Inhalt

OLG Nürnberg, Urteil v. 20.07.2022 – 12 U 3278/20
Titel:

Keine Schadensersatzansprüche für vom Diesel-Abgasskandal betroffenes Fahrzeug bei Erwerb im Dezember 2016 (hier: Audi Q5)

Normenketten:
BGB § 199 Abs. 3 Nr. 1, § 438, § 823 Abs. 2, § 826, § 831
VO (EG) Nr. 715/2007 Art. 5 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
AEUV Art. 267
Leitsätze:
1. Vgl. zum Kauf nach Bekanntwerden des Dieselskandals: BGH BeckRS 2020, 19146; BeckRS 2022, 6824; für Konzernmarken bestätigt mit BGH BeckRS 2020, 45195; BeckRS 2021, 21700; vgl. auch OLG Koblenz BeckRS BeckRS 2022, 25149; 2020, 24503; BeckRS 2020, 27244; OLG Hamm BeckRS 2020, 23982; OLG Stuttgart BeckRS 2020, 45695 sowie mit zahlreichen weiteren Nachweisen OLG Naumburg BeckRS 2020, 30002 (dort Ls. 1); OLG Bamberg BeckRS 2020, 33154 (dort Ls. 1); OLG München BeckRS 2020, 27980 (dort Ls. 1); OLG Stuttgart BeckRS 2020, 7457 (dort Ls. 4); noch weitergehend: OLG Braunschweig BeckRS 2020, 28511; zur früheren aA vgl. zusammenfassend OLG München BeckRS 2020, 33025 (Ls. 1 am Ende); OLG Oldenburg BeckRS 2020, 31981; OLG Köln BeckRS 2020, 35968; BeckRS 2020, 22663. (redaktioneller Leitsatz)
2. Aufgrund der Verlautbarung seitens VW vom 22.09.2015 und ihrer als sicher vorherzusehenden medialen Verbreitung war typischerweise nicht mehr damit zu rechnen, dass Käufer von VW-Fahrzeugen mit Dieselmotoren die Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben zu Emissionswerten noch als selbstverständlich voraussetzen würden. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Umstand, dass mit dem Update nicht nur die unzulässige Manipulationssoftware entfernt wird, sondern auch eine - unterstellt nachteilige - Veränderung des Kraftstoffverbrauchs oder sonstiger Parameter verbunden ist, reicht nicht aus, um das Gesamtverhalten von VW als sittenwidrig zu qualifizieren (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Schlussanträge des Generalanwalts Rantos vom 02.06.2022 führen zu keiner anderen Bewertung (vgl. insoweit auch OLG Nürnberg BeckRS 2022, 18679; BeckRS 2022, 16603). (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, EA 189, unzulässige Abgasabschalteinrichtung, sittenwidrige Schädigung, Nachkauf, ad-hoc-Mitteilung, Software-Update, Veränderung des Kraftstoffverbrauchs, Schlussanträge, Generalanwalt
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 25.08.2020 – 9 O 7666/19
Fundstelle:
BeckRS 2022, 20388

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 25.08.2020, Az. 9 O 7666/19, wird zurückgewiesen.
2. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Vollstreckung jeweils gegen Sicherheitsleistung in Höhe 110% des vollstreckenden Betrags abwenden, wenn die Gegenseite nicht zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 31.000,00 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

I.
1
Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat mit dem angefochtenen Ersturteil die Klage abgewiesen.
2
Auf die tatsächlichen Feststellungen dieser Entscheidung wird Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
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Hiergegen richtet sich die Berufung der Klagepartei, mit der diese ihr erstinstanzliches Klagebegehren weiterverfolgt .
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Im Berufungsrechtszug beantragte die Klagepartei zunächst:
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Das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 25.08.2019, 9 O 1666/19 wird aufgehoben und wie folgt abgeändert. Es wird festgestellt, dass die Beklagtenpartei verpflichtet ist, der Klägerpartei Schadensersatz zu leisten für Schäden, die aus der Manipulation des Fahrzeugs Audi Q5 (Fahrzeugidentifikationsnummer:) durch die Beklagtenpartei re sultieren.
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Die Beklagte wird verurteilt, die Klagepartei von den durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten der Klagepartei entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.419,06 € freizustellen.
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Hilfsweise für den Fall, dass der Berufungsantrag Nr. 2 für unzulässig oder unbegründet angesehen werde, Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerpartei Schadensersatz zahlen für Schäden, die daraus resultieren, dass die Beklagtenpartei in den Motor, Typ EA 189, des Fahrzeugs Audi Q5 (Fahrzeugsidentifikationsnummer: ) mindestens eine unzulässige Abschalteinrichtung in der Form einer Software eingebaut hat, die bei Erkennung standardisierter Prüfstandsituationen (NEFZ) die Abgasaufbereitung so optimiert, dass möglichst wenige Stickoxide (NOx) entstehen und die Stickstoffemissionsmesswerte reduziert werden, und die im Normalbetrieb Teile der Abgaskontrollanlage außer Betrieb setzt, so dass es zu einem höheren NOx-Ausstoß führt, bzw. in Gestalt einer Funktion, die durch Bestimmung der Außentemperatur die Parameter der Abgasbehandlung so verändert, dass die Abgasnachbehandlung außerhalb eines Temperaturfensters von 17 °C bis 33 °C reduziert wird (sogenanntes Thermofenster).
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Mit Schriftsatz vom 22.06.2022 hat die Klagepartei ihre Antragstellung dahin geändert, dass sie nunmehr hinsichtlich des Berufungsantrages Nr. 2 beantragt, wie folgt zu erkennen:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei 35.000,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen, abzüglich einer in das Ermessen des Gerichts gestellten Entschädigung für die Nutzung des Fahrzeugs Audi Q5 (Fahrzeugidentifikationsnummer: und Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs Audi Q5 (Fahrzeugidentifikationsnummer:).
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Die Klagepartei beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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Hinsichtlich des Vortrags der Parteien in beiden Rechtszügen wird auf die gewechselten Schriftsätze und die gerichtlichen Sitzungsprotokolle verwiesen.
II.
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Die zulässige Berufung der Klagepartei ist unbegründet.
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Das Landgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.
13
Ausführungen zur Frage der Zulässigkeit des ursprünglich von der Klagepartei gestellten Antrags auf Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten erübrigen sich im Hinblick darauf, dass die Klagepartei ihre Antragstellung zuletzt (im Rahmen einer grundsätzlich sachdienlichen Klageänderung, § 264 Nr. 2 ZPO) in einen Leistungsantrag abgeändert hat. Der geänderte Antrag ist jedoch unbegründet, weil es sich um einen sogenannten Spätkauf handelt.
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1. Zwar ist die Beklagte hinsichtlich der erhobenen Klage passiv legitimiert.
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Sie ist die Herstellerin des im streitgegenständlichen Fahrzeug verbauten Motors. Nach ihrer Intention sollte dieses Fahrzeug einschließlich des bezeichneten Motors im Vertriebsweg den Endkunden erreichen.
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2. Die Klagepartei hat gegen die Beklagte jedoch im Hinblick auf den Zeitpunkt, zu dem sie das streitgegenständliche Fahrzeug erworben hat, keinen Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 826 BGB (vorsätzliche sittenwidrige Schädigung), gerichtet auf Erstattung des für das Fahrzeug gezahlten Kaufpreises (unter Anrechnung des gezogenen Nutzungsvorteils und Zurverfügungstellung des Fahrzeugs an die Beklagte).
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a) Der Senat folgt der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.
18
Danach steht es wertungsmäßig zwar einer unmittelbaren arglistigen Täuschung des Fahrzeugkäufers gleich, wenn ein Fahrzeughersteller - wie hier - im Rahmen einer von ihm bei der Motorenentwicklung getroffenen strategischen Entscheidung die Typgenehmigungen der Fahrzeuge durch arglistige Täuschung des Kraftfahrtbundesamts erschleicht und die derart bemakelten Fahrzeuge alsdann in Verkehr bringt und dadurch die Arglosigkeit und das Vertrauen der Fahrzeugkäufer gezielt ausnutzt (Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19).
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Der der Klagepartei aus dieser Täuschung kausal entstandene Schaden liegt im Abschluss eines Kaufvertrags über ein infolge der erschlichenen Typgenehmigung bemakeltes Fahrzeug, den sie bei Kenntnis der Fakten nicht geschlossen hätte. Denn bei einem Kaufvertrag über einen Pkw ist nach allgemeiner Lebenserfahrung davon auszugehen, dass ein Käufer kein Fahrzeug erwerben würde, dem eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung droht und bei dem zum Zeitpunkt des Erwerbs nicht absehbar ist, ob dieses Problem behoben werden kann (Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19).
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Allerdings ist für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als sittenwidrig im Sinne von § 826 BGB in einer Gesamtschau dessen Gesamtcharakter zu ermitteln; dieser Bewertung ist das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu legen. Dies wird insbesondere dann bedeutsam, wenn - wie hier - die erste potenziell schadensursächliche Handlung und der Eintritt des Schadens zeitlich auseinanderfallen und der Schädiger sein Verhalten zwischenzeitlich nach außen erkennbar geändert hat (Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 5/20; Urteil vom 08.12.2020 - VI ZR 244/20; Beschluss vom 09.03.2021 - VI ZR 889/20).
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b) Im Streitfall erwarb die Klagepartei das streitgegenständliche Fahrzeug mit Kaufvertrag vom 05.12.2016 (Anlage K1). Erst in diesem Zeitpunkt ist ihr Schaden entstanden.
22
Bereits zuvor - am 22.09.2015 - hatte die Beklagte im Rahmen einer Adhoc-Mitteilung und einer gleichlautenden Pressemitteilung gerichtsbekannt „Unregelmäßigkeiten“ in Bezug auf die verwendete Motorsteuerungssoftware bei Dieselmotoren vom Typ EA189 eingeräumt, die zu einer „auffälligen Abweichung“ zwischen Prüfstandswerten und realem Fahrbetrieb führten, und in Abstimmung mit den zuständigen Behörden die Entfernung der Software und Maßnahmen zur Wiederherstellung der Vorschriftsmäßigkeit angekündigt. Über die Verwendung der Abschalteinrichtung der Motorsteuerungssoftware wurde ab September 2015 in Presse, Funk und Fernsehen umfangreich und wiederholt berichtet; sie war unter Bezeichnungen wie „Diesel-Gate“, „Dieselskandal“ oder „VW-Abgasskandal“ monatelang ein die Nachrichten beherrschendes Thema. Auch über die von der Beklagten in der Folge veranlasste Bereitstellung eines Software-Updates wurde in den Medien breit berichtet.
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c) Hiervon ausgehend war bereits die Mitteilung der Beklagten vom 22.09.2015 objektiv geeignet, das Vertrauen potenzieller Käufer von Fahrzeugen mit VW-Dieselmotoren in eine vorschriftsgemäße Abgastechnik zu zerstören, diesbezügliche Arglosigkeit also zu beseitigen. Aufgrund der Verlautbarung und ihrer als sicher vorherzusehenden medialen Verbreitung war typischerweise nicht mehr damit zu rechnen, dass Käufer von VW-Fahrzeugen mit Dieselmotoren die Erfüllung der hier maßgeblichen gesetzlichen Vorgaben noch als selbstverständlich voraussetzen würden. Für die Ausnutzung einer diesbezüglichen Arglosigkeit war damit kein Raum mehr; hierauf konnte das geänderte Verhalten der Beklagten nicht mehr gerichtet sein. Aus der Mitteilung vom 22.09.2015 ging weiter hervor, dass „die zuständigen Behörden“ und das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) bereits involviert waren. Die anschließende Berichterstattung über die Anordnungen des KBA gegenüber der Beklagten ließ erwarten, dass ein Misslingen der behördlicherseits geforderten Herstellung eines vorschriftsmäßigen Zustandes - auch für die Fahrzeughalter - nicht folgenlos bleiben würde. Die Beklagte hat ihre strategische unternehmerische Entscheidung, im eigenen Kosten- und Gewinninteresse das KBA und letztlich die Fahrzeugkäufer zu täuschen, ersetzt durch die Strategie, an die Öffentlichkeit zu treten, Unregelmäßigkeiten einzuräumen und in Zusammenarbeit mit dem KBA Maßnahmen zur Beseitigung des gesetzwidrigen Zustandes zu erarbeiten, um die Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung zu bannen. Tatsächlich ist ihr dies durch die Entwicklung und Bereitstellung eines Software-Updates für den hier betroffenen Fahrzeugtyp und andere Typen gelungen, mag das Software-Update in dem streitgegenständlichen Fahrzeug auch erst nach dem Erwerb durch die Klagepartei aufgespielt worden sein. Indem die Beklagte ihre Vertragshändler über die Verwendung der Abschalteinrichtung informiert hat, hat sie sie zudem in die Lage versetzt, etwaige Kaufinteressenten über die Abgasproblematik der betroffenen Fahrzeuge aufzuklären. Ferner räumte die Beklagte jedem, der Kenntnis von der Fahrzeugidentifizierungsnummer des jeweiligen Fahrzeugs hatte, über einen auf ihrer Website geschalteten Link die Möglichkeit ein, sich selbst im Internet Klarheit zu verschaffen, ob das Fahrzeug der Nachrüstung bedurfte. Ihre bislang gleichgültige Gesinnung im Hinblick auf etwaige Folgen und Schäden für Käufer ihrer Fahrzeuge hat sie damit aufgegeben. Ihr nunmehriges Bemühen um die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben zeugt zudem von der Aufgabe ihrer gleichgültigen und rücksichtslosen Gesinnung im Hinblick auf die die Umwelt und Gesundheit der Bevölkerung schützenden Rechtsvorschriften (BGH, Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 5/20, Rn. 35-37; Urteil vom 08.12.2020 - VI ZR 244/20, Rn. 14ff.; Beschluss vom 09.03.2021 - VI ZR 889/20, Rn. 17ff.).
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d) Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung kann das Verhalten der Beklagten bis zum Abschluss des streitgegenständlichen Kaufvertrags am 05.12.2016 einer Täuschung nicht mehr gleichgesetzt werden (BGH a.a.O., Rn. 38). Insoweit kommt es nicht auf die Frage an, ob die Klagepartei subjektiv über die unzulässige Abschalteinrichtung der Motorsteuerungssoftware informiert wurde; vielmehr liegen seit 22.09.2015 bereits die objektiven Voraussetzungen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung seitens der Beklagten aufgrund des Einsatzes dieser Software nicht mehr vor.
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e) An dieser Beurteilung ändert der Umstand nichts, dass die Klagepartei kein Fahrzeug der Marke „Volkswagen“, vielmehr ein solches der Marke Audi erworben hat, welches von der Tochtergesellschaft der Beklagten Audi AG hergestellt worden war. Die Beklagte hat in der Adhoc-Mitteilung vom 22.09.2015 explizit darauf verwiesen, „dass die betreffende Steuerungssoftware auch in anderen Dieselfahrzeugen des Volkswagen-Konzerns vorhanden ist “. Hiervon waren auch mit dem Motor EA 189 ausgestattete Fahrzeuge von Konzerngesellschaften der Beklagten erfasst (vgl. BGH, Urteil vom 23.03.2021 - VI ZR 1180/20, Rn. 15 f.).
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f) Die Verwerflichkeit des Verhaltens der Beklagten setzte sich auch nicht deshalb in lediglich veränderter Form fort, weil die Beklagte nach Vortrag der Klagepartei mit dem zur Beseitigung der unzulässigen Prüfstandserkennungssoftware entwickelten Software-Update eine temperaturabhängige Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) implementiert hat. Selbst wenn zugunsten der Klagepartei unterstellt wird, dass eine derartige temperaturbeeinflusste Steuerung der Abgasrückführung als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizieren ist (vgl. EuGH, Urteil vom 17.12.2020 - C-693/18, Celex-Nr. 62018CJ0693), reicht der darin liegende - unterstellte - Gesetzesverstoß nicht aus, um das Gesamtverhalten der Beklagten als sittenwidrig zu qualifizieren. Der Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems ist nicht von vornherein durch Arglist geprägt. Sie führt nicht dazu, dass bei erkanntem Prüfstandsbetrieb eine verstärkte Abgasrückführung aktiviert und der Stickoxidausstoß gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduziert wird, sondern arbeitet in beiden Fahrsituationen im Grundsatz in gleicher Weise. Unter den für den Prüfzyklus maßgebenden Bedingungen (Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit, Geschwindigkeit, Widerstand etc.) entspricht die Rate der Abgasrückführung im normalen Fahrbetrieb derjenigen auf dem Prüfstand. Bei dieser Sachlage hätte sich die Verwerflichkeit des Verhaltens der Beklagten durch die Implementation des Thermofensters nur dann fortgesetzt, wenn zu dem - hier unterstellten - Verstoß gegen Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 im Zusammenhang mit der Entwicklung und Genehmigung des Software-Updates weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Dies setzt jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Applikation der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine (weitere) unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Fehlt es hieran, ist der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt (BGH, Beschluss vom 09.03.2021 - VI ZR 889/20, Rn. 23ff.).
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Die Berufung zeigt aber keinen Sachvortrag der insoweit darlegungsbelasteten Klagepartei (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19, Rn. 35; Beschluss vom 19.01.2021 - VI ZR 433/19, Rn. 19) auf, dem für ein solches Vorstellungsbild der für die Beklagte handelnden Personen sprechende Anhaltspunkte zu entnehmen wären.
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g) Eine abweichende Beurteilung ist auch nicht deshalb geboten, weil das von der Beklagten im Anschluss an ihre Adhoc-Mitteilung vom 22.09.2015 entwickelte Software-Update nach Vortrag der Klagepartei negative Auswirkungen auf den Kraftstoffverbrauch und den Verschleiß der betroffenen Fahrzeuge hat. Dies rechtfertigt den Vorwurf besonderer Verwerflichkeit in der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht. Der Umstand, dass mit dem Update nicht nur die unzulässige Manipulationssoftware entfernt wird, sondern auch eine - unterstellt nachteilige - Veränderung des Kraftstoffverbrauchs oder sonstiger Parameter verbunden ist, reicht nicht aus, um das Gesamtverhalten der Beklagten als sittenwidrig zu qualifizieren (BGH, Beschluss vom 09.03.2021 - VI ZR 889/20, Rn. 30).
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3. Der Klagepartei steht auch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 VO 715/2007/EG) kein Schadensersatzanspruch zu. Die vorgenannten Normen sind keine Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB; das Interesse der Klagepartei, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, ist von den genannten Vorschriften nicht geschützt (BGH, Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 5/20, Rn. 10ff.; Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19, Rn. 74). Die RL 2007/46/EG selbst scheidet mangels unmittelbarer Geltung (vgl. Art. 288 Abs. 3 AEUV) als Schutzgesetz im Sinn von § 823 Abs. 2 BGB aus (vgl. Sprau in Grüneberg, BGB, 81. Aufl. 2022, § 823 Rn. 57 m.w.N.).
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a) Dafür, dass der EU-Verordnungsgeber durch die VO (EG) Nr. 715/2007 (Grundverordnung) oder die RL 2007/46/EG sowie der nationale Gesetzgeber in Umsetzung der RL 2007/46/EG durch die EG-FGV auch die wirtschaftlichen Interessen individueller Erwerber von Kraftfahrzeugen schützen wollen, sind keine Anhaltspunkte ersichtlich.
31
Die Grundverordnung soll dem Umweltschutz (vgl. Erwägungsgrund Nr. 1), insbesondere der Verbesserung der Luftqualität (vgl. Erwägungsgründe 4, 5, 6 und 13) - und damit auch der Gesundheit der EU-Bürger - sowie der Harmonisierung des Binnenmarktes (vgl. Erwägungsgründe Nr. 1, 17) dienen, nicht aber dem Schutz der Vermögensinteressen einzelner EU-Bürger. Auch die Rahmenrichtlinie 2007/46/EG, die durch die EG-FGV in deutsches Recht umgesetzt worden ist, dient nicht dem Schutz der Vermögensinteressen der einzelnen EU-Bürger. Durch sie soll vielmehr eine vollständige Harmonisierung der Zulassungsvorschriften für Fahrzeuge erreicht werden. Daneben wird in den Erwägungsgründen neben dem Ziel einheitlicher Vorgaben für die Hersteller die Verkehrssicherheit, der Gesundheits- und Umweltschutz, eine rationelle Energienutzung und ein wirksamer Schutz gegen unbefugte Benutzung genannt (vgl. Erwägungsgrund Nr. 3 Satz 2 der Rahmenrichtlinie), aber eben nicht der Schutz der Vermögensinteressen der einzelnen EU-Bürger (vgl. auch BGH, Urteil vom 30.07.2020 - VI ZR 5/20, juris Rn. 11; Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19, juris Rn. 74.
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Daran ändern auch die Stellungnahme der Europäischen Kommission vom 19.12.2019 in der Rechtssache C-663/19 und die Schlussanträge des Generalanwalts vom 23.09.2021 in den Rechtssachen C-128/20, C-134/20 und C-145/20 nichts (vgl. BGH, Beschluss vom 14.02.2022 - VIa ZR 204/21 m.w.N.). Gleiches gilt für die Stellungnahme der EU-Kommission vom 05.07.2021 in der Rechtssache C-100/21. Diese deckt sich inhaltlich mit der Stellungnahme der EU-Kommission zum bereits aus dem Register des Gerichtshofs der Europäischen Union gestrichenen Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Gera, in der sie zur RL 2007/46/EG und zur Grundverordnung ausführt, dass diese „den Schutz aller Käufer eines Fahrzeugs einschließlich des Endkunden vor Verstößen des Herstellers gegen seine Verpflichtung, neue Fahrzeuge in Übereinstimmung mit ihren genehmigten Typen beziehungsweise den für ihren Typ geltenden Rechtsvorschriften nach Anhang IV zur RL 2007/46 … in den Verkehr bringen“ (bezwecke). Dies besagt aber für die hier allein interessierende Frage, ob damit auch der Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts und damit der Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrages erfasst sein soll, nichts (vgl. BGH, Beschluss vom 10.11.2021 - VII ZR 280/21, juris Rn. 27).
33
b) Auch die Schlussanträge des Generalanwalts Rantos vom 02.06.2022 in der Rechtssache C-100/21 führen zu keiner anderen Bewertung. Selbst wenn entsprechend der in diesen Schlussanträgen (dort Rn. 50 und Rn. 78 Nr. 1) vertretenen Auffassung zu Argumentationszwecken unterstellt würde, die RL 2007/46/EG solle (auch) das Interesse des individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, handelt es sich bei den zur Umsetzung der Richtlinie erlassenen §§ 6 und 27 EG-FGV nicht um Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB. Der VO (EG) Nr. 715/2007, die unmittelbar anwendbar ist, misst der Generalanwalt selbst keine Schutzwirkung zugunsten von Vermögensinteressen von Fahrzeugerwerbern zu.
34
aa) Eine Rechtsnorm ist ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, wenn sie zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsguts zu schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt und Zweck des Gesetzes sowie darauf an, ob der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zu Gunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mitgewollt hat. Es genügt, dass die Norm auch das Interesse des Einzelnen schützen soll, mag sie auch in erster Linie dasjenige der Allgemeinheit im Auge haben. Nicht ausreichend ist aber, dass der Individualschutz durch Befolgung der Norm nur als ihr Reflex objektiv erreicht wird; er muss vielmehr im Aufgabenbereich der Norm liegen. Außerdem muss die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs sinnvoll und im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheinen, wobei in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die Norm gestellt ist, zu prüfen ist, ob es in der Tendenz des Gesetzgebers liegen konnte, an die Verletzung des geschützten Interesses die deliktische Einstandspflicht des dagegen Verstoßenden mit allen damit zugunsten des Geschädigten gegebenen Haftungs- und Beweiserleichterungen zu knüpfen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19 Rn. 73 m.w.N.).
35
bb) Diese Voraussetzungen sind bezogen auf §§ 6, 27 EG-FGV nicht gegeben. Denn mit diesen Vorschriften bezweckte der nationale Normgeber nicht den Schutz des Interesses eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, und die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs erschiene im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die Normen gestellt sind, weder sinnvoll noch tragbar.
36
Mit der Verordnung über die EG-Genehmigung für Kraftfahrzeuge und ihre Anhänger sowie für Systeme, Bauteile und selbstständige technische Einheiten für die Fahrzeuge (EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung - EG-FGV) - einer gemeinsamen Verordnung des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und des Bundesministeriums des Innern - bezweckte der nationale Normgeber in Umsetzung der RL 2007/46/EG in nationales Recht die Harmonisierung des öffentlichrechtlichen Zulassungsrechts von Kraftfahrzeugen, nicht jedoch den Schutz der Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Die letztgenannte Zielrichtung ergibt sich weder aus dem Wortlaut der nationalen Normen noch aus sonstigen Umständen. Vielmehr ist den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 (dort Rn. 42) im Gegenteil zu entnehmen, die Bundesregierung habe - in Übereinstimmung mit der allgemeinen Ansicht (vgl. dazu oben aa) - die Auffassung zum Ausdruck gebracht, die RL 2007/46/EG diene nicht dem Zweck, auch die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, zu schützen.
37
Auch in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die §§ 6, 27 EG-FGV gestellt sind, erschiene es weder sinnvoll noch tragbar, dem individuellen Erwerber eines Kraftfahrzeugs gestützt auf die genannten Normen einen Schadensersatzanspruch bereits dann einzuräumen, wenn ein Hersteller - gegebenenfalls bloß fahrlässig - ein Kraftfahrzeug mit einer gemäß Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 715/2007 unzulässigen 24 U 115/22 - 26 - Abschalteinrichtung ausgestattet hat.
38
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die nationalen Gerichte gehalten sind, das Gemeinschaftsrecht möglichst wirksam anzuwenden (effet utile), und nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aufgrund des Umsetzungsgebots gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV und des Grundsatzes der Gemeinschaftstreue gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet sind, die Auslegung des nationalen Rechts unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihnen das nationale Recht einräumt, soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen (richtlinien- bzw. unionsrechtskonforme Auslegung, vgl. EuGH, Urteil vom 10.12.2020 - C-735/19 Rn. 75; BGH, Urteil vom 18.11.2020 - VIII ZR 78/20 Rn. 25; jeweils m.w.N.). Einer Umsetzung von Richtlinien bedarf es allerdings nur insoweit, wie der bestehende Rechtszustand nicht bereits den Vorgaben der Richtlinie entspricht. Im Falle der Übereinstimmung von Richtlinienauftrag und nationalem Rechtszustand bedarf es weder einer Umsetzung noch eines Hinweises, dass die bestehenden nationalen Rechtsnormen nunmehr durch eine Richtlinienbestimmung festgeschrieben und in deren Licht zu interpretieren sind.
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Nach diesen Maßstäben bedarf es in der deutschen Rechtsordnung über die bestehenden Institute des Vertrags- und Deliktsrechts hinaus nicht der Einordnung der §§ 6, 27 EG-FGV als Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB, um das Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, angemessen zu schützen. Bereits das bestehende Recht hält zahlreiche - abgestufte - Instrumente bereit, die das Interesse des Erwerbers schützen, nicht ein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattetes Fahrzeug zu erwerben bzw. nutzen zu müssen, und auch einen erheblichen Anreiz für die Hersteller von Motoren bieten, unionsrechtliche Vorschriften einzuhalten. So ist ein Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher unerlaubter Handlung gemäß § 826 BGB (i.V.m. § 31 BGB bzw. § 831 BGB) gegen den Hersteller eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Motors zwar von strengen Voraussetzungen abhängig; diese wurden allerdings bereits in vielen tausenden Fällen mit der Folge einer Haftung des Motorenherstellers bejaht. Überdies stehen dem Erwerber eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs in aller Regel - verschuldensunabhängig - vertragliche Ansprüche zu, die insbesondere auf Nacherfüllung gerichtet sind und gegebenenfalls - falls es sich bei dem Verkäufer des Fahrzeugs nicht um den Motorenhersteller handeln sollte - zu Regressansprüchen gegen den Hersteller des Motors führen. Schließlich sind auch die nach deutschem Recht vorgesehenen Strafen und Bußgelder (u.a. § 37 Abs. 1 EG-FGV) und die hoheitlichen Befugnisse der Aufsichtsbehörden (vgl. § 25 EG-FGV) zu berücksichtigen. Die in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 (dort Rn. 58) wiedergegebene Auffassung des vorlegenden Gerichts, Hersteller hätten „nach derzeitigem Rechtsstand keine Inanspruchnahme zu befürchten“, trifft nach alledem erkennbar nicht zu.
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Das auf verschiedenen Anspruchsgrundlagen mit unterschiedlichen Voraussetzungen basierende bestehende System zeichnet sich dadurch aus, dass die den Hersteller treffenden Sanktionen und die dem Erwerber zustehenden Ansprüche erheblich davon abhängen, welcher Verschuldensvorwurf dem Hersteller zu machen ist. So ist beispielsweise ein Hersteller, der im Sinne von § 826 BGB vorsätzlich sittenwidrig geschädigt hat, nicht nur inhaltlich, sondern - aufgrund differenzierter Verjährungsvorschriften - auch zeitlich deutlich weitergehenden Rechtsfolgen ausgesetzt als ein solcher, den lediglich der Vorwurf leichter Fahrlässigkeit trifft.
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Dieses abgestufte und interessengerechte System würde im Ergebnis zerstört, wenn die §§ 6, 27 EG-FGV in der Weise als Schutzgesetze i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB ausgelegt würden, dass beispielsweise schon ein auf leichter Fahrlässigkeit beruhender Verstoß gegen sich aus der VO (EG) Nr. 715/2007 ergebende Verpflichtungen einen auf Rückabwicklung des Kaufvertrages gerichteten deliktischen Schadensersatzanspruch eines Fahrzeugerwerbers zur Folge hätte, der noch viele Jahre nach Herstellung des Motors geltend gemacht werden könnte. Eine derartig weitgehende, den Grad des Verschuldens nicht ausreichend berücksichtigende Haftung von Motorenherstellern stellte einen durch nichts gerechtfertigten Fremdkörper in der deutschen Rechtsordnung dar, der den - unter anderem in Art. 5 Abs. 4 EUV verankerten - Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Grundsätze des Vertrauensschutzes verletzte und in Hinblick auf Regelungen des Kaufrechts und die Haftung für sonstige Konstruktionsfehler Wertungswidersprüche mit sich brächte. So ergäben sich auch für weit zurückliegende Produktionszeiträume erhebliche Haftungsrisiken, mit denen Fahrzeug- und Motorenhersteller bislang nicht rechnen mussten und für die sie keine Rückstellungen bilden konnten. Es wäre auch nicht einzusehen, weshalb unzulässige Abschalteinrichtungen anders als alle anderen Konstruktionsfehler von Fahrzeugen behandelt werden sollten (z.B. vorzeitig alternde Bremsschläuche), die im Rahmen des Zulassungsverfahrens nicht auffallen, die Zulassungsfähigkeit der Fahrzeuge aber gleichwohl gefährden, so dass der weitere Betrieb des Fahrzeuges untersagt werden müsste, falls sich der Erwerber der Nachrüstung widersetzt. Schließlich ist auch kein Grund erkennbar, weshalb ein Fahrzeughersteller gegenüber einem Erwerber, mit dem er keinen Vertrag geschlossen hat, bereits bei leichter Fahrlässigkeit umfassender haften müsste als nach den Regelungen des Kaufrechts, das einerseits die Möglichkeit der Nacherfüllung und andererseits eine kenntnisunabhängige zweijährige Verjährung von Mängelansprüchen ab Ablieferung vorsieht (§ 438 BGB), während Ansprüche aufgrund Schutzgesetzverletzungen gegebenenfalls erst in zehn Jahren von ihrer Entstehung an verjähren (vgl. § 199 Abs. 3 Nr. 1 BGB).
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Solche Wertungswidersprüche und die Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und der Grundsätze des Vertrauensschutzes werden mit der RL 2007/46/EG nicht angestrebt und sind zu ihrer Umsetzung nicht erforderlich. Das gilt auch dann, wenn man - entsprechend den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 (dort Rn. 50 und Rn. 78 Nr. 1) - unterstellte, die Richtlinie diene (auch) dem Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Denn jedenfalls ist nicht ersichtlich - und auch aufgrund der weiteren Ausführungen des Generalanwalts in den Schlussanträgen vom 02.06.2022 nicht anzunehmen -, dass die Richtlinie bezogen auf das genannte Interesse des Fahrzeugerwerbers ein bestimmtes Rechtsschutzniveau vorgäbe, das in Deutschland unterschritten wäre, falls die §§ 6 und 27 EG-FGV nicht als Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB angesehen würden. Soweit der Generalanwalt in den Schlussanträgen vom 02.06.2022 (dort Rn. 65 und Rn. 78 Nr. 2) die Ansicht vertritt, die Mitgliedstaaten müssten vorsehen, dass „ein Erwerber eines Fahrzeugs einen Ersatzanspruch gegen den Fahrzeughersteller hat, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 12 der Verordnung Nr. 715/2007 ausgestattet ist“, kann damit sinnvollerweise nicht gemeint sein, ein solcher Ersatzanspruch müsse unabhängig von weiteren Voraussetzungen eingeräumt werden. Vielmehr ergibt sich die Notwendigkeit weiterer Voraussetzungen schon aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, und sie wird auch in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 dadurch angedeutet, dass dort (Rn. 59) die Auffassung des vorlegenden Gerichts wiedergegeben wird, „auch fahrlässige Verstöße“ sollten einen Anspruch begründen - was nahelegt, dass Ansprüche von einem Verschulden des Herstellers abhängig gemacht werden dürfen. Soweit in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 (dort Rn. 58 und 59) zum Ausdruck kommt, die dem Erwerber eines Fahrzeugs mit unzulässiger Abschalteinrichtung derzeit nach deutschem Recht zustehenden Ansprüche seien unzureichend, handelt es sich nicht um eine eigene Bewertung des Generalanwalts, sondern um eine Wiedergabe der „Auffassung des vorlegenden Gerichts“, die ihrerseits auf falschen Annahmen beruht (vgl. dazu oben).
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Da die Einschätzung des Generalanwalts in seinen Schlussanträgen vom 02.06.2022 zum Schutzzweck der RL 2007/46 selbst dann, wenn sie als richtig unterstellt würde, nichts an dem Ergebnis ändern würde, die §§ 6, 27 EG-FGV nicht als Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB einzustufen, bedarf es insoweit mangels Entscheidungserheblichkeit keines Vorabentscheidungsersuchens des Senats gemäß Art. 267 AEUV
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c) In Hinblick auf die dargestellte Rechtslage sieht der Senat auch keinen Anlass, das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die Vorlagefragen in den Vorabentscheidungsverfahren Az. C-663/19 - 1 und C-100/21 auszusetzen bzw. den Verkündungstermin - wie zuletzt von der Klagepartei beantragt - zu verlegen.
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4. Da der Klagepartei der geltend gemachte Hauptanspruch nicht zusteht, sind auch die Nebenansprüche auf Zahlung von Zinsen und Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nicht gegeben.
III.
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1. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 97 Abs. 1 ZPO.
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2. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
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3. Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht vorliegen.
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Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Eine solche wäre lediglich dann anzunehmen, wenn die Rechtssache eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwerfen würde, die über den Einzelfall hinaus Bedeutung für die Allgemeinheit hat. Dies ist nicht der Fall.
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Die Fortbildung des Rechts erfordert keine höchstrichterliche Entscheidung. Auch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht geboten; widersprüchliche Entscheidungen zu den maßgeblichen Rechtsfragen liegen nicht vor.
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4. Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach §§ 47, 48 GKG, 3 ZPO.
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Maßgebend ist im Hinblick auf § 40 GKG die ursprüngliche Antragstellung der Klagepartei aus der Berufungsbegründung vom 04.02.2021, da diese höher zu bewerten ist als die geänderte Antragstellung vom 22.06.2022.
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Die Antragstellung der Klagepartei aus der Berufungsbegründung vom 04.02.2021 hat einen Wert von 31.000,00 € (28.000,00 € + 3.000,00 €). Nachdem die Klagepartei der Auffassung ist, dass die Beklagte als Rechtsfolge des von ihr behaupteten Schadensersatzanspruch verpflichtet sei, das streitgegenständliche Fahrzeug gegen Zahlung des Kaufpreises zurückzunehmen, stellt der Senat bei der Bewertung des zunächst gestellten Feststellungsantrags auf den Kaufpreis des Fahrzeugs (35.000,00 €) ab und nimmt hiervon einen Feststellungsabschlag in Höhe von 20% vor, so dass sich ein Betrag von 28.000,00 € ergibt. Einen Abzug einer Nutzungsentsch#ädigung hatte die Klagepartei zu diesem Zeitpunkt noch nicht zugestanden. Soweit der Feststellungsantrag sich darüberhinaus auf die von diesem Wertansatz noch nicht erfasste Ersatzpflicht für weitere - über einen reinen Rückabwicklungsschaden hinausgehende - Schäden (nach dem Vortrag der Klagepartei insbesondere Steuernachforderungen, Schäden durch ein zu erwartendes Vorgehen durch die Zulassungsbehörden sowie ein nicht abschließend bezifferbaren Minderwert des streitgegenständlichen Fahrzeugs) bringt der Senat weitere 3.000,00 € in Ansatz.
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Der geänderte Berufungsantrag Nr. 2 hat hingegen nur einen Wert von 29.979,38 €. Vom dem geforderten Betrag von 35.000,00 € ist ein Abzug in Höhe von 5.020,62 € im Hinblick auf die von der Klagepartei zugestandene Nutzungsentschädigung vorzunehmen. Zwar wurde dieser Betrag nicht konkret angegeben, sondern vielmehr die Höhe der Nutzungsentschädigung grundsätzlich in das Ermessen des Gerichts gestellt. Aus der Begründung dieser Antragstellung ergibt sich jedoch, dass die Klagepartei der Ansicht ist, dass die Nutzungsentschädigung anhand der in der Rechtsprechung anerkannten Formel Bruttokaufpreis x gefahrene Kilometer / zu erwartende Gesamtlaufleistung mit einem zusätzlichen Abschlag von 50% berechnet werden soll. Die für die Berechnung heranzuziehenden Parameter ergeben sich aus dem Vortrag der Klagepartei hinreichend, insbesondere hat sie sich (obwohl sie verschiedene in Betracht kommende Gesamtlaufleistungen darstellt, die sich aus Rechtsprechung und Literatur ergeben) ausdrücklich darauf festgelegt, dass bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug eine solche von 350.000 km anzusetzen sei.