Kommission hat auch gegen diese Neuregelung ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. In Ungarn existieren weder bedarfssichernde Sozialleistungen noch sind diese für Schutzsuchende erreichbar. Auch seien keine gesicherten Leistungen von Nichtregierungsorganisationen oder kirchlichen Organisationen verfügbar. Eine ausreichende Existenzsicherung sei nicht möglich.
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Die Antragsteller beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in dem angefochtenen Bescheid enthaltene Abschiebungsanordnung nach Ungarn anzuordnen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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Die Antragsgegnerin nimmt hinsichtlich der Begründung ihres Antrags zunächst Bezug auf den streitgegenständlichen Bescheid. Des Weiteren verweist sie darauf, dass Ungarn seine Zuständigkeit bejaht hat, weshalb davon auszugehen sei, dass es seinen Verpflichtungen zur ordnungsgemäßen Prüfung der Asylbegehren nachkommen werde. Auf Art. 78 AEUV und die in diesem Zusammenhang erlassenen Richtlinien, zu deren Einhaltung sich Ungarn verpflichtet hat, werde verwiesen. Vorliegend habe Ungarn sogar eine Zusicherung abgegeben, dass die Antragsteller entsprechend den Normen der Aufnahme-RL 2013/33/EU untergebracht und ihre Anträge nach Maßgabe der Asylverfahrens-RL 2013/32/EU bearbeitet werden.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Verfahren sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
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1. Der Antrag hat Erfolg.
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Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist zulässig, da wegen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG der Klage keine aufschiebende Wirkung zukommt und er innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt wurde.
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Der Antrag ist darüber hinaus auch begründet.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind einerseits das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts und andererseits das Interesse der Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hierbei der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
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Die Rechtmäßigkeit der auf Grundlage des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG erlassenen Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheids vom 25. Mai 2022 begegnet bei summarischer Prüfung durchgreifenden Bedenken, weshalb die Interessensabwägung im vorliegenden Fall zu Lasten der Antragsgegnerin ausfällt.
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Die Antragsgegnerin ist dabei aller Voraussicht nach unzutreffend davon ausgegangen, dass Ungarn der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragsteller ist.
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Zwar ist nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) - im Folgenden: Dublin III-VO - für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
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Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht dabei vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien wäre Ungarn zunächst für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Denn gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ist derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, über dessen Grenze der Asylbewerber aus einem Drittstaat illegal eingereist ist. Das war bereits nach dem eigenen Vortrag der Antragsteller Ungarn. Auch hat Ungarn mit Schreiben vom 7. Februar 2022 das deutsche Wiederaufnahmegesuch angenommen.
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Vorliegend ist die Zuständigkeit aber gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 der Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen, weil eine Überstellung an Ungarn als den zuständigen Mitgliedsstaat an Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Dublin III-VO scheitern würde.
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Es liegen wesentliche Gründe für die Annahme vor, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) mit sich bringen.
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Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 - juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - „Jawo“ - juris Rn. 80 f.; U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - „Ibrahim u.a.“ - juris Rn. 84; U.v. 21.12.2011 - C-411/10, C-493/10 - juris Rn. 79 ff.) ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Ungarn über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches prinzipiell funktionsfähig ist und insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen muss.
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Diese nicht unwiderlegliche Vermutung ist aber erschüttert. Von systemischen Mängeln ist dabei auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10, C-493/10 - juris Rn. 86 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris Ls. und Rn. 6). Systemische Schwachstellen sind dabei nur dann als Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zu werten, wenn eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht wird, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese Schwelle ist nach der Rechtsprechung des EuGH aber selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann. Die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats muss nach Ansicht des EuGH zur Folge haben, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinden wird, die es ihr nicht erlauben wird, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 92 f.). Der in diesem Rahmen maßgebliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit muss sich auf der Basis einer Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände ergeben und darf sich nicht nur auf einzelne Mängel des Systems beziehen (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris Rn. 6; EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 - NVwZ 2012, 417, Rn. 80; VGH BaWü, U.v. 16.4.2014 - A 11 S 1721/13 - juris Rn. 41).
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Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in den Jahren 2017 und 2018 festgestellt, dass eine Abschiebung nach Ungarn unzulässig ist, weil das Asylverfahren auch für Dublin-Rückkehrer an systemischen Mängeln leidet (vgl. BayVGH, U.v. 31.01.2018 - 9 B 17.50039; B.v. 29.01.2018 - 20 B 16.50000; B.v. 23.1.2018 - 20 B 16.50073, U.v. 23.03.2017 - 13a B 16.30951; 13a B 17.50003 - alle bei juris veröffentlicht).
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Der Gerichtshof der Europäischen Union stellte mit Urteilen vom 14. Mai 2020 (C-924/19 PPU; C-925/19 PPU - juris) und 17. Dezember 2020 (C-808/18 - juris) fest, dass Ungarn mehrfach gegen geltendes Europarecht, insbesondere die EU-Richtlinien 2008/115/EG, 2013/32/EU sowie 2013/33/EU verstoßen hat.
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Die Europäische Kommission führt derzeit ein Vertragsverletzungsverfahren wegen aus ihrer Sicht rechtswidriger Beschränkung des Zugangs zum Asylverfahren (vgl. Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 15.7.2021, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_3424 - abgerufen am 11.8.2022).
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Am 12. November 2021 hat die Europäische Kommission Ungarn erneut verklagt, weil die ungarische Regierung das Urteil vom 17. Dezember 2020 dem Verfassungsgericht zur Überprüfung vorgelegt hat und damit aus Sicht der Europäischen Kommission das Urteil nicht befolgt und somit gegen den Vorrang des Europarechts verstoßen soll (vgl. Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 12.11.2021, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_5801 - abgerufen am 11.8.2022). Das ungarische Verfassungsgericht wies den Einspruch der Regierung am 10. Dezember 2021 (Az.: X/477/2021 - englische Version am 11.8.2022 abgerufen unter https://hunconcourt.hu/uploads/sites/3/2021/12/x_477_2021_eng.pdf) zurück.
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Die derzeitige verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, der sich das Gericht anschließt, hält an der Annahme des Bestehens von systemischen Mängeln im ungarischen Asylverfahren weiterhin fest (vgl. VG München, B.v. 18.7.2022 - M 10 S 22.50218 - juris; VG Bremen, B.v. 6.4.2022 - 3 K 491/18 - juris; VG Aachen, B.v. 24.3.2022 - 5 L 199/22.A - juris; U.v. 3.2.2022 - 5 K 5443/17.A - juris; VG Würzburg, B.v. 9.2.2022 - W 1 S 22.50035 - BeckRS 2022, 2913; VG Ansbach, U.v. 22.10.2020 - AN 17 K 18.50922 - juris; VG Köln, U.v. 12.9.2019 - 20 K 13894/17.A - juris; dem Vorliegen systemischer Mängel - unter Vorbehalt von Zusicherungen - grundsätzlich zustimmend auch VG Regensburg, B.v. 7.3.2022 - RN 13 S 22.50079 - juris). Denn die Situation in Ungarn hat sich seitdem nicht grundlegend zugunsten der Asylbewerber und Dublin-Rückkehrer geändert: Zwar wurden die sogenannten Transit-Zonen nach der grundlegenden Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 2020 (C-924/19 PPU u.a.) mit Wirkung ab dem 21.05.2020 geschlossen; hinsichtlich der Inhaftierung von Asylbewerbern hat dies indessen keine grundlegende Änderung der Rechtspraxis mit sich gebracht (VG Würzburg, a.a.O., Rn. 19). Im Anschluss auf die Schließung der Transit-Zonen führte Ungarn ein neues System ein, wonach Asylanträge grundsätzlich, mit wenigen Ausnahmen etwa für bereits anerkannt Schutzberechtigte und ihre Familien, nur noch gestellt werden können, wenn die Schutzsuchenden zuvor bei den ungarischen Botschaften in Kiew oder Belgrad eine „Absichtserklärung“ abgegeben haben und diese von den Asylbehörden bestätigt werden (AIDA, Country Report: Hungary - 2021 Update, April 2022, https://asylumineurope.org/wp-content/uploads/2022/04/AIDA-HU_2021update.pdf, S. 13). Auch für Dublin-Rückkehrer finden sich hinsichtlich der Voraussetzungen für die Stellung eines Asylantrages keine Ausnahmen (AIDA, aaO. S. 48). Folglich Es ist bei einer Überstellung nach Ungarn weder sichergestellt, dass die Antragsteller dort einen Asylantrag stellen können, noch, dass rechtsstaatliche Verfahrensbedingungen eingehalten werden (vgl. VG Würzburg, a.a.O., Rn. 19). Ein weiterer Gesichtspunkt für die fortbestehenden systemischen Mängel ergibt sich auch aus dem Umstand, dass im Jahr 2021 lediglich 38 Personen in der Lage waren, ein förmliches Asylverfahren in Ungarn zu eröffnen, Ungarn gleichzeitig im selben Jahr jedoch 72.787 Personen mittels Push-Backs nach Serbien abgeschoben hat (vgl. AIDA, a.a.O., S. 13).
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Die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid vermögen die Annahme systemischer Mängeln im ungarischen Asylverfahren nicht in Zweifel zu ziehen. Vielmehr geht Antragsgegnerin auf Seite 11 ihres Bescheides selbst davon aus, dass sie Rücküberstellungen nur bei Vorliegen einer schriftlichen Zusicherung Ungarns über die Einhaltung der Aufnahme-RL 2013/33/EU und Asylverfahrens-RL 2013/32/EU im Einzelfall durchgeführt werden können. Soweit die Antragsgegnerin dagegen pauschal auf Art. 78 AEUV und die grundsätzliche Pflicht Ungarns zur Einhaltung des Europarechts verweist, ist dem zu entgegnen, dass aufgrund der vergangenen und aktuellen ungarischen Gesetzgebung und Verwaltungspraxis zur Überzeugung des Gerichts nicht davon ausgegangen werden kann, dass Ungarn derzeit einer willkürfreien und rechtsstaatlichen Einhaltung des europäischen Asylrechts, insbesondere der Aufnahme-RL 2013/33/EU und Asylverfahrens-RL 2013/32/EU, nachkommt.
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Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus der mit E-Mail vom 17. Mai 2022 auf Bitten der Antragsgegnerin übersandten und von dieser als „Zusicherung“ bezeichneten Erklärung Ungarns (vgl. hierzu auch VG Würzburg, a.a.O., Rn. 20; a.A. VG Regensburg, a.a.O., S. 8 f.). Die Erklärung selbst enthält weder einzelfallspezifische Angaben zu den Antragstellern noch sonstige Merkmale, wie etwa eine Unterschrift der die Erklärung verantwortenden Person oder eine Datumsangabe, die darauf schließen lassen könnten, dass Ungarn mit der Erklärung tatsächlich eine individuelle Zusicherung im Einzelfall für die Antragsteller ausstellen wollte und sich an diese auch tatsächlich gebunden fühlt. Auch die die Erklärung übermittelnde E-Mail vom 17. Mai 2022 enthält keine konkretisierenden Erläuterungen. Die übermittelte Erklärung kann somit nicht als geeignete Zusicherung Ungarns für den Einzelfall zur Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien sowie des europäischen Asylrechts angesehen werden.
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2. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO anzuordnen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).