Titel:
Unbegründete Asylklage zweier Kleinkinder nigerianischer Staatsangehörigkeit
Normenketten:
AsylG § 3, § 3e, § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Das Risiko einer Genitalverstümmelung für ein weibliches Kind bei einer Rückkehr nach Nigeria kann jedenfalls dann mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, wenn sich die betreffende Familie fernab der Großfamilie und der Stammesangehörigen, von denen die Gefahr drohen könnte, in einem sicheren Landesteil niederlässt. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für Rückkehrer nach Nigeria besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dort, etwa in einer der Großstädte, ökonomisch eigenständig zu leben und auch ohne die Hilfe Dritter zu überleben. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Nigeria, Kleinkinder, Beschneidung, Inländische Fluchtalternative bejaht, Abschiebungsverbot verneint, Herkunftsland Nigeria, Genitalverstümmelung, inländische Fluchtalternative, Lebensbedingungen, Existenzminimum, Covid-19-Pandemie
Fundstelle:
BeckRS 2022, 20143
Tenor
I.Die Klagen werden abgewiesen.
II.Die Kläger haben jeweils die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen jeweils die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte jeweils vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die am … … 2018 in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Kläger sind Staatsangehörige Nigerias, Zugehörige der Volksgruppe der Bini und christlichen Glaubens. Für sie wurden am … … 2018 Asylanträge gestellt.
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In der Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am … … 2018 und am … … 2019 gab die Mutter der Kläger im Wesentlichen an, dass die Dorfbewohner eine Beschneidung bei der Klägerin zu 1 veranlassen und ältere Damen diese ausführen würden. Die Stiefschwester und die Großmutter der Mutter der Kläger seien beschnitten, bei ihrer Mutter wisse sie es nicht. In der Familie des Kindsvaters werde auch die Beschneidung praktiziert. Die Eltern könnten nichts dagegen tun, da sie der Tradition folgen müssten. Eine Beschneidung werde entweder im Babyalter von sieben Tagen, am Tag der Heirat kurz davor oder vor der Geburt eines Kindes durchgeführt. Sie selbst sei auch beschnitten worden. Ob und anlässlich welchen Ereignisses ihr bei Rückkehr nach Nigeria eine erneute Genitalbeschneidung drohe, wisse sie nicht. Sie selbst denke nicht gut über eine Beschneidung, da es zu viel Schmerz bedeute und würde die Klägerin zu 1 nicht beschneiden lassen. Bei einer Rückkehr in ihr Heimatdorf würden sie von einer Gruppe von sieben Frauen des Dorfes, die vierzig Jahre und älter seien, begrüßt. Diese würden sagen, dass die Klägerin zu 1 beschnitten werden müsse. Als Mutter habe sie nicht das Recht, sich dagegen zu wehren und die Klägerin zu 1 würde am frühen Morgen mitgenommen werden. Gegen 10 Uhr würden sie wieder zurück sein und das Kind vor Schmerzen schreien sowie bluten.
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Urkunden über die Anerkennung der Vaterschaft vom … … 2018 und über die Erklärung der gemeinsamen elterlichen Sorge vom … … 2018 wurden vorgelegt.
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Der Vater der Kläger erklärte bei einer Anhörung vor dem Bundesamt am … … 2019 insbesondere, dass er bereit sei, Verantwortung für die Kläger zu übernehmen. Dies sei in seiner Kultur wichtig, sonst werde er nicht respektiert. Frauen würden in der nigerianischen Gesellschaft beschnitten werden. Er habe es selber nie mitbekommen und glaube, dass ein Vater dagegen sein könne, aber wenn die Mutter dafür sei, könne der Vater nicht wirklich etwas dagegen machen. Die Beschneidung von Jungen und Mädchen geschehe kurz nach der Geburt. Sie werde von Männern und Frauen vorgenommen. Er könne sich eine Beschneidung von Frauen überhaupt nicht vorstellen. Wenn er und die Mutter der Kläger zusammenhalten würden und dagegen seien, könne man sie nicht zwingen, so etwas mit der Klägerin zu 1 machen zu lassen.
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Der Asylantrag der Mutter der Klägerin wurde mit Bescheid vom … … 2019 abgelehnt, die hiergegen erhobene Klage ist noch bei Gericht anhängig (* … * …*). Beim Vater der Klägerin wurde mit Bescheid vom … … 2017 ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festgestellt.
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Mit Bescheiden vom … … 2019, zugestellt am … bzw. … … 2019, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) ab. Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 4) und forderte die Kläger auf, innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung bzw. nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, anderenfalls wurde ihnen die Abschiebung nach Nigeria bzw. in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht. Zudem wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 10 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Zur Begründung führte das Bundesamt insbesondere aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlägen. Eine konkret drohende individuelle und begründete Furcht vor Verfolgung sei für die Kläger nicht geltend gemacht worden. Eine erlittene Vorverfolgung könne angesichts der Tatsache, dass sie in Deutschland geboren worden seien und sich zu keiner Zeit in Nigeria aufgehalten hätten, auch nicht vorliegen.
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Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Den Klägern drohe keine Todesstrafe, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
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Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Den Klägern drohe in Nigeria keine durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Nigeria führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass für Rückkehrer in Nigeria die Möglichkeit bestehe, ökonomisch eigenständig alleine zu leben und ohne Hilfe Dritter zu überleben. Die Mutter der Kläger werde mithilfe ihrer Berufserfahrung, ihres Durchsetzungsvermögens und familiärer Unterstützung in der Lage sein, die Kläger in Nigeria zu versorgen. Der Vater der Kläger, der über einen festen Aufenthaltstitel in Deutschland verfüge, könne von hier aus finanzielle Unterstützung bieten. Den Klägern drohe keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben.
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Hiergegen erhoben die ehemals Prozessbevollmächtigten der Kläger mit Schriftsätzen vom … und … … 2019, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München jeweils eingegangen am gleichen Tag, Klagen und beantragten,
- 1.
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die Bescheide der Beklagten vom … … 2019 aufzuheben,
- 2.
-
die Beklagte zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen,
- 3.
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hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, den Klägern den subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG zuzuerkennen,
- 4.
-
hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG bezüglich der Kläger vorliegen.
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Zur Begründung wurde auf das Vorbringen gegenüber dem Bundesamt Bezug genommen.
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Die Beklagte stellte keinen Antrag.
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Mit Schriftsatz vom *. Mai führte der nunmehr Prozessbevollmächtigte der Kläger im Wesentlichen ergänzend aus, dass der Vater der Kläger Unterhalt in Höhe von …,- € monatlich bezahle und mit der Mutter der Kläger die gemeinsame elterliche Sorge ausübe, indem er regelmäßig wöchentlich Umgangskontakte mit den Klägern pflege. Die Kläger müssten bei einer Rückkehr nach Nigeria mit ihrer Mutter unter dem Existenzminimum leben, da diese wegen der Betreuungs- und Erziehungsaufgaben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Existenzminimum für sich und die Kläger nicht erwirtschaften könne. Unterhaltszahlungen könnten bei einer Rückkehr nach Nigeria nicht mehr ohne weiteres in Deutschland geltend gemacht werden. Es werde (nicht nur hilfsweise) beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, festzustellen, dass gegenüber den Klägern ein Abschiebungsverbot § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG besteht.
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In der mündlichen Verhandlung wurden die Verfahren M … * … und M … * … zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegten bzw. beigezogenen Behördenakten sowie auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung am … Mai 2022 Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO).
Entscheidungsgründe
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Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am … … 2022 trotz Ausbleibens der Beklagtenseite entschieden werden. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Falle des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet, da der angegriffene Bescheid rechtmäßig ist und die Kläger nicht in ihren Rechten verletzt. Diese haben zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes bzw. auf die Feststellung von Abschiebungsverboten (§ 113 Abs. 5 VwGO).
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Das Gericht nimmt insoweit auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid (§ 77 Abs. 2 AsylG) Bezug. Ergänzend wird lediglich Folgendes ausgeführt:
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1. Ein Verfolgungs- oder Lebensschicksal, das die Zuerkennung einer Rechtsstellung als Flüchtling (§ 3 AsylG) oder des subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) rechtfertigen würde, ist vorliegend aus dem Vortrag der Klägerseite nicht erkennbar. Es wurde für die Kläger allein geltend gemacht, dass ihnen in Nigeria Genitalbeschneidung drohen würde.
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1.1 Das Gericht muss sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung bzw. Schadens die volle Überzeugung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Insbesondere wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, ist für die Glaubwürdigkeit auf die Plausibilität des Tatsachenvortrags des Asylsuchenden, die Art seiner Einlassung und seine Persönlichkeit - insbesondere seine Vertrauenswürdigkeit - abzustellen. Der Asylsuchende ist insoweit gehalten, seine Gründe für die Verfolgung bzw. Gefährdung schlüssig und widerspruchsfrei mit genauen Einzelheiten vorzutragen (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 - 9 C 27.85 - juris).
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Aus dem teilweise widersprüchlichen und unsubstantiierten Vortrag der Mutter der Kläger ergibt sich nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit, dass den Klägern bei einer Rückkehr nach Nigeria eine Genitalbeschneidung droht.
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Die Mutter der Klägerin gab in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt an, dass die Dorfbewohner zusammen über eine Beschneidung der Kläger entscheiden würden, während sie hierzu in der mündlichen Verhandlung erklärte, dass die ältesten Frauen in ihrem Heimatdorf darüber entscheiden würden. Auch vermochte sie nicht näher darlegen, wer eine Beschneidung dann ausführe, sondern gab hierzu lediglich an, dass dies von einer Frau gemacht werde. Schließlich divergieren auch die Zeitpunkte, an denen eine Beschneidung durchgeführt werde. Diesbezüglich erklärte die Mutter der Kläger vor dem Bundesamt, dass ein Kind entweder im Babyalter von sieben Tagen, am Tag der Heirat kurz davor oder vor der Geburt eines Kindes beschnitten werde. Dass eine Beschneidung auch noch durchgeführt werde, bevor eine Frau ein Kind gebäre, erwähnte sie dagegen vor Gericht nicht mehr.
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Insgesamt ist das Gericht nach umfassender Würdigung des Vortrags nicht davon überzeugt, dass den Klägern bei einer Rückkehr Verfolgung bzw. ein ernsthafter Schaden i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht.
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1.2 Jedenfalls besteht eine inländische Fluchtalternative gemäß § 3e (i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1) AsylG.
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Nach dieser Vorschrift wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft bzw. subsidiärer Schutz nicht gewährt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat bzw. ihm kein ernsthafter Schaden droht und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
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Das Risiko einer Beschneidung - bei Ablehnung einer Genitalverstümmelung durch die Eltern, wie hier - kann jedenfalls dann mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, wenn sich die betreffende Familie fernab der Großfamilien bzw. Stammesangehörigen, von denen die Gefahr einer Beschneidung von Kindern ausgehen könnte, niederlässt, wenngleich dies womöglich einen völligen Bruch mit der jeweiligen Herkunftsfamilie bedeutet. Selbst wenn etwaige Familienangehörige eine Beschneidung der Kläger fordern sollten, ist von Klägerseite weder glaubhaft gemacht worden noch sonst ersichtlich, dass bzw. wie die Personen angesichts des in Nigeria fehlenden funktionierenden Meldesystems (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria v. 22.2.2022, Stand: Januar 2022 - Lagebericht - S. 23) mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in der Lage sein sollten, bei einer Niederlassung der Kläger in einer der einwohnerstarken und angesichts der dort herrschenden Lebensverhältnissen zwangsläufig anonymen Millionenstädte Nigerias auf diese zuzugreifen und gegen den Willen der Mutter eine zwangsweise Genitalverstümmelung der Kläger zu veranlassen. Hinzu kommt, dass die Beschneidungen von Mädchen bzw. Frauen in Nigeria rückläufig sind und nur noch 20,1% der 30- bis 34-jährigen und 12,3% der 15- bis 19-jährigen Frauen beschnitten sind (EASO, Country Guidance: Nigeria, Guidance note and common analysis, Oktober 2021, S. 85). Den Klägern wäre es somit möglich, sich mit ihren Familienangehörigen in einem Landesteil Nigerias niederzulassen, wo eine zwangsweise Beschneidung nicht beachtlich wahrscheinlich ist.
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Der Familie der Kläger ist es auch im Hinblick auf ihre individuellen Umstände zuzumuten, sich in diesem sicheren Landesteil Nigerias niederzulassen. Insbesondere ist für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt. Diese Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Für eine in diesem Sinne „gelebte“ Kernfamilie reichen allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris). Im vorliegenden Fall ist daher im Rahmen der Rückkehrprognose nicht nur auf die Kläger, sondern auch auf ihre Mutter abzustellen. Dagegen ist nicht von einer gemeinsamen Rückkehr mit dem Kindsvater auszugehen. Denn zwischen den Eltern der Kläger besteht allenfalls eine Erziehungsgemeinschaft, nicht jedoch eine Lebensgemeinschaft im vorgenannten Sinne. Dennoch ist anzunehmen, dass die junge, gesunde und arbeitsfähige Mutter der Kläger in der Lage sein wird, für sich und ihre beiden Kinder den Lebensunterhalt auch in einem anderen Landesteil Nigerias - einem Land mit einer durchschnittlichen Geburtenrate von 5,32 Kindern pro Frau (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/749023/umfrage/fertilitaetsrate-in-nigeria/) - zu erwirtschaften. Dass ihre Arbeitsfähigkeit eingeschränkt wäre, wurde weder geltend gemacht noch durch ärztliche Atteste o.Ä. belegt. Die Mutter der Kläger verfügt über eine gewisse Schulbildung und hat Friseurinnen in Nigeria bei der Arbeit zugesehen, was es ihr erleichtern dürfte, in Nigeria Arbeit zu finden. Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist auch grundsätzlich davon auszugehen, dass für Rückkehrer in Nigeria die Möglichkeit besteht, z.B. in einer der zahlreichen Millionen- und Großstädte Nigerias mit einer unüberschaubaren Vielzahl an (wenn auch schlecht bezahlten) Erwerbsmöglichkeiten und einem Netz an karitativen Hilfsangeboten ökonomisch eigenständig zu leben und auch ohne Hilfe Dritter zu überleben (vgl. z.B. VG München, U.v. 14.12.2021 - M 21a K 21.31228 - UA Rn. 30). Es gibt zwar gerade für alleinstehende Frauen soziale Schwierigkeiten in Nigeria, insbesondere in traditionell geprägten Landesteilen. Jedoch ist in größeren Städten und im liberaleren Süden bzw. Südwesten des Landes die Akzeptanz alleinstehender Frauen eher vorhanden und steigend (vgl. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA - Nigeria, Gesamtaktualisierung (Version 4) v. 31.1.2022, S. 47; VG München, U.v. 30.1.2020 - 15 K 18.34593 - UA Rn. 24). Insbesondere in den größeren Städten sind auch spezifische Hilfsorganisationen für Frauen zahlreich vertreten. Weiter ist auf das in Afrika herrschende Prinzip der wechselseitigen Solidarität (Ubuntu) zu verweisen. Allgemein kann daher festgestellt werden, dass auch nach Nigeria zurückgeführte Personen, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit finden, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet werden (vgl. a. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA - Nigeria, Gesamtaktualisierung (Version 4) v. 31.1.2022, S. 47 ff.). Hinzu kommt, dass aufgrund der Einlassung des Kindsvaters vor dem Bundesamt davon auszugehen ist, dass er die Familie auch weiterhin von Deutschland aus finanziell unterstützen wird. Aus alledem sowie aus der Tatsache, dass die Mutter der Kläger ausweislich ihrer Lebens- und Fluchtgeschichte offensichtlich in der Lage ist, sich zu organisieren und selbstständig eine Lösung für die sich in ihrem Leben stellenden Probleme zu finden, ist zu schließen, dass ihr in Nigeria die Aufnahme einer praktischen beruflichen Tätigkeit möglich sein wird, mit der sie den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder trotz der angespannten wirtschaftlichen Situation verdienen kann, zumal es in Nigeria nicht unüblich ist, Kinder jedenfalls teilweise bzw. zu bestimmten beruflichen Tätigkeiten, insbesondere im informellen Sektor, mitzunehmen (vgl. z.B. VG München, U.v. 14.12.2021 - M 21a K 21.31228 - UA Rn. 31; U.v. 26.11.2021 - M 8 K 21.31631- UA Rn. 21 m.w.N.).
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Eine andere rechtliche Beurteilung ergibt sich auch nicht aus den vorgelegten ärztlichen Unterlagen den Kläger zu 2 betreffend. Nach diesen ist nicht davon auszugehen, dass die Mutter aufgrund dieser Erkrankung nicht in der Lage wäre, das Existenzminimum für sich und ihre beiden Kinder zu sichern. Insbesondere genügt das Attest nicht den Mindestanforderungen des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. U.v. 11.9.2007 - 10 C 8/07 - juris Rn. 15) bzw. erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c AufenthG. Laut dem aktuellen ärztlichen Attest vom … … 2022 spreche der Kläger zu 2 nicht und reagiere auch nicht auf Ansprache durch den untersuchenden Arzt. Er sei stets in Bewegung, jedoch meistens ziellos. Es werde die Anbahnung eines altersadäquaten Sozialverhaltens durch heilpädagogische Unterstützung und eine logopädische Förderung zur Verbesserung der Mitteilungsfähigkeit empfohlen. Dem kann nicht entnommen werden, dass der Kläger zu 2 derart intensiv therapeutisch behandelt werden müsste, dass dies in Nigeria nicht möglich bzw. finanzierbar wäre, zumal anzunehmen ist, dass der in Deutschland lebende Kindsvater eine etwaige therapeutische Behandlung des Klägers zu 2 finanzieren kann.
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2. Auch Abschiebungsverbote liegen nicht vor.
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2.1 Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK infolge der allgemeinen Situation der Gewalt im Herkunftsland kommt nur in Fällen ganz extremer Gewalt in Betracht und auch schlechte humanitäre Bedingungen können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen. Das erforderliche Mindestmaß an Schwere der drohenden Gefahr (EGMR, U.v. 13.12.2016 - Nr. 41738/10, Paposhvili/Belgien - NVwZ 2007, 1187 Rn. 174) kann etwa erreicht sein, wenn die Rückkehrer ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht sicher können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zur medizinischen Behandlung erhalten (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 6.3.2020 - 3 ZB 20.30516 Rn. 6). In Nigeria ist die allgemeine bzw. humanitäre Lage aber nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten würde. Bei den mit der schwierigen ökonomischen Situation in Nigeria verbundenen Gefahren handelt es sich im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte um Gefahren, die einen Großteil der Bevölkerung in Nigeria betreffen und die für sich keine Verletzung von Art. 3 EMRK begründen (vgl. BVerwG, B.v. 25.10.2012 - 10 B 16/12 - juris). Insbesondere ist auch, wie bereits ausgeführt (s.o. 1.2), davon auszugehen, dass die Mutter der Kläger in der Lage sein wird, für sich und ihre Kinder den Lebensunterhalt zu erwirtschaften.
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2.2 Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus der Corona-Pandemie. Eine individuelle, außergewöhnliche Gefahrenlage, welche die Schwelle der allgemeinen Gefährdung übersteigt, ist gegenwärtig auch bei Berücksichtigung der Verbreitung des Corona-Virus in Nigeria nicht erkennbar (vgl. hierzu ausführlich z.B. BayVGH, U.v. 24.1.2022 - 10 B 20.30598 - juris Rn. 36 f.; OVG NRW, U.v. 22.6.2021 - 19 A 4386/19.A - juris Rn. 194 ff.; VG Augsburg, U.v. 7.3.2022 - Au 9 K 22.30135 - juris Rn. 46 ff.; VG München, U.v. 15.12.2021 - M 32 K 19.30246 - juris Rn. 22 ff.). Es liegen demnach keine Erkenntnisse vor, dass sich die nigerianische Wirtschaft und die Lage der Bevölkerung in Folge der weltweiten Pandemie derart verschlechtert hätten, dass davon ausgegangen werden müsste, dass die Mutter der Kläger bei einer Rückkehr nach Nigeria nicht mehr in der Lage wäre, das Existenzminimum zu erwirtschaften und in eine derart aussichtslose Lage geraten würden, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK oder gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung gerechtfertigt wäre.
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2.3 Dafür, dass die keiner Risikogruppe angehörenden Kläger (vgl. zu Risikogruppen und Krankheitsverläufen: SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) des Robert-Koch-Instituts, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html) auch angesichts mangelhafter medizinischer Versorgung in eine existenzielle Gesundheitsgefahr geraten könnte, gibt es ebenfalls keine Anhaltspunkte, zumal sie aktuell in Deutschland dem Ansteckungsrisiko selbst bei Berücksichtigung etwaiger bestehender Dunkelziffern in höherem Ausmaß wie im Herkunftsland (7-Tages-Inzidenz 0,0, vgl. https://www.corona-in-zahlen.de/weltweit/nigeria/) ausgesetzt sein dürften.
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2.4 Die allgemeine Gefahr in Nigeria hat sich für die Kläger auch nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist. Wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Die drohenden Gefahren müssten nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Dies setzt voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Ausreise in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann, der Ausländer somit gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 29.6.2010 - 10 C 10.09 - juris Rn. 15). Auch unter Berücksichtigung der bereits genannten aktuellen Fall- und Infektionszahlen betreffend das Corona-Virus in Nigeria und auch der insoweit bestehenden Dunkelziffer gibt es keinerlei Anhaltspunkte für eine Infektionslage in Nigeria, die aufgrund des üblichen Ansteckungsrisikos für die Infektionskrankheit eine hohe Wahrscheinlichkeit eines schweren oder tödlichen Verlaufs der Erkrankung für die Kläger nahelegen würde. Im Bedarfsfall sind sie wie alle Rückkehrer auf die allgemeine Versorgung im nigerianischen Gesundheitssystem zu verweisen. Dass diese medizinische Versorgung in Nigeria nicht nur insgesamt, sondern auch für an dem Corona-Virus erkrankte Patienten der entsprechenden Versorgung in der Bundesrepublik nicht gleichwertig ist, ist irrelevant (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Unabhängig davon ist den Klägern zuzumuten, wie auch in anderen von der Corona-Virus-Pandemie betroffenen Ländern wie Deutschland, individuell persönliche Schutzmaßnahmen zu ergreifen, wozu etwa die Wahrung von Abstand zu anderen Personen und - mit zunehmendem Alter der Kläger - auch das Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung gehört.
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2.5 Auch aus gesundheitlichen Gründen kann kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bejaht werden. Zwar hat die Mutter der Kläger erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgebracht, dass der Kläger zu 2 nicht spreche und ein ärztliches Attest einer Kinder- und Jugendärztin vom … … 2022 vorgelegt. Davon abgesehen, dass dieses die Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c AufenthG nicht erfüllt, ergibt sich aus der getroffenen Diagnose „kombinierte Entwicklungsstörung“ auch keine lebensbedrohliche Gefahr, die beim Kläger zu 2 bei einer Rückkehr nach Nigeria alsbald i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG eintreten würde.
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2.6 Schließlich wäre die Geltendmachung der Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen Gründen aufgrund eines Familienverbands (Art. 6 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK) bzw. der Umstand, dass die Kläger als Minderjährige nicht getrennt von ihren Eltern nach Nigeria gehen können, kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG, sondern ein allenfalls im Rahmen von § 60a AufenthG zu prüfendes inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, für das sich die Kläger auf einen Antrag auf Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG bei der örtlich zuständigen Ausländerbehörde verweisen lassen müssen, welche hierbei auch die weiteren (mittelbaren) Folgen der Trennung im Abschiebungszielstaat - etwa eine drohende Existenzgefährdung - zu berücksichtigen hat (vgl. § 43 Abs. 3 AsylG sowie z.B. BayVGH, B.v. 19.9.2019 - 15 ZB 19.33171 - juris Rn. 13; OVG Lüneburg, U.v. 18.5.2010 - 11 LB 186/08 - juris Rn. 47; OVG Berlin-Bbg. B.v. 30.4.2013 - OVG 12 S 25.13 - juris unter Hinweis auf § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG; BVerwG, U.v. 25.9.1997 - 1 C 6/97 - juris).
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2.7 Nach alledem sind auch die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG rechtmäßig. Insbesondere wurden bezüglich dieser Befristung Ermessensfehler weder substantiiert geltend gemacht noch sind solche ersichtlich (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).
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Die Klagen waren daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.