Titel:
Unmöglichkeit der Abschiebung bei inlandsbezogenen Vollstreckungshindernissen
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 7
AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, § 60a Abs. 2 S. 1
AsylVfG § 34a Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Liegen Duldungsgründe iSd § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG vor, so ist die Abschiebung unmöglich und kann auch iSd § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG nicht durchgeführt werden. Abweichend von der üblichen Aufgabenverteilung zwischen Bundesamt und Ausländerbehörde hat das Bundesamt bei der Abschiebungsanordnung auch die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass keine inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisse vorliegen (vgl. VGH München BeckRS 2014, 49104; VG Regensburg BeckRS 2014, 53138). (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG können nicht nur erfüllt sein, wenn und solange der Ausländer ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit ieS), sondern auch, wenn die Abschiebung als solche außerhalb des Transportvorgangs eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt (Reiseunfähigkeit iwS; vgl. VGH München BeckRS 2013, 58907; BeckRS 2015, 50070 mwN; VG Regensburg BeckRS 2014, 53138). (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin Zielstaat: Kroatien, Abänderungsantrag, Angebliche Reiseunfähigkeit, Auflage amtsärztliche Bescheinigung, Reiseunfähigkeit im engeren Sinne, Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne, Gesundheitszustand, inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse, erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr, Transportfähigkeit, Abschiebungsanordnung, Unmöglichkeit der Abschiebung, Duldungsgründe, Dublin Zielstaat Kroatien, angebliche Reiseunfähigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2022, 20171
Tenor
I. Der Antrag wird mit der Maßgabe abgelehnt, dass eine Abschiebung nach Kroatien erst erfolgen darf, wenn die Reisefähigkeit der Antragstellerin durch eine amtsärztliche Bescheinigung nachgewiesen ist.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
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1. Die Antragstellerin ist afghanische Staatsangehörige.
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Mit Bescheid vom … Oktober 2021 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Asyl- und Schutzantrag (den sie zusammen mit ihrem Mann gestellt hatte) als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2) und ordnete die Abschiebung nach Kroatien an (Nr. 3). Die Nr. 4 des Bescheids enthält die Befristungsentscheidung hinsichtlich des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG.
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Die Antragstellerin und ihr Mann erhoben hiergegen Klage, über die noch nicht entschieden ist (M 5 K 21.50664). Mit Beschluss vom 28. Oktober 2021 (M 5 S 21.50665) wurde der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hinsichtlich der Abschiebungsanordnung abgelehnt (M 5 S 21.50665).
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2. Mit Schriftsatz vom 16. Februar 2022 hat die Antragstellerin beantragt,
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den im Verfahren ergangenen Beschluss vom 28. Oktober 2021 hinsichtlich der Klägerin zu 2 gemäß § 80 Abs. 7 VwGO abzuändern und auf Antrag der Klägerin zu 2 die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids der Beklagten und Antragsgegnerin vom … Oktober 2021 anzuordnen.
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Nach einem fachärztlichen Attest vom … Februar 2022 bestehe bei der Antragstellerin ein persistentes, schweres depressives Syndrom mit eigengefährdendem Verhalten, noch ohne akute Suizidalität. Aufgrund der stark reduzierten psychischen Belastbarkeit sei eine Reisefähigkeit im weiteren Sinne auch aus fachärztlicher-psychiatrischer Sicht bis auf weiteres nicht gegeben. Infolge des Abschiebevorganges sei für die Patientin aus fachärztlich-psychiatrischem Blickwinkel mit hoher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Verschlechterung des psychopathologischen Zustandsbildes mit potentiell aggravierter und exazerbierender Gefährdungslage (im Sinn der Eigengefährung bis hin zu tätiger Suizidalität) zu befürchten bzw. zu erwarten.
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Die Antragsgegnerin hat sich im Verfahren nicht geäußert.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten in diesem Verfahren sowie den Verfahren M 5 S 21.50665 und M 5 K 21.50664 und der dazugehörigen Behördenakten Bezug genommen.
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Der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO hat keinen Erfolg.
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1. Nach dem Wortlaut des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG darf eine Abschiebungsanordnung erst dann erfolgen, wenn feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Deshalb muss die Abschiebung nicht nur rechtlich möglich sein, sondern sie muss auch tatsächlich durchführbar sein. Während bei der Abschiebungsandrohung die Prüfung inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse regelmäßig durch die Ausländerbehörde zu erfolgen hat, ist dies bei der Abschiebungsanordnung anders. Eine Abschiebung darf nur dann erfolgen, wenn diese rechtlich und tatsächlich möglich ist. Andernfalls ist die Abschiebung auszusetzen (Duldung). Liegen somit Duldungsgründe im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG vor, so ist die Abschiebung unmöglich und kann auch im Sinne des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht durchgeführt werden. Abweichend von der üblichen Aufgabenverteilung zwischen Bundesamt und Ausländerbehörde hat das Bundesamt bei der Abschiebungsanordnung auch die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass keine inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisse vorliegen (vgl. BayVGH, B.v. 12.3.2014 - 10 CE 14.427 - juris; VG Regensburg, B.v. 7.10.2013 - RN 5 S 14.50012 - juris Rn. 47 f.).
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Ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist unter anderem gegeben, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Diese Voraussetzungen können nicht nur erfüllt sein, wenn und solange der Ausländer ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit im engeren Sinne), sondern auch, wenn die Abschiebung als solche außerhalb des Transportvorgangs eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne; vgl. BayVGH, B.v. 18.10.2013 - 10 CE 13.1890 und 10 CE 13.1891 - juris m.w.N.; VG Regensburg, B.v. 7.10.2013 - RN 5 S 14.50012 - juris Rn. 48).
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2. Die Voraussetzungen für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom ... Oktober 2021 unter Abänderung des Beschlusses vom 28. Oktober 2021 liegen nicht vor.
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Das fachärztliche Attest von PD Dr. S. vom … Februar 2022 bescheinigt zwar eine Transportunfähigkeit der Antragstellerin im weiteren wie engeren Sinne. Allerdings fehlen jedwede Ausführungen dazu, unter welchen Vorkehrungen diese Gefahr ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Hinzu kommt, dass bislang lediglich die Behandlung durch eine Medikation mit einem Medikament durchgeführt wird. Dieses wird nach dem Attest gut toleriert und zeigt eine beginnende Wirksamkeit, die Dosierung soll erhöht werden. Auch wenn Selbstverletzungen mit Kopfschlagen berichtet sind, ist ausdrücklich keine evidente Suizidalität angegeben. Hinzu kommt, dass nicht konkret angegeben ist, wann die Reisefähigkeit der Antragstellerin voraussichtlich wiederhergestellt sein wird. Gerade im vorliegenden Fall, in dem eine beginnende Wirksamkeit einer medikamentösen Therapie bescheinigt wird und eine evidente Suizidalität verneint wird, ist es nicht nachvollziehbar, warum dadurch die Reisefähigkeit aufgrund einer dann doch zu besorgenden massiven Gefährdungslage ohne weiteres ausgeschlossen sein soll bzw. eventuellen Gefährdungen nicht durch entsprechende Vorkehrungen begegnet werden könnte.
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Gesundheitlichen Einschränkungen der Antragstellerin im Hinblick auf die Reisefähigkeit wird durch die Maßgabe in Nr. 1. des Tenors Rechnung getragen. Die mit dem Vollzug der Abschiebung betraute Behörde muss von Amts wegen in jedem Stadium der Durchführung der Abschiebung tatsächliche Vollstreckungshindernisse beachten und gegebenenfalls durch ein vorübergehendes Absehen von der Abschiebung oder durch eine entsprechende tatsächliche Gestaltung der Abschiebung abwehren (BVerfG, B.v. 26.2.1998 - 2 BvR 185/98 - juris). Das Gericht geht davon aus, dass dies auch ohne eine entsprechende Maßgabe beachtet werden würde.
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Es ist unter Beteiligung einer/s Amtsärztin/Amtsarztes abzuklären, ob die Antragstellerin reisefähig ist und nach Kroatien abgeschoben werden kann. Deshalb hat das Gericht der Antragsgegnerin aufgegeben, zunächst - vor einer weiteren tatsächlichen Umsetzung der Abschiebung - die Reisefähigkeit amtsärztlich abklären zu lassen und gegebenenfalls durch die Ausgestaltung der Abschiebung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit sich eventuell absehbare Gefahren nicht realisieren.
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3. Die Antragstellerin hat als unterlegene Beteiligte nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).