Inhalt

VG München, Beschluss v. 25.07.2022 – M 26b S 22.1159
Titel:

Anforderungen an die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung bei neuartigen Lebensmitteln

Normenketten:
LFGB § 39 Abs. 1 und 7
VO (EU) 2015/2283 Art. 6 Abs. 2
VwGO § 80 Abs. 3 S. 1
Schlagwort:
Anforderungen an die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung bei neuartigen Lebensmitteln
Fundstelle:
BeckRS 2022, 20154

Tenor

I. Die in Nummer 2 des Bescheids vom 31. Januar 2022 (Az. ...) enthaltene Anordnung der sofortigen Vollziehung der in Nummer 1 angeordneten Untersagungsverfügung wird aufgehoben.
Die in Nummer 2 des Bescheids vom 31. Januar 2022 (Az. ...) enthaltene Anordnung der sofortigen Vollziehung der in Nummer 1 angeordneten Untersagungsverfügung wird aufgehoben.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 200.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerinnen wenden sich mit ihrem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die sofortige Vollziehbarkeit einer Anordnung, mit der ihnen untersagt wird, Lebensmittel, die den Pilz Coriolus Versicolor enthalten, in den Verkehr zu bringen.
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Die Antragstellerinnen bzw. deren Schwesterfirmen vertreiben seit Ende 1999 bzw. Anfang 2000 verschiedene Produkte zum menschlichen Verzehr, die Bestandteile des Pilzes „Coriolus versicolor“ (nachfolgend: Coriolus), zu Deutsch „Schmetterlingstramete“, enthalten.
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Bereits in den Jahren 2011 und 2015 wurde zwischen den Parteien die Frage aufgeworfen, ob es sich bei Coriolus um ein zulassungspflichtiges Mittel handle.
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Anlässlich der Untersuchung von zwei von der Antragstellerin zu 2 hergestellten und von einem Dritten vertriebenen Produkten, die Coriolus enthielten, kam das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (nachfolgend: LGL) in seinem Gutachten vom … März 2019 zu dem Ergebnis, dass es sich bei Coriolus mangels Eintragung in den Novel-Food-Katalog der Europäischen Kommission um ein zulassungspflichtiges, aber nicht zugelassenes neuartiges Lebensmittel handle, da es vor dem 15. Mai 1997, dem für die Einordnung als neuartiges Lebensmittel maßgeblichen Zeitpunkt, in der Europäischen Union nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet worden sei.
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In mehreren Schriftwechseln vertrat die Antragstellerin zu 2 die Sichtweise, dass es sich bei Coriolus um kein neuartiges Lebensmittel handle, während der Antragsgegner seine Sichtweise bekräftigte.
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Mit E-Mail des Antragsgegners vom 19. März 2020 wurde auch die Antragstellerin zu 1 darüber informiert, dass es sich bei Coriolus, der in einem ihrer vertriebenen Produkte enthalten sei, um ein neuartiges Lebensmittel handle, dem die Antragstellerin zu 1 entgegentrat.
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In weiteren Schriftwechseln unterstrichen die Parteien ihre jeweilige Sichtweise.
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Mit Schreiben vom 17. Mai 2021 wurden die Antragstellerinnen von dem Antragsgegner darüber informiert, dass beabsichtigt sei, betreffend sämtliche Coriolus Vitalpilz-Produkte eine Anordnung zu erlassen, mit der die Antragstellerinnen verpflichtet werden sollten, die aufgeführten Mängel innerhalb angemessener Zeit zu beheben, wobei auch die Anordnung eines Zwangsgeldes erforderlich sein dürfte. Den Antragstellerinnen wurde jeweils Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt.
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Nach weiteren Schriftwechseln wurde mit streitgegenständlichen Bescheiden vom 31. Januar 2022, adressiert an die Antragstellerin zu 1 bzw. zu 2, den Antragstellerinnen jeweils ab sofort untersagt, Lebensmittel mit der Zutat „Coriolus versicolor“ in den Verkehr zu bringen; die Untersagung könne aufgehoben werden, sofern ein Nachweis erbracht werde, dass es sich bei der maßgeblichen Zutat um kein neuartiges Lebensmittel respektive um ein zugelassenes neuartiges Lebensmittel handle (Nummer 1). Die sofortige Vollziehung der Nummer 1 des Bescheids wurde angeordnet (Nummer 2). Für den Fall der Zuwiderhandlung gegen Nummer 1 wurde angeordnet, dass ein Zwangsgeld in Höhe von 150 Euro pro in Verkehr gebrachter 100 Gramm fällig werde (Nummer 3). Abschließend wurde angeordnet, dass die Antragstellerinnen jeweils die Kosten des Verfahrens zu tragen haben (Nummer 4).
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Zur Begründung der Bescheide wird inhaltlich im Wesentlichen ausgeführt, dass die Anordnung auf § 39 Abs. 1 des LebensmittelBedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuchs (Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch - LFGB) i.V.m. Art. 138 VO (EG) 2017/625 gestützt werde, wonach geeignete Maßnahmen zu treffen seien, um zu gewährleisten, dass Verstöße beendet und erneute Verstöße verhindert würden. Bei dem betroffenen Pilz Coriolus Versicolor handle es sich um ein neuartiges Lebensmittel nach Art. 3 Abs. 2 lit. a) Ziff. iv) VO (EU) 2015/2283, da es vor dem 15. Mai 1997 nicht in nennenswertem Umfang in der Union für den menschlichen Verzehr verwendet worden sei, wie der fehlende Eintrag im Novel-Food-Katalog der Europäischen Kommission indiziere. Mangels Eintragung in der Unionsliste für zugelassene neuartige Lebensmittel gemäß Art. 6 Abs. 1 VO (EU) 2015/2283 dürfe Coriolus gemäß Art. 6 Abs. 2 VO (EU) 2015/2283 nicht in den Verkehr gebracht werden. Die Beweislast, dass es sich um kein neuartiges Lebensmittel handle, liege bei den Antragstellerinnen, wobei mit den vorgelegten Unterlagen ein menschlicher Verzehr von Coriolus in den Mitgliedsstaaten vor dem 15. Mai 1997 in nennenswertem Umfang nicht nachgewiesen worden sei. Die Untersagungsverfügung sei auch verhältnismäßig, da der Verbraucherschutz Vorrang vor der Berufsausübungsfreiheit genieße. Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit von Nummer 1 des jeweiligen Bescheids wird im Kern damit begründet, dass die überragende Bedeutung des Gesundheitsschutzes die sofortige Vollziehung erforderlich mache, da wissenschaftliche Daten, die belegen, dass von dem streitgegenständlichen Mittel kein Sicherheitsrisiko für die menschliche Gesundheit ausgehe, bisher nicht erbracht worden seien. Ob von den Produkten mit der Zutat Coriolus eine konkrete Gesundheitsgefahr ausgehe, sei ohne Bedeutung, da Art. 6 Abs. 2 VO (EU) 2015/2283 gerade sicherstellen wolle, dass kein neuartiges Lebensmittel in den Verkehr gebracht werde, das nicht zuvor auf Gesundheitsgefahren untersucht worden sei. Infolgedessen überwiege der Verbraucherschutz das Interesse der jeweiligen Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung einer etwaigen Anfechtungsklage sowie deren Interesse am weiteren Vertrieb von Produkten mit der Zutat Coriolus. Schließlich sei die Zwangsgeldandrohung in der gewählten Höhe angemessen, um die Umsetzung der getroffenen Anordnungen sicherzustellen, wobei die Höhe an dem geschätzten wirtschaftlichen Interesse an der Nichterfüllung der Anordnung orientiert worden sei.
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Mit Schreiben vom … Februar 2022 erhoben die Antragstellerinnen bei dem Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage (M 26b K 22.1131) gegen die in den Bescheiden vom 31. März 2022 ausgesprochenen Untersagungsverfügungen mit Zwangsmittelandrohung.
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Mit Schreiben vom … März 2022, ergänzt durch Schreiben vom … April 2022, stellten die Antragstellerinnen einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz. Sie beantragen,
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die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen die Untersagungsverfügung vom 31. Januar 2022 (Az. ...) gerichtet an die Antragstellerin zu 1 sowie gegen die Untersagungsverfügung vom 31. Januar 2022 (Az. ...) gerichtet an die Antragstellerin zu 2 wiederherzustellen.
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Ergänzt durch weitere Schreiben wird zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass Coriolus bereits seit Anfang der 1990er Jahre in der Europäischen Union als Nahrungsergänzungsmittel genutzt werde und in Rumänien sowie der Tschechischen Republik vertrieben werden dürfe. Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit sei mangelhaft begründet, da die Begründung formelhaft sei und sich für jedes neuartige Lebensmittel gleichermaßen verwenden lasse. Sie sei auch materiell rechtswidrig, da eine Abwägung des Vollzugsinteresses und der Berufs- und Gewerbefreiheit der Antragstellerinnen nicht stattgefunden habe und von Coriolus keine konkrete Gesundheitsgefahr ausgehe. Vielmehr lägen der Behörde Unterlagen vor, wonach die Sicherheit des Verzehrs von Coriolus bestätigt sei. Eine Dringlichkeit, die die sofortige Vollziehung rechtfertige liege nicht vor, da Coriolus durch die Antragstellerinnen bzw. deren Schwesterfirma H* ... GmbH nunmehr seit 22 Jahren vermarktet würde. Auch in der Sache sei der Antrag begründet, da Coriolus kein neuartiges Lebensmittel sei und mangels Einschlägigkeit von Art. 3 Abs. 2 lit. a) Ziff. iv) VO (EU) 2015/2283 - Coriolus sei keine Pflanze, sondern ein Pilz - auf eine unzutreffende Rechtsgrundlage gestützt worden sei. Dem Eintrag im Novel-Food-Katalog der Europäischen Kommission komme keine maßgebliche Indizwirkung zu, da darin entgegen der Behauptung nicht fortwährend aktualisierte Erkenntnisse der Europäischen Kommission und der für neuartige Lebensmittel zuständigen Mitgliedstaaten einfließen würden. Außerdem hätten die Antragstellerinnen mit den vorgelegten Unterlagen den Nachweis erbracht, dass Coriolus vor dem 15. Mai 1997 in nennenswertem Umfang verzehrt worden sei, wobei die Anforderungen an den Nachweis nicht überspannt werden dürften. Infolge der Untersagung drohten der Antragstellerin zu 1 Gewinne in Höhe von 300.000,- Euro sowie der Antragstellerin zu 2 100.000,- Euro zu entgehen. Schließlich erweise sich das Zwangsgeld als unverhältnismäßig hoch.
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Mit Schreiben vom 24. März 2022 beantragt der Antragsgegner,
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den Antrag abzulehnen.
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Ergänzt durch weitere Schreiben wird zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass es sich bei Coriolus um ein neuartiges Lebensmittel handle, da kein Verzehr in nennenswertem Umfang vor dem 15. Mai 1997 nachgewiesen worden sei. Die Untersagungsverfügungen seien ausweislich der den Bescheiden vorangehenden Schreiben des Antragsgegners mit Art. 3 Abs. 2 lit. a) Ziff. ii) VO (EU) 2015/2283 auf die richtige Rechtsgrundlage gestützt worden, jedenfalls sei ein Austausch derselben möglich. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei rechtmäßig. Die Begründung sei formell rechtmäßig, da die Ausführungen zeigen würden, dass sich der Antragsgegner des Ausnahmecharakters der sofortigen Vollziehung bewusst gewesen sei und die Begründung erkennen lasse, welche Gründe den Antragsgegner zur Anordnung des Sofortvollzugs bewogen habe. Auch die Auswirkungen auf die jeweilige Antragstellerin seien hinreichend berücksichtigt worden. Eine konkrete Gesundheitsgefahr sei für die Anordnung des Sofortvollzugs, wie verschiedene erst- und oberinstanzliche verwaltungsgerichtliche Urteile zeigen würden, nicht erforderlich, da die Einordnung als neuartiges Lebensmittel und das daran anknüpfende Zulassungserfordernis dazu dienten, den Verbraucher vor eventuellen Risiken, die vom Verzehr des Lebensmittels ausgingen, zu schützen. Somit bedürfe es zur Begründung eines besonderen Vollzugsinteresses weder konkreter Gesundheitsrisiken noch eines konkreten Verdachts. Entscheidend sei allein, dass es an der erforderlichen Zulassung fehle. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei bereits aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts geboten, da dem Gemeinschaftsrecht zu seiner sofortigen Verwirklichung verholfen werden müsse. Auch ergebe eine Interessenabwägung, dass der Schutz der Gesundheit die Grundrechte der Antragstellerinnen und deren wirtschaftliche Interessen überwiege. Schließlich sei das angedrohte Zwangsgeld der Höhe nach auch verhältnismäßig.
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Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte in diesem und dem Hauptsacheverfahren sowie auf die in beiden Verfahren vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
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1. Die Anträge haben Erfolg.
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a) Die Anträge sind zulässig, insbesondere statthaft, da der Antragsgegner in der jeweiligen Nummer 2 der streitgegenständlichen Bescheide die sofortige Vollziehung der in der jeweiligen Nummer 1 der Bescheide enthaltenen Untersagungsverfügung angeordnet hat, vgl. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
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b) Die Anträge sind auch begründet.
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Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der in Nummer 1 des jeweiligen Bescheids enthaltenen Untersagungsverfügung entspricht nicht den Anforderungen an die Begründungspflicht nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO und ist bereits aus diesem Grund aufzuheben (vgl. BVerwG, B.v. 18.9.2001- 1 DB 26.01 - beck-online; BayVGH, B.v. 6.9.2021 - 20 CS 20.2344 - beck-online Rn. 2).
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aa) Hat die Behörde die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten angeordnet, so ist gemäß § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Die Pflicht zur Begründung nach § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO soll der Behörde den Ausnahmecharakter der Vollziehungsanordnung vor Augen führen und sie veranlassen, mit Sorgfalt zu prüfen, ob tatsächlich ein überwiegendes öffentliches Interesse den Ausschluss der grundsätzlich vorgesehenen aufschiebenden Wirkung von Anfechtungsrechtsbehelfen erfordert. Dem Erfordernis einer schriftlichen Begründung ist dabei nicht bereits dann Genüge getan, wenn überhaupt eine solche gegeben wird; es bedarf vielmehr einer schlüssigen, auf den konkreten Einzelfall bezogenen und substantiierten Darlegung der wesentlichen Erwägungen, warum aus Sicht der Behörde gerade im vorliegenden Einzelfall ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung gegeben ist und das Interesse des Betroffenen am Bestehen der aufschiebenden Wirkung ausnahmsweise zurückzutreten hat (vgl. BVerwG, B. v. 18.9.2001 - 1 DB 26.01 - juris Rn. 6; BayVGH, B. v. 7.3.2022 - 20 CS 22.307 - beck-online Rn. 3; VG Regensburg, B. v. 21.1.2022 - RN 5 S 21.2172 - beck-online Rn. 28). Auf die inhaltliche Richtigkeit oder Tragfähigkeit der Begründung kommt es bei der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO hingegen nicht an, da diese Vorschrift eine formelle und keine materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung normiert (BayVGH, a.a.O.; B. v. 7.9.2020 - 11 CS 20.1436 - juris Rn. 20; VG Regensburg, a.a.O.).
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bb) Diesen Anforderungen genügen die Begründungen der sofortigen Vollziehung der Untersagungsverfügungen nicht.
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Der Antragsgegner begründet die Anordnungen des Sofortvollzugs im Wesentlichen damit, dass das öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzung des aus Art. 6 Abs. 2 VO (EU) 2015/2283 gestützten Verbots des Inverkehrbringens neuartiger Lebensmittel, das dem Schutz der Bevölkerung vor möglichen Gesundheitsgefahren durch neuartige, nicht zugelassene Lebensmittel diene, die Interessen der jeweiligen Antragstellerin überwiege. Aufgrund der überragenden Bedeutung des Gesundheitsschutzes sei die sofortige Vollziehung erforderlich, wobei ohne Bedeutung sei, ob von dem betroffenen Produkt eine konkrete Gesundheitsgefahr ausgehe, da das aus Art. 6 Abs. 2 VO (EU) 2015/2283 resultierende Verbot sicherstellen solle, dass keine neuartigen Lebensmittel ohne in Verkehr gebracht würden, ohne dass diese zuvor auf ihre gesundheitliche Unbedenklichkeit untersucht worden seien.
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(1.) Diese Begründung lässt nicht erkennen, dass sich die Behörde der Ausnahmesituation ihres Verwaltungshandelns bewusst war. Die Behörde sützt sich in der Begründung der Vollziehungsanordnung im Wesentlichen pauschal auf die überragende Bedeutung des Gesundheitsschutzes, dem das Verbot des Inverkehrbringens neuartiger, nicht zugelassener Lebensmittel diene, und damit auf eine allgemeingültige, für alle nicht zugelassenen neuartigen Lebensmittel unterschiedslos zutreffende Einschätzung, ohne sich jedoch mit dem konkreten, von der Untersagungsverfügung betroffenen Produkt auseinanderzusetzen und gesundheitliche Risiken für die Verbraucher zu konkretisieren und zu plausibilisieren (vgl. zu diesem Erfordernis auch bei neuartigen Lebensmitteln BayVGH, B.v. 7.3.2022 - 20 CS 22.307 - beck-online Rn. 4; wohl auch noch VGH Mannheim, B.v. 23.10.2017 - 9 S 1887/17 - beck-online; a.A. etwa VGH Mannheim, B.v. 22.6.2022 - 9 S 1003/22 - juris Rn. 9; B.v. 8.2.2021 - 9 S 3951/20 - LMuR 2021, 297, 298; OVG Münster, B.v. 23.1.2020 - 13 B 1423/19 beck-online Rn. 7). Vielmehr erfolgt die Anordnung der sofortigen Vollziehung ausdrücklich ohne Berücksichtigung der Frage, ob von dem streitgegenständlichen Produkt unerwünschte gesundheitliche Wirkungen ausgehen.
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(2.) Die Anforderungen an die Begründung des Sofortvollzugs reduzieren sich dabei auch nicht ausnahmsweise aufgrund des mit der Anordnung des Sofortvollzugs verfolgten Gesetzeszwecks (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 4.10.2021 - 20 CS 20.341 - PharmR 2021, 726, 727; B.v. 6.9.2021 - 20 CS 20.2344 - beck-online Rn. 5), den Verbraucher vor eventuellen Risiken, die mit dem Verzehr neuartiger, nicht zugelassener Lebensmittel zu schützen, einhergeht.
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Zwar können sich die Anforderungen an die Begründung des Sofortvollzugs, insbesondere hinsichtlich der Darlegung des überwiegenden öffentlichen Interesses, im Einzelfall dann reduzieren, wenn der Gesetzeszweck ohne Anordnung der Vollziehung überhaupt nicht erreichbar ist (zum Fahrerlaubnisrecht vgl. Hoppe in Eyermann, a.a.O. § 80 Rn. 46), was sich in erster Linie aus dem Rang der durch die Anordnung zu schützenden Rechtsgüter ergibt. Je höher diese einzustufen und je geringer die anderweitigen Einflussmöglichkeiten auf die Gefahrenquelle sind, desto niedrigere Anforderungen sind an eine Begründung für den konkreten Einzelfall zu stellen. Speziell aus dem lebensmittelrechtlichen Normgefüge ergibt sich jedoch gerade nicht für jede Fallkonstellation, dass den betroffenen und geschützten Rechtsgütern ein so hoher Rang zukäme, dass das besondere Sofortvollzugsstets mit dem Erlassinteresse identisch wäre. Das Lebensmittelrecht differenziert vielmehr unter dem Oberbegriff des Verbraucherschutzes folgendermaßen:
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Gemäß § 39 Abs. 7 LFGB haben Anfechtungsrechtsbehelfe gegen Anordnungen, die der Durchsetzung von Verboten im Bereich des Lebens- und Futtermitteln dienen, nur in den dort genannten, abschließend aufgezählten Fällen keine aufschiebende Wirkung, während in allen anderen Fällen Anfechtungsrechtsbehelfen aufschiebende Wirkung zukommt.
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Soweit die in § 39 Abs. 7 LFGB benannten Fallkonstellationen Lebensmittel betreffen, vgl. § 39 Abs. 7 Nr. 1 i.V.m. Art. 14 Abs. 1, Abs. 2 lit. a VO (EG) 178/2002 und § 39 Abs. 7 Nr. 4 Alt. 1 i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 LFGB, ist die aufschiebende Wirkung nur bei Anordnungen ausgeschlossen, die gesundheitsschädliche Lebensmittel, Art. 14 Abs, 1, Abs. 2 lit. a VO (EG) 178/2002, bzw. Lebensmittel, deren Verzehr gesundheitsschädlich ist, § 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 LFGB, betreffen.
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§ 39 Abs. 7 LFGB lässt sich somit nicht nur die Entscheidung des Gesetzgebers entnehmen, dass Anfechtungsrechtsbehelfen gegen lebensmittelrechtliche Anordnungen grundsätzlich aufschiebende Wirkung zukommt, sondern darüber hinaus auch, dass für den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von lebensmittelrechtlichen Anordnungen eine Gesundheitsschädlichkeit der betreffenden Lebensmittel erforderlich ist.
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Ein bloßer Verweis auf das generell bestehende öffentliche Interesse daran, das Inverkehrbringen nicht zugelassener neuartiger Lebensmittel aufgrund damit möglicherweise einhergehender Gesundheitsrisiken zu verhindern, kann dabei nach der Wertung des Gesetzgebers daher nicht im Wege eines Quasi-Automatismus dem Begründungserfordernis für den Sofortvollzug im Einzelfall genügen, wenn - wie im vorliegenden Fall - keinerlei Anhaltspunkte für Gesundheitsrisiken dargetan sind (vgl. BayVGH, B.v. 6.9.2021 - 20 CS 20.2344 - beck-online Rn. 5; vgl. auch B.v. 4.10.2021 - 20 CS 20.341 - PharmR 2021, 726, 728 zu § 69 Abs. 1b LFGB betreffend eine arzneimittelrechtliche Untersagungsverfügung). Andernfalls könnte die Exekutive allein mit einem pauschalen Verweis auf mögliche Gesundheitsgefahren die Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers, den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung auf bestimmte Fallkonstellationen, die gerade die Gesundheitsschädlichkeit von Lebensmitteln voraussetzen, zu beschränken, unterlaufen. Daher erfordert der Sinn und Zweck des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, wonach die Behörde sich des Ausnahmecharakters der Vollziehungsanordnung bewusst sein muss, im streitgegenständlichen Fall die konkret-individuelle Darlegung eines besonderen, über das allgemeine Erlassinteresse hinausgehenden Vollzugsinteresses, um eine regelhafte Umgehung der gesetzgeberischen Entscheidung durch die Anordnung des Sofortvollzugs auf Basis allgemeiner Erwägungen zu unterbinden (vgl. BayVGH, a.a.O.).
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(3.) Eine andere Sichtweise ist auch nicht aufgrund des Vollzugs unionsrechtlicher Vorschriften geboten.
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Zwar kann bei Verwaltungsakten, mit denen Unionsrecht vollzogen wird, das öffentliche Interesse am wirksamen Vollzug des Unionsrecht die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtfertigen. Unionsrechtlicher Bezug allein verlangt jedoch weder, dass die aufschiebende Wirkung eines Anfechtungsrechtsbehelfs gegen Verwaltungsmaßnahmen zu seiner Umsetzung ausgeschlossen wird, noch begründet es ein besonderes Vollzugsinteresse. Vielmehr muss die Anordnung der sofortigen Vollziehung geboten sein, um die effektive Durchsetzung von Regelungen des Unionsrechts zu gewährleisten (vgl. OVG Münster, B.v. 7.9.2016 - 13 B 621/16 - beck-online Rn. 3; OVG Lüneburg, B.v. 9.5.2012 - 10 ME 43/12 - amtlicher Leitsatz).
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Im vorliegenden Fall ist nicht ersichtlich, dass die Durchsetzung des Unionsrechts ein beschleunigtes Verfahren im Wege des Sofortvollzugs erfordern würde.
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Eine effektive Durchsetzung der Vorgaben der Verordnung erfordert nicht pauschal die Anordnung eines Sofortvollzugs aus Gründen des Verbraucherschutzes. Bereits durch die Straf- bzw. Bußgeldbewehrung von Verstößen gegen Art. 6 Abs. 2 VO (EG) 2015/2283 (vgl. § 1a Abs. 1 der Verordnung zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften über neuartige Lebensmittel (Neuartige Lebensmittel-Verordnung - NLV) i.V.m. § 59 Abs. 3 Nr. 2 lit. a LFGB bzw. § 1a Abs. 2 NLV i.V.m. § 60 Abs. 1 Nr. 2 LFGB) wird eine Befolgung des Vertriebsverbots von neuartigen Lebensmitteln hinreichend sichergestellt. Diese Vorschriften werden durch die zahlreichen den Behörden nach § 39 Abs. 1 LFGB i.V.m. Art. 138 VO (EU) 2017/625 zur Verfügung stehenden und nicht abschließend benannten Maßnahmen flankiert, die etwa mit dem Produktrückruf, Art. 138 Abs. 2 lit. g) VO (EU) 2017/625, Maßnahmen enthalten, die auch bei aufschiebender Wirkung von Anfechtungsklagen gewährleisten, dass betroffene Unternehmer aufgrund der drohenden Konsequenzen trotz Suspensiveffekts hinreichend motiviert bleiben, die lebensmittelrechtlichen Vorschriften einzuhalten. Berücksichtigt man schließlich, dass Art. 6 Abs. 2 VO (EG) 2015/2283 keinem Selbstzweck dient, sondern maßgeblich den Schutz der Gesundheit der Bürger bezweckt, steht auch das Unionsrecht der von den Behörden zu berücksichtigenden Entscheidung des nationalen Gesetzgebers in § 39 Abs. 7 LFGB, wonach für den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung eine vom betroffenen Lebensmittel ausgehende Gesundheitsgefahr maßgeblich ist, nicht entgegen (vgl. auch EuGH, U.v. 19.11.2020 - C-663/18 - beck-online Rn. 87, 95 f., wonach ein Vermarktungsverbot von in anderen Mitgliedsstaaten hergestellten Cannabisprodukten aufgrund der Warenverkehrsfreiheit und aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nur dann mit dem Schutz der öffentlichen Gesundheit begründet werden kann, wenn vom jeweiligen Produkt eine tatsächliche Gefahr für die öffentliche Gesundheit auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Informationen ausgeht).
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(4.) Infolgedessen bleiben die Behörden auch unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben dazu verpflichtet, die vom nationalen Gesetzgeber in § 39 Abs. 7 LFGB getroffene Entscheidung bereits bei der Darlegung des besonderen Vollzugsinteresses zu berücksichtigen, woran es mangels Konkretisierung und Plausibilisierung der von Coriolus ausgehenden gesundheitlichen Risiken bei der Begründung der Anordnung des Sofortvollzugs mangelt (zu diesem Maßstab siehe auch die obigen Ausführungen; vgl. auch BayVGH, B.v. 7.3.2022 - 20 CS 22.307 - beck-online Rn. 4, wo in der Entscheidungsbegründung der als formell rechtmäßig bewerteten Sofortvollzugsanordnung auf die diskutierten unerwünschten gesundheitlichen Wirkungen von CBD abgestellt wurde), wurde doch in der Begründung ausdrücklich darauf abgestellt, dass es ohne Bedeutung sei, ob von Produkten, die Coriolus enthalten, gesundheitliche Risiken ausgehen würden.
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c) Wegen des Verstoßes gegen die Begründungspflicht nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO erfolgt die Tenorierung abweichend von § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO und dem Antrag (vgl. BVerwG, B.v. 18.9.2001- 1 DB 26.01 - beck-online; BayVGH, B.v. 6.9.2021 - 20 CS 20.2344 - beck-online Rn. 2). Die Behörde ist durch die Entscheidung nicht daran gehindert, die sofortige Vollziehung mit zureichender Begründung erneut anzuordnen (vgl. BVerwG, a.a.O; BayVGH, a.a.O.).
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. Nrn. 1.5 Satz 1, 25.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, so dass die Hälfte der jährlichen Gewinnerwartung der Antragstellerinnen anzusetzen ist.