Inhalt

VG München, Urteil v. 08.06.2022 – M 18 K 17.4961
Titel:

Kostenerstattung, Betreuung in Eltern-Kind-Einrichtung, Mutter mit geistiger Behinderung, die älter als 27 Jahre ist, Hilfebedarf wegen eines persönlichkeitsindizierten Erziehungsdefizits, Entwicklungsfähiges Potential

Normenketten:
SGB VIII § 10 Abs. 4
SGB VIII § 19
SGB XII a.F. §§ 53 ff.
SGB I § 43
SGB X § 102
SGB X § 104
Schlagworte:
Kostenerstattung, Betreuung in Eltern-Kind-Einrichtung, Mutter mit geistiger Behinderung, die älter als 27 Jahre ist, Hilfebedarf wegen eines persönlichkeitsindizierten Erziehungsdefizits, Entwicklungsfähiges Potential
Fundstelle:
BeckRS 2022, 20150

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein Jugendhilfeträger, begehrt von dem Beklagten als Rehabilitationsträger die Erstattung von Kosten, die er für die Unterbringung der Leistungsempfängerin in einer Mutter-Kind-Einrichtung aufgewendet hat.
2
Die 1984 geborene Leistungsempfängerin ist aufgrund einer spastischen Halbseitenlähmung des linken Beines, einer stark ausgeprägten Lernbehinderung sowie einer seit 1992 medikamentös stabilisierten Epilepsie mit einem Grad der Behinderung von 100 eingestuft (Bl. … der Akten des Beklagten). Außerdem wurde eine leichte Intelligenzminderung diagnostiziert (Bl. … der Behördenakte des Klägers - im Folgenden: BA). Sie lebte bis zur Geburt ihres Kindes ... bei ihrer Mutter, die auch als Betreuerin eingesetzt war, und arbeitete bei einer Behindertenwerkstätte. Verschiedene Komplikationen führten nach der Geburt zu einem mehrwöchigen stationären Behandlungsbedarf beim Kind und darüber hinaus zur Notwendigkeit einer Überwachung per Monitor für geraume Zeit nach der Entlassung aus dem Krankenhaus.
3
Die Leistungsempfängerin beantragte bei dem Kläger am ... Hilfe in Form einer Unterbringung in einer Mutter-Kind-Einrichtung gemäß § 19 SGB VIII (Bl. … ff. BA). Im Hilfeplan ist zur Bedarfsfeststellung für die zunächst angestrebte sechswöchige Clearingphase in einer Mutter-Kind-Einrichtung (Bl. … ff. BA) festgehalten, dass noch nicht abgeschätzt werden könne, ob bzw. unter welchen Umständen die Hilfeempfängerin in einer eigenen Wohnung leben und gleichzeitig ein Kind adäquat versorgen könne. Ziel sei es, die Eltern-Kind-Bindung zu unterstützen (Feinfühligkeit), zu altersentsprechender Ernährung, Pflege und Handling des Kindes anzuleiten und die Mutter auf eine teilbetreute Wohnform vorzubereiten. Als persönliche Ressourcen wurde angeführt, dass die Mutter ein positives Bild vom Kind habe, um die adäquate Versorgung des Kindes bemüht sei und selbständiger werden wolle sowie Hilfe annehmen könne.
4
In einer Helferkonferenz am 18. April 2013 (Bl. … der pädagogischen Akte des Klägers - im Folgenden: pA) wurde insbesondere zur sozialen Situation u.a. thematisiert, dass ein alleiniges Wohnen der Leistungsempfängerin mit ihrem Kind „von mehreren Seiten als sehr unwahrscheinlich empfunden“ werde.
5
Am ... 2013 wurde die Hilfeempfängerin in die Mutter-Kind-Einrichtung aufgenommen. Ihr Sohn folgte nach beendetem Krankenhausaufenthalt am ...
6
Laut undatiertem Clearingprozessbericht bzgl. des Zeitraums ... 2013 (Bl. … f. BA) sei die Leistungsberechtigte im Kontakt mit dem Baby und in der Mutterrolle psychisch stabil. Anfangs habe sie wenig Selbstvertrauen im häuslichen Bereich und in der Babyfürsorge gezeigt, aber das Ziel, Sicherheit zu gewinnen und es allein zu schaffen, habe formuliert und überzeugend umgesetzt werden können. Die Hilfeempfängerin habe eigenverantwortlich und äußerst zuverlässig die liebevolle, feinfühlige Versorgung und Betreuung ihres Kindes übernommen. Nur im Bereich der Körperhygiene sei größerer Unterstützungsbedarf gegeben. Sie erkenne die Bedürfnisse des Kindes, spreche viel mit ihm, sei ausdauernd und stressresistent bei Unbehaglichkeiten des Kindes. Ihr Antrieb sei hinsichtlich eigener Belange gehemmt. Arbeiten im Haushalt könnten mit Anleitung und klaren Plänen selbständig wahrgenommen werden. Die eigene Überschätzung, was Aufgabenmenge und dafür benötigte Zeit angehe, habe sich mittlerweile gebessert.
7
Auch in der undatierten Hilfeplanfortschreibung (Bl. … BA) wurde die positive Entwicklung festgehalten. Die Leistungsberechtigte wolle „noch viel lernen“, ihr Ziel sei die Verselbständigung und eine eigene Wohnung. Um die erlernten Fähigkeiten zu festigen und in den Bereichen Mutter-Kind-Bindung, Abgrenzung zum Partner, Verselbständigung, Feinfühligkeit, adäquates Verhalten noch mehr hinzuzulernen, solle die Betreuung in der Mutter-Kind-Einrichtung noch bis September 2013 fortgesetzt werden und danach ein Umzug in eine betreute Wohnform mit zusätzlicher Unterstützung durch sozialpädagogische Familienhilfe angestrebt werden.
8
Mit Bescheid vom 12. September 2013 (Bl. … BA) gewährte der Kläger für die Hilfeempfängerin und ihren Sohn vorläufig Hilfe in gemeinsamer Wohnform für Mutter und Kind gemäß § 19 SGB VIII von ..., verlängert mit Änderungsbescheid vom … ... Außerdem wurde Jugendhilfe in Form von Förderung der Erziehung durch eine Familienhebamme gemäß § 16 SGB VIII für max. 20 Stunden pro Woche in Form von ambulanter Unterstützung gewährt. Dauer und Ausgestaltung der Hilfe richteten sich nach den nach § 36 SGB VIII zu erstellenden Hilfeplänen (Ziff. I). Die für die Hilfe anfallenden Kosten trage der Kläger vorbehaltlich der ihm zustehenden Erstattungsansprüche gegenüber der Hilfeempfängerin und deren unterhaltsverpflichteten Personen bzw. Dritten (Ziff. II). Zur Begründung wurde u.a. darauf hingewiesen, dass der Kläger für die Gewährung der Hilfe für das Kind sachlich zuständig sei. Für die Mutter bestehe keine Zuständigkeit, daher würden die Kosten nur vorläufig übernommen.
9
Aus einem Hilfeplangespräch vom ... bezüglich des angedachten Umzugs zusammen mit dem Kindsvater in eine betreute Wohnform (vgl. Bl. … … BA) ergab sich eine „hervorragende“ Entwicklung sowie dass die Mutter-Kind-Bindung stabil sei. Die Mutter könne die Signale des Kindes erkennen und entsprechend handeln. Sie brauche aber noch Begleitung z.B. beim Füttern. Sie könne Abläufe gut „trainieren“ und verinnerlichen, eine engmaschige Betreuung sei aber weiterhin notwendig, da sich die Dynamiken verschöben, sobald das feste Gefüge der Mutter-Kind-Einrichtung wegfalle. Dringend erforderlich sei zum einen eine Betreuung/Begleitung bei allen Alltagsabläufen, zum anderen eine zielgerichtete pädagogische Begleitung und Führung der jungen Familie.
10
Am ... zog die Hilfeempfängerin in eine betreute Wohnform. Hierfür wurde ihr mit Bescheid des Beklagten vom ... BA) Eingliederungshilfe gemäß §§ 53 Abs. 1 Satz 1, 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F. i.V.m. § 55 SGB IX a.F. gewährt.
11
Mit Schreiben vom ... BA) forderte der Kläger den Beklagten auf, die für die Hilfeempfängerin angefallenen Kosten für die Unterbringung in gemeinsamer Wohnform für Mutter und Kind zu erstatten. Ein dem Schreiben beiliegendes vorgedrucktes Rückmeldungsformular zur Anerkennung des Erstattungsanspruchs (Bl. … BA) wurde mit Datum vom … … … an den Kläger zurückgesandt, wobei nur die Auswahlmöglichkeit „dem Grunde nach“ angekreuzt war, ein Kreuz bei „anerkannt“ bzw. „nicht anerkannt“ fehlte. Mit Schreiben des Klägers vom … … … wurde die Forderung auf 31.398,51 EUR (Bl. … BA) beziffert. Zur Erläuterung seiner Rechtsansicht verwies der Kläger im weiteren Verlauf auf ein Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 12.12.2013 (W 3 K 13.217 - juris), das mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12.2.2014 (12 ZB 14.249 - unveröffentlicht), bestätigt wurde.
12
Der Beklagte teilte mit Schreiben vom ... BA) dem Kläger mit, das Jugendamt sei kein nachrangig verpflichteter Leistungsträger, da die Hilfeempfängerin einen Anspruch auf Leistungen der Jugendhilfe gemäß §§ 2 Nr. 2, 19 SGB VIII gehabt habe. Sie habe auf Grund ihrer Persönlichkeitsentwicklung Unterstützung bei der Erziehung des Kindes benötigt. § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII sei nicht einschlägig. In den von dem Kläger herangezogenen Gerichtsentscheidungen sei zwar ausgeführt worden, dass § 19 SGB VIII auf eine Verselbständigung abziele, die aufgrund der geistigen Behinderung der Hilfeempfängerin nicht möglich sei. Diese Auffassung stehe aber im Widerspruch zum Wortlaut der Vorschrift. Es sei ausreichend, dass eine Milderung des Entwicklungsdefizits durch eine intensive Intervention möglich sei.
13
Der Kläger legte mit Schreiben ... BA) und ... BA) dar, dass tatsächlich eine Milderung des Entwicklungsdefizites ausreichend sei, um Hilfe nach § 19 SGB VIII gewähren zu können. Die Voraussetzungen des § 19 SGB VIII träfen hier auch zu, der Bedarf müsse aber von der Eingliederungshilfe umfasst werden.
14
Der Beklagte erwiderte hierauf mit Schreiben vom ... BA), selbst wenn es sich um Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Elternassistenz handeln würde, wären diese gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII nachrangig gegenüber Leistungen der Jugendhilfe.
15
Am 19. Oktober 2017 erhob der Kläger Klage mit dem Antrag:
16
Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die in der Zeit vom ... für die Unterbringung der Kindesmutter ... entstandenen Kosten i.H.v. 31.398,51 EUR zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten.
17
Zur Begründung wurde ausgeführt, der Erstattungsanspruch ergebe sich aus § 102 Abs. 1 SGB X. Der Kläger habe auf Grundlage des § 43 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SGB I Hilfe in gemeinsamer Wohnform für Mutter und Kind gemäß § 19 SGB VIII als zuerst angegangener Leistungsträger vorläufig erbracht. Im Falle der Mutter sei dies aber eine Leistung der Eingliederungshilfe nach §§ 53, 54 SGB XII a.F. Ein Anspruch nach § 19 SGB VIII stehe der Mutter für die eigene Person hingegen nicht zu. Das erforderliche Entwicklungspotential sei nicht vorhanden gewesen, da eine realistische Verselbständigung nicht vorhanden gewesen sei (vgl. BayVGH, B.v. 12.2.2014 - 12 ZB 14.249 - UA Rn. 13). Unschädlich sei, dass der Kläger im Bescheid vom 12. September 2013 die vorläufige Kostenübernahme auf Grundlage von § 19 SGB VIII zugesagt habe. Denn in Ziffer 2 der Bescheidsbegründung habe der Kläger deutlich gemacht, dass er nicht zuständig sei und die Kosten nur vorläufig übernehme.
18
Mit Schriftsatz vom 22. November 2017 beantragte der Beklagte:
19
Die Klage wird abgewiesen.
20
Zur Begründung wiederholte der Beklagte seine im vorangegangenen Schriftverkehr dargelegten Argumente und wies darauf hin, dass der Rechtsstreit demgemäß an das Sozialgericht zu verweisen sei.
21
Mit Beschluss vom 16. Dezember 2021 hat das Gericht den Verwaltungsrechtsweg für zulässig erklärt, da mit § 102 SGB X eine Anspruchsgrundlage zumindest in Betracht komme, die im Verwaltungsrechtsweg zu verfolgen sei.
22
Mit Schreiben vom 10. Mai 2022 verzichtete der Beklagte auf mündliche Verhandlung.
23
Der Kläger verzichtete am 20. Mai 2022 auf mündliche Verhandlung und führte aus, dass die Hilfeempfängerin von Anfang an nicht über ausreichende Ressourcen verfügt habe, eine Schädigung ihres Kindes zu verhindern. Das Jugendamt habe versucht, die Hilfe zu bieten, die einen Verbleib des Kindes bei der Mutter ermöglicht habe. Die Mutter habe selbst keinen Anspruch aus § 19 SGB VIII. Die Möglichkeit einer eigenverantwortlichen selbständigen Lebensführung habe sich mangels des entwicklungsfähigen Potentials nicht absehen lassen.
24
Zum Sachverhalt im Übrigen wird auf die Gerichtsakten sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

25
Das Gericht konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
26
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Kostenerstattung hinsichtlich der Unterbringung der Leistungsempfängerin in einer Mutter-Kind-Einrichtung im Zeitraum ... …
27
Ein Anspruch ergibt sich nicht aus der schriftlichen Mitteilung des Beklagten vom … … … Hierbei muss nicht auf die zwischen den Beteiligten diskutierte Frage der Wirksamkeit eines abstrakten Schuldanerkenntnisses im Sozialrecht eingegangen werden, da die Erklärung keine Aussage enthält. Es wurde lediglich ein Kreuzchen gesetzt bei „dem Grunde nach“. Ob der Anspruch anerkannt oder nicht anerkannt wurde, wurde nicht angekreuzt.
28
Auch aus § 102 SGB X ergibt sich kein Anspruch des Klägers. Nach dieser Vorschrift hat ein Sozialleistungsträger, der aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat, gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger einen Erstattungsanspruch. Eine vorläufige Leistung erfordert, dass ein Leistungsanspruch nur gegen einen Leistungsträger besteht, zwischen mehreren Leistungsträgern aber streitig ist, wer zur Leistung verpflichtet ist. Es muss das Bestehen eines negativen Kompetenzkonflikts oder einer sonstigen Unklarheit über die Zuständigkeit für die endgültige Leistungserbringung vorliegen. Vor diesem Hintergrund muss der erstattungsberechtigte Leistungsträger geleistet haben (BayVGH, B.v. 17.2.2014 - 12 C 13.2646 - juris Rn. 18; Leopold in: Schlegel/Veolzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. Stand: 1.12.2017, § 114 SGB X Rn. 26 ff.).
29
Der Kläger begründet seinen Anspruch insbesondere damit, dass die Hilfeempfängerin im vorliegenden Fall keinen Anspruch nach § 19 SGB VIII gehabt habe, sondern nur einen solchen auf Eingliederungshilfe nach SGB IX. Tatsächlich besaß die Leistungsberechtigte jedoch sowohl einen Anspruch auf Eingliederungshilfe gemäß SGB IX gegen den Beklagten als auch einen Anspruch auf Leistungen nach § 19 Abs. 1 SGB VIII gegen den Kläger als Träger der Jugendhilfe. Das Konkurrenzverhältnis ist gemäß § 10 Abs. 4 SGB VIII zu lösen.
30
Die Voraussetzungen des § 19 SGB VIII sind erfüllt.
31
Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sollen Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen.
32
Zu beachten ist, dass die Betreuung in einer Eltern-Kind-Einrichtung verschiedene, aber z.T. kongruente Ziele im Blick haben kann. Zum einen steht das Kind selbst im Mittelpunkt. Es soll keinen Nachteil aufgrund der Gegebenheit, dass die Erziehungskompetenz des Elternteils zu gering entwickelt ist, davontragen und deshalb entsprechend gefördert werden. Außerdem kann sich die Betreuung in einer Eltern-Kind-Einrichtung in zweifacher Hinsicht an den betreffenden Elternteil richten. Zum einen kann es sich um eine sozialhilferechtliche Eingliederungsmaßnahme zur Ermöglichung der angemessenen Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gemeinsam mit dem Kind handeln (BVerwG, U.v. 22.10.2009 - 5 C 19.08 - juris Rn. 14). Zum anderen kann auch im Hinblick auf den Elternteil gleichzeitig eine jugendhilferechtliche Zielsetzung verfolgt werden, indem der das Kind erziehende Elternteil, der durch das Defizit in der Entwicklung der Erziehungskompetenz entsprechende Hilfe bei der Pflege und Erziehung des Kindes benötigt, in seiner Persönlichkeit insbesondere auch im Hinblick auf die Erziehungsfähigkeit gestärkt werden soll. Die Hilfe soll das Defizit ausgleichen, dass die Persönlichkeit des Elternteils noch nicht so weit entwickelt ist, dass er den zusätzlichen Anforderungen durch die Elternverantwortung gerecht werden kann und verfolgt demzufolge auch eine jugendhilferechtliche Zielsetzung (vgl. insgesamt VG Würzburg, U.v. 12.12.2013 - W 3 K 13.217 - juris Rn. 30 ff.). So entsteht eine „komplexe, multifunktionale Leistungspalette“, die in einer bestimmten Einrichtung einheitlich angewandt wird. Diese Verknüpfung von Leistungen zu einem einheitlichen Leistungskomplex schließt aber eine getrennte Betrachtung und Anwendung der Rechtsgrundlagen und der Abrechnung sowohl der Leistungen für den behinderten Elternteil einerseits und das Kind andererseits weder logisch noch tatsächlich aus. Die Konkurrenz der möglichen Ansprüche des Elternteils auf Eingliederungshilfe gemäß SGB IX bzw. auf Jugendhilfe wird von § 10 Abs. 4 SGB VIII geregelt (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2009 - 5 C 19.08 - juris Rn. 29, BayVGH, B.v. 30.1.2012 - 12 BV 11.2216 - juris Rn. 21; VG Würzburg, U.v. 12.12.2013 - W 3 K 13.217 - juris Rn. 43; insgesamt DIJUF-Rechtsgutachten vom 10.4.2012 - J 9.140 LS - Jugendamt 2012, 208 ff.).
33
Im vorliegenden Fall war die Leistung gerade auch auf die jugendhilferechtliche Zielsetzung bezüglich der Mutter gerichtet und sollte nicht nur ein Zusammenleben mit dem Kind aus dem Blickwinkel der Eingliederungshilfe gemäß SGB IX ermöglichen. Die fachlichen Stellungnahmen rechtfertigen die rechtliche Bewertung, dass die Hilfeempfängerin insbesondere über ein entwicklungsfähiges Potential im Hinblick auf das persönlichkeitsindizierte Defizit im Bereich der Erziehungskompetenz verfügte.
34
§ 19 SGB VIII setzt einen Unterstützungsbedarf voraus, der in der Persönlichkeitsentwicklung des alleinsorgenden Elternteils begründet ist. Erforderlich ist also ein Defizit in der Persönlichkeitsentwicklung, das sich gerade auf die Fähigkeit auswirkt, das Kind adäquat zu pflegen und zu erziehen. Das Persönlichkeitsdefizit muss nicht auf fehlender Reife zur Erziehung, sondern kann auch auf seelischer, geistiger oder körperlicher Behinderung des Elternteils beruhen, da das von § 19 SGB VIII verfolgte spezifisch jugendhilferechtliche Ziel ist, eine der Entstehung eines Erziehungsdefizits beim Kind vorbeugende Art des Zusammenlebens zu unterstützen und sicher zu stellen, was nicht von der Art der Ursache abhängen kann (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2009 - 5 C 19/08 - juris Rn. 11; OVG NW, B.v. 14.8.2008 - 12 A 510/08 - juris Rn. 21; BayVGH, B.v. 30.1.2012 - 12 BV 11.2216 - juris Rn. 19 f.; Struck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 19 Rn. 9; Telscher, in Schlegel/Voelzke, jursiPK-SGB VIII, 2. Aufl. Stand: 2.8.2021, Rn. 13 m.w.N.).
35
Außerdem muss die Betreuung in der gemeinsamen Wohnform geeignet sein, d.h. es muss möglich erscheinen, die Persönlichkeitsentwicklung des Elternteils insbesondere im Hinblick auf die Erziehungsfähigkeit zu fördern, also ein sog. entwicklungsfähiges Potential vorliegen.
36
Grundsätzlich wird gefordert, dass eine Verselbständigung der Mutter (bzw. des Vaters) mit dem Kind erreichbar sein müsse (Struck in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 19 Rn. 9, 12, 15). § 19 SGB VIII ist aber auch bei Elternteilen anwendbar, bei denen eine völlige Verselbständigung nicht möglich erscheint (i.E. OVG NW, B.v. 30.11.2000 - 22 B 762/00 - juris Rn. 11 ff.; B.v. 2.2.2017 - 12 B 119/17 - juris Rn. 8 ff.; NdsOVG, B.v. 18.7.2016 - 4 ME 163/16 - juris Rn. 4; BayLSG, U.v. 10.5.2016 - L 8 SO 46715 - UA S. 14; VG Gelsenkirchen, U.v. 10.6.2005 - 19 K 1193/03 - juris Rn. 21; VG Hamburg, U.v. 26.5.2005 - 13 K 195/05 - juris Rn. 25: ausreichend ist das Ziel eines Lebens in einer ambulant betreuten Wohnform, in der die betreffende Hilfeempfängerin auch vor der Geburt gelebt hat; VG München, U.v. 7.11.2012 - M 18 K 11.326 - juris Rn. 54). Dafür spricht schon die Zielrichtung des § 19 SGB VIII, welche die Stärkung der Elternautonomie und Bearbeitung der Persönlichkeitsdefizite primär im Hinblick auf die Verbesserung der Lebenssituation des Kindes verfolgt. Aus Sicht des Kindeswohls genügt es, dass trotz Behinderung eine Bindung zum Kind aufgebaut und eine Beziehung zum Kind entwickelt werden kann, die eine unterstützungsfähige, einem Erziehungsdefizit beim Kind vorbeugende Entwicklung zulässt (Schermaier-Stöckl in Wellenhofer/Jox, beck-online Großkommentar, Stand: 1.4.2022, § 19 SGB VIII Rn. 20). Die Elternschaft von Menschen mit Behinderung ist grundsätzlich anders zu bewerten als von Menschen ohne Behinderung (Telscher, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, Stand 2.8.2021, § 19 Rn. 41). Ausreichend ist daher die Möglichkeit einer Milderung durch eine pädagogische und ggf. therapeutische Einflussnahme. Die Behebung des Defizits ist nicht erforderlich (Struck, in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 19 Rn. 9 m.w.N.) bzw. es wird nur darauf abgestellt, ob der Elternteil gerade dieser Form der Unterstützung bedarf (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2009 - 5 C 19/08 - juris Rn. 11). Der Wortlaut der Vorschrift („solange“) steht dieser weiten Auffassung nicht entgegen. Er bringt zum Ausdruck, dass die Hilfe zu beenden ist, wenn die Unterstützung nicht mehr benötigt wird, aber nicht, dass die Behebung des Persönlichkeitsdefizits möglich sein muss (OVG NW, B.v. 30.11.2000 - 22 B 762/00 - juris Rn. 13; vgl. Telscher, in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGBVIII, Stand: 2.8.2021, § 19 Rn. 41).
37
Die vorliegenden fachlichen Äußerungen und Stellungnahmen sprechen dafür, dass bei der Hilfeempfängerin ein derartiges entwicklungsfähiges Potential gegeben war.
38
Kurz nach der Geburt war die Hilfeempfängerin unsicher in der Interaktion mit dem Kind und der weitere Betreuungsbedarf war unklar. Als Ziel wurde aber von Anfang der Hilfeplanung an ein Wechsel zusammen mit dem Kind in eine ambulant betreute Wohnform angestrebt (Besprechung am … … … BA). Die Hilfeempfängerin äußerte immer wieder, dass sie ein möglichst eigenständiges Leben mit ihrem Kind führen wolle. Zur Abklärung, ob und unter welchen Umständen dies möglich sei, wurde eine Clearingphase von sechs Wochen durchgeführt, die auf die Unterstützung der Eltern-Kind-Bindung (Feinfühligkeit), Anleitung zu altersentsprechender Ernährung, Pflege und Handling des Kindes und Vorbereitung auf eine teilbetreute Wohnform gerichtet war (Bl. … BA). Dies zeigt, dass gerade in den Bereichen, die die Eltern- und Erziehungskompetenz betreffen, die Möglichkeit einer positiven Entwicklung gesehen wurde. Dementsprechend wurde auch als persönliche Ressourcen bei der Hilfeempfängerin gesehen, dass sie ein positives Bild vom Kind habe und bemüht sei, das Kind adäquat zu versorgen, dass sie Hilfe annehmen könne und den Wunsch habe, selbständiger zu werden.
39
Der Bejahung eines entwicklungsfähigen Potentials im Hinblick auf die Erziehungskompetenz steht nicht - wie vom Kläger vorgetragen - entgegen, dass in einer Helferkonferenz am … … … laut Protokoll (Bl. … pA) geäußert wurde, ein alleiniges Wohnen werde von mehreren Seiten als sehr unwahrscheinlich empfunden. Zum einen wird aus dem Protokoll nicht klar, wer mit „von mehreren Seiten“ gemeint ist. Aus dem Gesamtzusammenhang lässt sich vielmehr eher schließen, dass dies die Einschätzung u.a. der Mutter der Hilfeempfängerin ist und keine fachliche Einschätzung. Zum anderen ist es nach der obigen Darstellung, dass das Ziel der Betreuung in der gemeinsamen Wohnform nicht die komplette Verselbständigung sein muss, unschädlich, dass ein alleiniges Wohnen als unwahrscheinlich empfunden wurde. Über das Entwicklungspotential der Erziehungskompetenzen wird damit keine Aussage gemacht. Im Übrigen wurde eine derartige Äußerung im weiteren Verlauf nicht wiederholt.
40
Auch im Clearingprozessbericht (Bl. … BA) bezüglich des Zeitraums ... … wird das entwicklungsfähige Potential sichtbar. Es wird ausgeführt, dass die Hilfeempfängerin im Kontakt mit dem Baby und in ihrer Mutterrolle psychisch stabil sei. Sie habe anfangs wenig Selbstvertrauen im häuslichen Bereich und in der Babyfürsorge gezeigt, aber das Ziel, Sicherheit zu gewinnen und es allein zu schaffen, habe formuliert und überzeugend umgesetzt werden können. Zwar brauche die Leistungsempfängerin Hilfe, den Tagesablauf zu strukturieren und Aufgaben zu priorisieren, sie übernehme aber eigenverantwortlich und äußerst zuverlässig die liebevolle, feinfühlige Versorgung und Betreuung des Kindes. Die Bedürfnisse des Kindes würden erkannt, die Mutter sei ausdauernd und stressresistent bei Unbehaglichkeiten des Kindes. Größerer Unterstützungsbedarf bestehe nur im Bereich der Körperhygiene des Kindes. Auch sei der Antrieb hinsichtlich eigener Belange (Körperhygiene) gehemmt bzw. stelle die Hilfeempfängerin eigene Belange hintenan, wobei auch hier kürzlich eine Besserung eingetreten sei.
41
Dementsprechend wurde auch in der auf die erste Clearingphase folgenden Hilfeplanfortschreibung (Bl. … BA) ausdrücklich eine positive Entwicklung bestätigt und der Verbleib in der Mutter-Kind-Einrichtung bis September 2013 für geeignet befunden, um die erlernten Fähigkeiten zu festigen und in den Bereichen Mutter-Kind-Bindung, Verselbständigung, Feinfühligkeit, adäquates Verhalten noch mehr hinzu zu lernen und danach in eine betreute Wohnform zu wechseln.
42
Im Vergleich zu den ersten fachlichen Äußerungen ist hier somit eine positive Entwicklung der Elternkompetenz deutlich sichtbar. Während die Hilfeempfängerin anfangs unsicher in der Interaktion mit dem Kind war und es völlig unklar war, ob und unter welchen Voraussetzungen ein möglichst eigenständiges Leben geführt werden könne, hat sie nach dem knapp zweimonatigen Clearing bereits Sicherheit in der Babyfürsorge gewinnen können und versorgte ihr Kind äußerst zuverlässig, liebevoll und feinfühlig. Ein Entwicklungspotential i.S.v. § 19 SGB VIII kann somit von Anfang an nicht verneint werden. Die Fortsetzung der Betreuung in der gemeinsamen Wohnform wurde außerdem damit begründet, dass dort bereits erlernte Fähigkeiten gefestigt werden sollten und die Hilfeempfängerin insbesondere im Bereich Verselbständigung noch mehr hinzulernen könne. Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, warum die Hilfeempfängerin kein entwicklungsfähiges Potential im Hinblick auf ihre Erziehungskompetenz gehabt haben soll. Dass der Kläger lediglich versuchte, die Hilfe zu bieten, die einen Verbleib des Kindes bei der Mutter ermöglichte, ohne weitere Schritte der Verselbständigung zu erwarten, lässt sich nicht nachvollziehen. Schwierigkeiten in der Prioritätensetzung v.a. im Hinblick auf eigene Belange und eigene Körperhygiene und in Organisation des Alltags waren zwar weiterhin vorhanden, es sollte aber hieran gearbeitet werden, woraus sich einmal mehr schließen lässt, dass eine positive Entwicklung erwartet werden konnte.
43
Überdies trat eine solche auch ein, denn laut Hilfeplangespräch am … … … (Bl. … BA) hatten die Hilfeempfängerin und ihr Kind eine hervorragende Entwicklung durchlaufen. Die Mutter-Kind-Bindung sei stabil. Die Mutter könne die Signale des Kindes erkennen und entsprechend handeln. Begleitung sei erforderlich z.B. beim Füttern, Übergang Flaschennahrung/feste Kost. Unter konstanter Betreuung hätten Abläufe gut trainiert und verinnerlicht werden können. Eine engmaschige fortsetzende Betreuung sei aber weiter notwendig, da ein festes Gefüge erforderlich sei. Daher gehe die weitere Planung dahin, dass die Hilfeempfängerin in eine betreute Wohnung umziehe und dort mit der Unterstützung eines interdisziplinären Teams mit dem Kind und dem Kindsvater zusammenleben könne - wie es im Übrigen in der Folge auch umgesetzt wurde.
44
Nach alledem waren die Voraussetzungen des § 19 SGB VIII erfüllt. Dies wurde im Übrigen auch vom Kläger zunächst so gesehen, vgl. Schreiben an den Beklagten vom ... BA) und vom ... BA). Der Kläger hat wohl unter dem Eindruck der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Februar 2014 (12 ZB 14.249 - unveröffentlicht, auf VG Würzburg, U.v. 12.12.2013 - W 3 K 13.217 - juris) seine Ansicht dahingehend geändert, dass Ziel des entwicklungsfähigen Potentials die vollständig selbständige Lebensführung zusammen mit dem Kind sein müsse. Dieser Ansicht ist - wie oben ausgeführt - nicht zu folgen. Im Übrigen scheitert der Anspruch aus § 19 SGB VIII in den genannten Entscheidungen daran, dass dort im zugrundeliegenden Sachverhalt keinerlei Entwicklungspotential zu erkennen war. Bezüglich der dortigen Hilfeempfängerin war von vornherein nicht erkennbar, dass Schritte der Verselbständigung möglich wären. Es wurde früh festgestellt, dass die Signale des Kindes nicht adäquat gedeutet werden konnten und schon die Kommunikation mit dem Kind schwerfiel. Die eigene Körperhygiene der Mutter wurde dort ebenfalls problematisiert, beruhte aber auf einer grundsätzlichen Überforderung in diesem Bereich. Hingegen waren im hiesigen Fall Schritte der Verselbständigung von vornherein geplant und wurden auch realisiert. Die Hilfeempfängerin war schon nach der ersten Clearingphase fähig, Signale des Kindes zu verstehen und entsprechend zu handeln. Schwierigkeiten in der Kommunikation mit dem Kind wurden nie thematisiert. Die Defizite in der Körperhygiene beruhten auf Schwierigkeiten in der Prioritätensetzung und Selbstüberschätzung gerade im Alltag mit einem Baby und es wurde mit entsprechenden Plänen und Anleitungen an der Verbesserung gearbeitet. Somit sind die zugrundeliegenden Sachverhalte keineswegs vergleichbar.
45
Da somit die Tatbestandsvoraussetzungen zumindest auch des § 19 SGB VIII vorlagen, ist § 102 SGB X als Anspruchsgrundlage nicht einschlägig. Der Kläger hat nicht „vorläufig“ im Sinne des § 102 Abs. 1 SGB X geleistet. Hieran ändert auch nichts, dass der Kläger tatsächlich hiervon ausging und seine Leistung in den Bewilligungsbescheiden als entsprechend vorläufig bezeichnet hat. Denn die Bewilligungsbescheide entfalten für das Erstattungsverhältnis zwischen dem Kläger und dem Beklagten weder Tatbestands- noch Bindungswirkung. Vielmehr ist im verwaltungsgerichtlichen Erstattungsstreit selbständig zu prüfen, ob der Leistungsträger, der Kostenerstattung begehrt, nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften materiell-rechtlich eine vorläufige Leistung erbracht hat. Dies ist indes in Konstellationen wie der vorliegenden, in der ein leistungsberechtigter Hilfeempfänger sowohl einen jugendhilferechtlichen wie sozialhilferechtlichen Anspruch auf vollstationäre Unterbringung besitzt, nicht der Fall (BayVGH, B.v. 24.2.2014 - 12 ZB 12.715 - juris Rn. 24; B.v. 17.3.2014 - juris Rn. 16).
46
Der Kläger hat gegen den Beklagten auch keinen Anspruch aus § 104 SGB X, da er gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII nicht nachrangig verpflichteter Leistungsträger ist.
47
Gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII war der Kläger im streitgegenständlichen Hilfezeitraum vorrangig zur Gewährung der Hilfe gemäß § 19 SGB VIII verpflichtet. Nach dieser Vorschrift gehen Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII Leistungen nach dem SGB IX und XII vor, so dass Leistungen nach § 19 SGB VIII vorrangig vor kongruenten Leistungen nach den Vorschriften des SGB IX und XII zu erbringen sind. Der für die Unterbringung der Hilfeempfängerin in der Mutter-Kind-Einrichtung vorgesehene grundsätzliche Leistungsvorrang des Klägers als Träger der Jugendhilfe ist vorliegend auch nicht durch die Ausnahmevorschrift des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII ausgeschlossen. Denn die 1984 geborene Hilfeempfängerin war bereits bei Beginn des Einzugs in die Mutter-Kind-Einrichtung im Jahr 2013 kein junger Mensch mehr im Sinne von § 10 Abs. 4 Satz 2 i.V. m. § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII, da sie das 27. Lebensjahr längst vollendet hatte. Eine teleologische Extension des § 104 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII (vgl. Kunkel/Kepert/Dlugosch, in Kunkel/Keper/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 19 Rn. 23) kommt nicht in Betracht. Dieser vereinzelt gebliebene Vorschlag kann mit seinem Argument, dass es widersinnig wäre, bei behinderten Elternteilen, die älter als 27 Jahre sind, den Jugendhilfeträger für zuständig zu halten, während bei jüngeren behinderten Elternteilen der Träger der Eingliederungshilfe nach SGB IX zuständig sei, dem eindeutigen Wortlaut, der systematischen Stellung und dem Zweck der Vorschrift nichts Ausreichendes entgegensetzen (vgl. ausführlich VG München, U.v. 7.11.2012 - M 18 K 11.326 - juris Rn. 66 ff.).
48
Nach alledem war die Klage abzuweisen.
49
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
50
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.