Inhalt

VG München, Beschluss v. 16.03.2022 – M 5 S 22.50121
Titel:

Erfolgreicher Eilantrag gegen Dublin-Bescheid (Ungarn)

Normenkette:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a
Leitsatz:
Im vorliegenden Fall ist von systemischen Mängeln des ungarischen Asylsystems auszugehen, da die Antragstellerin als vulnerable Person ständiger medizinischen Behandlung bedarf. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin Zielstaat: Ungarn, Systemische Mängel anerkannt Schutzberechtigter, Vulnerable Person, Mehrere behandlungsbedürftige psychische Erkrankungen, Dublin-Verfahren, Ungarn, systemische Mängel, Vulnerabilität, psychische Erkrankung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 20168

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 10. März 2022 gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. des Bescheids vom *. März 2022 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin, eine im Jahr 2002 geborene afghanische Staatsangehörige, reiste eigenen Angaben zufolge am … September 2021 in das Bundesgebiet ein und stellte am … Dezember 2021 einen Asylantrag. Mit Schreiben vom … Dezember 2021 wandte sich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) unter Hinweis auf einen Eurodac-Treffer der Kategorie 1 (Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz) an die ungarische Dublin-Unit mit einem Übernahmeersuchen. Die ungarischen Behörden erklärten mit Schreiben vom … Dezember 2021, dass die Klägerin zusammen mit ihrer Familie im August 2021 aus Afghanistan evakuiert worden sei. Sie habe eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten, die bis … Juni 2022 gültig sei, wenn sie nicht zuvor durch eine andere Entscheidung widerrufen worden sei.
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Mit Bescheid vom *. März 2022 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Tenor Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Tenor Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Bulgarien an (Tenor Nr. 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf elf Monate ab dem Tag der Abschiebung (Tenor Nr. 4).
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Am 10. März 2022 erhob die Antragstellerin gegen den Bescheid Klage. Sie hat weiter beantragt,
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die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
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Zur Begründung gab sie an, dass das ungarische Asylsystem an systemischen Mängeln leide. Außerdem leide die Antragstellerin an einer psychischen Störung.
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Nach einem Bericht des X.-Klinikums vom … Januar 2022 befand sie sich dort vom … Dezember 2021 bis … Januar 2022 in stationärer Behandlung. Als Diagnosen sind angegeben: Posttraumatische Belastungsstörung, depressive Störung - gegenwärtig mittelgradige Episode, dissoziative Krampfanfälle. Bei der Entlassung erhielt sie vier Medikamente, davon drei Psychopharmaka. Es wurde eine ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Weiterbehandlung empfohlen sowie regelmäßige laborchemische und elektrokardiographische Verlaufskontrollen im Rahmen der angegebenen Medikation. Es habe keine akute Eigengefährdung vorgelegen. Ein Attest eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie vom … November 2021 diagnostiziert eine behandlungsbedürftige Anpassungsstörung, Traumafolgestörung und den Verdacht auf dissoziative Störung (Anfälle). Bereits am … Oktober 2021 wurde sie wegen eines Anfalls in einem Krankenhaus behandelt. Ein Schreiben der X.-Klinik ohne Datum, das am … Februar 2022 versandt wurde, stellt unter Angabe der Diagnosen fest, dass ein Abbruch der Behandlung und eine Rückkehr nach Afghanistan eine massive Verschlechterung der Erkrankungen bis hin zur Chronifizierung und akuter Suizidalität zur Folge habe.
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Die Antragsgegnerin hat sich im Verfahren nicht geäußert.
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Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachverhalt und zum Vorbringen der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
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Der Antrag ist zulässig und begründet.
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Der Bescheid der Antragsgegnerin, auf den im Sinne von § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen wird, stellt sich bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes als rechtswidrig dar.
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Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
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1. Ungarn ist als Mitgliedstaat, der der Antragstellerin eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hat, für die Durchführung des Asylverfahrens grundsätzlich zuständig.
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Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens richtet sich vorliegend nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO).
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Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat ge-prüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien ist ohne weiteres Ungarn für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Denn die ungarischen Behörden haben der Antragstellerin einen Aufenthaltstitel nach Evakuierung aus Afghanistan ausgestellt, wonach Ungarn aufgrund von Art. 12 Abs. 1 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Das haben die ungarischen Behörden mit Schreiben vom … Dezember 2021 auch anerkannt.
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2. Nach dem vom Bundesverfassungsgericht zur Drittstaatenregelung entwickelten „Konzept der normativen Vergewisserung“ ist davon auszugehen, dass in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Anwendung der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - sichergestellt ist (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 - juris Rn. 181). Dieses vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Konzept steht im Einklang mit dem der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems zugrundeliegenden Prinzips des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - Rs. C-411/10 und C-493/10 - juris). Unter diesen Bedingungen muss die nur in Ausnahmefällen widerlegbare Vermutung gelten, dass die Behandlung eines Asylbewerbers bzw. als schutzberechtigt anerkannten Ausländers in jedem einzelnen dieser Staaten im Einklang mit den genannten Rechten steht.
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Hiervon kann nur dann nicht ausgegangen werden, wenn sich auf Grund bestimmter Tatsachen aufdrängt, der Ausländer sei von einem Sonderfall betroffen, der von dem Konzept der normativen Vergewisserung bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens nicht aufgefangen wird (vgl. EuGH, U.v. 10.12.2013 - Rs. C-394/12 - juris, BVerfG, U.v. 14.5.1996 a.a.O.). Den nationalen Gerichten obliegt im Einzelfall die Prüfung, ob ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesem Mitgliedstaat überstellten Personen implizieren (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 a.a.O. Rn. 86). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen aufgrund größerer Funktionsstörungen in dem zuständigen Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGrdRCh bzw. Art. 3 EMRK droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris Rn. 5 f. m.w.N., B.v. 6.6.2014 - 10 B 35/14 - juris). Bei einer zusammenfassenden, qualifizierten - nicht rein quantitativen - Würdigung aller Umstände, die für das Vorliegen solcher Mängel sprechen, muss diesen ein größeres Gewicht als den dagegensprechenden Tatsachen zukommen, d.h. es müssen hinreichend gesicherte Erkenntnisse dazu vorliegen, dass es immer wieder zu den genannten Grundrechtsverletzungen kommt (vgl. VGH BW, U.v. 16.4.2014 - A 11 S 1721/13 - juris).
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3. Diese Grundsätze konkretisierend hat der EuGH in seiner „Jawo“-Entscheidung ausgeführt, dass Schwachstellen im Asylsystem nur dann als Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zu werten sind, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Die hohe Schwelle der Erheblichkeit kann nach dem EuGH erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzen würde, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. dazu insgesamt EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 (Jawo)- juris Rn. 91 ff., m.w.N.).
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Ein Verstoß liegt ausgehend hiervon erst dann vor, wenn die elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigt werden können, insbesondere eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren und zu waschen - „Bett, Brot, Seife“ - (vgl. OVG NRW, B.v. 16.12.2019 - 11 A 228/15.A - juris Rn. 29 ff., 44 ff.; VGH BaWü, B.v. 27.5.2019 - A 4 S 1329/19 - juris Rn. 5). Der bloße Umstand, dass in dem Mitgliedstaat, in dem der neue Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als in dem bereits internationalen Schutz gewährenden Mitgliedstaat, kann nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung in den zuletzt genannten Mitgliedstaat tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung zu erfahren (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u. a. (Ibrahim) - juris Rn. 93 f., und vom 19.3.2019 - C-163/17 (Jawo) - juris Rn. 97). Ebenso ist das Fehlen familiärer Solidarität keine ausreichende Grundlage für die Feststellung einer Situation extremer materieller Not. Auch Mängel bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten reichen für einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK nicht aus (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 - C-540 und C-541/17 (Hamed) - juris Rn. 39, und U.v. 19.3.2019 -C-163/17 (Jawo) - juris Rn. 93 f. und 96 f). Der Verstoß muss schließlich unabhängig vom Willen des Betroffenen drohen. Hieran fehlt es, wenn der Betroffene nicht den Versuch unternimmt, sich unter Zuhilfenahme gegebener, wenn auch bescheidener Möglichkeiten und gegebenenfalls unter Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes eine Existenz im Abschiebezielstaat aufzubauen, wobei sich Schutzberechtigte auf den für Staatsangehörige des schutzgewährenden Staats vorhandenen Lebensstandard verweisen lassen müssen - sog. Grundsatz der Inländergleichbehandlung - (vgl. OVG NRW, B.v. 16.12.2019 - 11 A 228/15.A - juris Rn. 47 ff.; OVG Schl - H., U.v. 6.9.2019 - 4 LB 17/18 - juris Rn. 71, 174 f.).
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Vor diesem Hintergrund mag vertretbar sein, das Vorliegen systemischer Mängel für anerkannt Schutzberechtigte, die nicht zum Personenkreis der vulnerablen Personen zählen, anzunehmen (VG Ansbach, U.v. 7.12.2020 - An 17 K 18.50528 - juris; U.v. 22.10.2020 - An 17 K 20. 50084 - juris Rn. 39 ff. junger arbeitsfähiger Mann mit PTBS; jedoch a.A. VG Augsburg, U.v. 20.5.2020 - Au 5 K 20.20088 - juris, OVG Saarlouis, B.v. 12.3.2018 - juris).
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4. Im vorliegenden Fall ist jedoch von systemischen Mängeln auszugehen. Denn bei der Antragstellerin handelt es sich um eine vulnerable Person, die ständig einer medizinischen Behandlung bedarf. Das folgt aus den Stellungnahmen der X.-Klinik vom … Januar 2022 und … Februar 2022. In letzterer Stellungnahme werden die negativen Folgen eines Behandlungsabbruchs angegeben. Damit hat sich das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid auch nicht ansatzweise auseinandergesetzt.
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Zudem ist die Situation der medizinischen Versorgung anerkannt Schutzberechtigter in Ungarn als problematisch anzusehen (vgl. hierzu insgesamt für das Folgende: VG Aachen, B.v. 3.2.2022 - 5 K 5443/17.A - juris Rn. 169 ff. mit zahlreichen Nachweisen).
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Bezüglich der Gesundheitsversorgung sind anerkannt Schutzberechtigte nach dem ungarischen Gesundheitsgesetz zwar den ungarischen Staatsangehörigen gleichgestellt. In Ungarn existiert ein allgemeiner Versicherungsschutz in den Bereichen Krankheit, Mutterschutz, Alter, Invalidität, Berufskrankheiten und -unfälle, Hinterbliebene, Kindererziehung und Arbeitslosigkeit; allerdings werden nur Personen, die erwerbstätig sind per Gesetz Mitglied der Versicherung. In den ersten sechs Monaten nach der Zuerkennung des Schutzstatus besteht nur ein Anspruch auf Versorgung unter den für Asylbewerber geltenden Bedingungen (vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 131f.). Das bedeutet, dass die Asylbehörde die Kosten für die Gesundheitsversorgung der Schutzberechtigten für sechs Monate übernimmt, wenn sie bedürftig sind und - was regelmäßig der Fall sein dürfte - keine andere Form der Krankenversicherung abschließen können (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Ungarn, Gesamtaktualisierung 26.02.2020, Stand: 09.03.2020, S. 21.).
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Allerdings wird nach Berichten der NGOs diese Form der Kostenübernahme von den Leistungserbringern im ungarischen Gesundheitswesen nicht akzeptiert. Auch wurde nach Angaben der Evangelisch-Lutherischen Kirche und von M* …, die medizinische Versorgung von Schutzberechtigten, die in einer der Obdachlosenunterkünfte des Baptistischen Integrationszentrums lebten, willkürlich vom zuständigen Arzt verweigert, mit der Folge, dass ein Flüchtling trotz schwerwiegender Symptome keine medizinische Versorgung erhalten habe (vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01.04.2021, S. 131f.).
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Schließlich haben die jüngsten Änderungen des Sozialversicherungsgesetzes zur Folge, dass der Krankenversicherungsanspruch von später aus anderen EU-Mitgliedstaaten zurückgeführten Personen, die zunächst internationalen Schutz in Ungarn erhalten hatten, erlischt. Etwaige Kosten für eine zeitnah nach der Einreise erforderliche medizinische Behandlung sind deshalb von den Schutzberechtigten selbst zu tragen (vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 131.).
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Selbst für in Ungarn verbleibende Schutzberechtigte bestehen große Schwierigkeit innerhalb angemessener Zeit eine Krankenversicherungskarte zu erhalten, da dies voraussetzt, dass eine Identitäts- und Adresskarte ausgestellt wurde (vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01.04.2021, S. 13).
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Psychiatrische, psychotherapeutische, psychologische Behandlung und psychosoziale Beratung für Folterüberlebende und schwer traumatisierte Asylbewerber, Flüchtlinge und ihre Familienangehörigen werden grundsätzlich von der C* …-Foundation geleistet (vgl. Beschreibung der Stiftung, abrufbar unter: https://c* …hu).
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Die gemeinnützige Stiftung ist die einzige zivile Organisation in Ungarn, die diese Betreuung anbietet. Sie finanziert ihre Tätigkeit durch Zuschüsse und Fonds, wobei Hauptgeber die EU, das OHCHR der Vereinten Nationen und UNHCR sind. Allerdings konstatierte die Stiftung bereits im Jahr 2018, dass NGOs, die in Ungarn Flüchtlinge unterstützten, in einem sehr ungünstigen, sogar feindseligen politischen und gesellschaftlichen Klima arbeiteten. Die ungarische Regierung benutze Migranten konsequent als öffentliche Sündenböcke; es gebe eine systematische Demontage des Asyl- und Integrationssystems für Schutzberechtigte in Ungarn. NGOs wie Cordelia würden schrittweise in ihrer Arbeit eingeschränkt, indem ihnen oft der physische Zugang zu den Zielgruppen verweigert werde. Da Schutzberechtigten jegliche staatliche Unterstützung nach der Anerkennung verweigert werde, müssten die NGOs die Lücke in den Diensten ausgleichen, indem sie Wohnprogramme, Rechtshilfe, Sozialfürsorge, psychologische Betreuung usw. anbieten. Die 2018 eingeführten politischen Maßnahmen und das durch die Regierungspolitik entstandene allgemein feindselige Umfeld hätten tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Arbeit von Cordelia und den Zugang zu den Schutzberechtigten sowie auf deren psychischen Gesundheitszustand. Traumatisierte Flüchtlinge oder solche, die mit psychischen Problemen zu kämpfen hätten (nach internationalen Schätzungen etwa 30-50% aller Schutzberechtigten), hätten zunehmend Schwierigkeiten, selbst das sehr begrenzte Angebot an Dienstleistungen der NGOs zu finden und zu nutzen (vgl. Cordelia Foundation, Report on the mental health conditions of beneficiaries of international protection and asylum seekers in Hungary, 2018, abrufbar unter https://cordelia.hu). Das Bundesamt sieht diese Einschränkung im streitgegenständlichen Bescheid nicht.
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Hinzu kommt im vorliegenden Fall, dass die Antragstellerin in ihrer Anhörung am … Januar 2022 angegeben hat, in Ungarn in einem Heim für Drogenabhängige untergebracht gewesen zu sein. Sie habe von einer Krankenschwester bei Beschwerden nur Paracetamol (gerichtsbekannt ein Schmerzmittel) erhalten. Das unterstreicht dies Mängel bei der medizinischen Versorgung von anerkannt schutzberechtigten Personen in Ungarn. Das Bundesamt hat es andererseits nicht für notwendig gefunden, sich mit dieser Situation in dem streitgegenständlichen Bescheid auch nur ansatzweise näher auseinander zu setzen.
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5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).