Titel:
Kein Anspruch auf Dienstunfallfürsorge wegen Versäumnis der Zehnjahresfrist
Normenkette:
BayBeamtVG Art. 2 S. 2, Art. 47 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Folgen eines Dienstunfalls, die erst später bemerkbar geworden sind, begründen keinen Anspruch des Beamten auf Dienstunfallfürsorge, wenn sie nicht innerhalb von zehn Jahren seit dem Unfall und innerhalb von drei Monaten, nachdem die Unfallfolge bemerkbar geworden ist, dem Dienstherrn gemeldet wurden; nach Ablauf von 10 Jahren sollen Auseinandersetzungen über den Geschehensablauf und den Kausalzusammenhang eines Körperschadens vermieden werden (ebenso BVerwG BeckRS 2018, 29079). (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die notwendige Abgrenzung zwischen einer weiteren Unfallfolge auf der einen Seite und einer absehbaren (typischen) Folge oder einer vorhersehbaren Verschlimmerung der unmittelbar aufgetretenen (Körper-)Schäden auf der anderen Seite ist danach vorzunehmen, ob es sich bei den neu geltend gemachten Unfallfolgen um selbstständige, objektiv von dem bisherigen Schaden unterscheidbare Körperschäden bzw. Erkrankungen mit jeweils eigenem Krankheitswert handelt, die in der Regel auch einer nach Art und Umfang unterschiedlichen Behandlung bedürfen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Auslegung des Regelungsgehalts einer anerkannten Dienstunfallfolge hat ihre immanente Grenze, wenn ein Gesundheitszustand vorliegt und nun geltend gemacht wird, der gegenüber demjenigen, der bislang anerkannt worden ist, als aliud angesehen werden muss; ein solches aliud kann nicht von der Unfallfürsorge mitumfasst sein, selbst wenn der dienstunfallrechtliche Kausalzusammenhang insoweit festgestellt werden könnte. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
4. Auch unter Zugrundelegung der bisher in der Rechtsprechung herangezogenen Hilfskriterien handelt es sich bei den neu geltend gemachten Körperschäden (funktioneller Beckenschiefstand und Skoliose mit Rippenbuckel) nicht um eine absehbare (typische) Folge oder eine vorhersehbare Verschlimmerung der anerkannten Dienstunfallfolgen, sondern um selbstständige, objektiv von dem bisherigen Schaden unterscheidbare Körperschäden mit jeweils eigenem Krankheitswert. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dienstunfallrecht, Ablauf der Ausschlussfrist von 10 Jahren, Abgrenzung einer weiteren eigenständigen Unfallfolge von einer Verschlimmerung der bestandskräftig feststehenden Ausgangserkrankung, funktionaler Beckenschiefstand, Skoliose, Rippenbuckel, Verschlimmerung der Ausgangserkrankung, gänzlich neuer Körperschaden
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 21.12.2020 – W 1 K 20.1508
Fundstelle:
BeckRS 2022, 19912
Tenor
I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 21. Dezember 2019 wird abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Mit seiner vom Senat zugelassenen Berufung wendet sich der Beklagte gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg, mit dem es den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides des Landesamtes für Finanzen (Landesamt) vom 8. Oktober 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. September 2020 verpflichtet hat, festzustellen, dass der beim Kläger mit amtsärztlichem Gutachten des Landratsamtes A. vom 18. Juli 2019 diagnostizierte funktionelle Beckenschiefstand sowie eine Skoliose mit Rippenbuckel von dem mit Bescheiden vom 12. Januar 1999 sowie 13. Januar 2004 festgestellten Dienstunfall mit den Unfallfolgen III-Grad offene Unterschenkelfraktur rechts, Ellenbogenluxation mit Ruptur des radialen Seitenbandes sowie Sensibilitätsstörungen im Bereich der rechten Gesäßhälfte mitumfasst sind.
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Dabei ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die bereits verstrichene 10-jährige Ausschlussfrist nach Art. 47 Abs. 2 Satz 1 Bayerisches Beamtenversorgungsgesetz (BayBeamtVG) der Anerkennung der neu geltend gemachten Körperschäden nicht entgegenstehe, da diese in den anerkannten Unfallfolgen (insbesondere der III-Grad offenen Unterschenkelfraktur rechts) bereits substantiell angelegt gewesen seien. Der Beckenschiefstand und die Skoliose seien keine weiteren und damit ihrerseits meldepflichtigen Unfallfolgen, sondern typische Weiterentwicklungen, ein zu erwartendes Fortschreiten bzw. eine vorhersehbare Verschlimmerung des bereits im anerkannten Unfallgeschehen vom 15. Dezember 1998 angelegten Ausgangsleidens.
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In ihrem Gutachten vom 18. Juli 2019 (Dienstunfallakte Bl. 96 ff.) habe die Amtsärztin überzeugend und nachvollziehbar dargelegt, dass die (unfallbedingte) Bewegungseinschränkung und Kraftminderung des rechten Unterschenkels und der rechten Großzehe im Bewegungsablauf hätten kompensiert werden müssen. Angesichts der am 15. Dezember 1998 erlittenen erheblichen Verletzungen dränge es sich bei der gebotenen natürlichen Betrachtungsweise geradezu auf, dass der Bewegungsapparat des Klägers seither durch die fehlende Möglichkeit eines normalen, gleichmäßigen physiologischen Bewegungsablaufs einer permanenten Fehlbelastung ausgesetzt gewesen sei. Diese Fehlbelastungen hätten langfristig zu weiteren Fehlstellungen (Krallenzehbildung, funktioneller Beckenschiefstand) und Funktionseinschränkungen geführt. Vor diesem Hintergrund habe die Amtsärztin plausibel die geltend gemachten Körperschäden als verbliebene Unfallfolgen festgestellt.
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Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts richtet sich die Berufung des Beklagten mit der Begründung, dass die nunmehr aufgetretenen Beschwerden nicht als Fortsetzung der bereits anerkannten Dienstunfallfolgen zu werten seien, da es für diese auch andere Ursachen geben könne. Das Verwaltungsgericht spreche selbst von „unspezifischen Körperschäden“. Unerheblich sei, dass es sich bei dem Dienstunfall nicht um eine „alltägliche Bagatellverletzung“, sondern um eine „äußerst schwerwiegende spezifische Verletzung“ gehandelt habe. Der Kläger trage die materielle Beweislast, dass die behauptete Schädigungsfolge wesentlich auf den Dienstunfall und nicht auf andere Faktoren zurückzuführen sei. Allein, dass die neu geltend gemachten Unfallfolgen im amtsärztlichen Attest aufgeführt seien, genüge hierfür nicht. Dass es sich beim Beckenschiefstand und der Skoliose mit Rippenbuckel um eine Verschlimmerung der „III-Grad offenen Unterschenkelfraktur rechts“ handele, sei dem amtsärztlichen Zeugnis nicht zu entnehmen. Das amtsärztliche Gutachten zur „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ liste zwar die geltend gemachten Beschwerden unter „Unfallfolgen“ auf, führe dann aber unter 4. aus, dass diese sich durch Bewegungseinschränkungen und Kraftminderung herausgebildet hätten. Dies spreche für Spätfolgen des Unfalls und nicht für eine Verschlimmerung der festgestellten Unfallfolgen. Bei den neuen Beschwerden handele es sich um selbstständige, von der „III-Grad offene Unterschenkelfraktur rechts“ unterscheidbare Körperschäden. Es liege ein völlig neues Krankheitsbild vor und keine Fortentwicklung der bereits anerkannten Körperschäden. Soweit darauf abgestellt werde, ob die Schädigungen einer unterschiedlichen Behandlung bedurft hätten, habe das Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt, dass andere Körperteile betroffen seien. Daraus, dass der Kläger seit dem Unfall „physiotherapeutische Behandlungen“ erhalte, die auch für die neuen Körperschäden empfohlen würden, lasse sich somit keine Identität der festgestellten mit den nun geltend gemachten Körperschäden herleiten. Die weiteren Abgrenzungskriterien wie Gleichartigkeit oder Unterschiedlichkeit der Symptome, Dauer und Umfang der Behandlungsbedürftigkeit sowie die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter späterer Folgen sprächen gegen eine Identität der Körperschäden. Zwar sei kein behandlungsfreier Zeitraum zu verzeichnen gewesen, jedoch hätten sich die Behandlungen allein auf die bereits anerkannten Dienstunfallfolgen bezogen. Die 10-jährige Ausschlussfrist gelte auch für Spätfolgen eines bestimmten Unfallereignisses, die erst später bemerkbar geworden seien.
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Der Beklagte beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 21. Dezember 2019 abzuändern und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt (sinngemäß),
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die Berufung zurückzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Behörden- und Personalakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung des Beklagten, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten (Schriftsätze vom 2./16.5.2022) ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 125 Abs. 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg.
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Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Der Bescheid des Landesamtes vom 8. Oktober 2019 und der Widerspruchsbescheid vom 1. September 2020 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Anerkennung des bei ihm diagnostizierten funktionellen Beckenschiefstandes noch auf Anerkennung der Skoliose mit Rippenbuckel als Folgen des Dienstunfalles vom 15. Dezember 1998 oder auf Feststellung, dass diese Körperschäden bereits von dem mit Bescheiden vom 12. Januar 1999 sowie 13. Januar 2004 festgestellten Dienstunfall mit den Unfallfolgen III-Grad offene Unterschenkelfraktur rechts, Ellenbogenluxation mit Ruptur des radialen Seitenbandes sowie Sensibilitätsstörungen im Bereich der rechten Gesäßhälfte mitumfasst sind.
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Nach Art. 47 Abs. 1 Satz 1 BayBeamtVG sind Unfälle, aus denen Unfallfürsorgeansprüche entstehen können, innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Jahren nach dem Eintritt des Unfalles beim Dienstvorgesetzten des Verletzten zu melden. Nach Ablauf der Ausschlussfrist wird Unfallfürsorge nur gewährt, wenn seit dem Unfall noch nicht zehn Jahre vergangen sind und glaubhaft gemacht wird, dass mit der Möglichkeit einer den Anspruch auf Unfallfürsorge begründenden Folge des Unfalles nicht habe gerechnet werden können oder dass der Berechtigte durch außerhalb seines Willens liegende Umstände gehindert worden ist, den Unfall zu melden (Art. 47 Abs. 2 Satz 1 BayBeamtVG). Die Meldung muss, nachdem mit der Möglichkeit einer den Anspruch auf Unfallfürsorge begründenden Folge des Unfalles gerechnet werden konnte oder das Hindernis für die Meldung weggefallen ist, innerhalb von drei Monaten erfolgen (Art. 47 Abs. 2 Satz 2 BayBeamtVG).
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Folgen eines Dienstunfalls, die erst später bemerkbar geworden sind, begründen deshalb keinen Anspruch des Beamten auf Dienstunfallfürsorge, wenn er sie nicht innerhalb von zehn Jahren seit dem Unfall und innerhalb von drei Monaten, nachdem die Unfallfolge bemerkbar geworden ist, dem Dienstherrn gemeldet hat. Nach Ablauf von 10 Jahren sollen Auseinandersetzungen über den Geschehensablauf und den Kausalzusammenhang eines Körperschadens vermieden werden (BVerwG, U.v. 28.2.2002 - 2 C 5.01 - juris Rn. 9, 18; U.v. 30.8.2018 - 2 C 18.17 - juris Rn. 22; BayVGH, B.v. 20.3.2017 - 3 ZB 14.1449 - juris Rn. 7).
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Die Anerkennung des beim Kläger diagnostizierten funktionellen Beckenschiefstandes sowie der Skoliose mit Rippenbuckel als Folgen des Dienstunfalles vom 15. Dezember 1998 sowie diesbezügliche Dienstunfallfürsorgeleistungen sind daher ausgeschlossen, weil der Kläger diese Körperschäden erst im Juli 2019 beim Landesamt und somit nach Ablauf der Ausschlussfrist von zehn Jahren seit dem Unfall gemeldet hat. Diese Körperschäden sind auch nicht von den mit Bescheiden vom 12. Januar 1999 sowie 13. Januar 2004 festgestellten Unfallfolgen (III-Grad offene Unterschenkelfraktur rechts, Ellenbogenluxation mit Ruptur des radialen Seitenbandes sowie Sensibilitätsstörungen im Bereich der rechten Gesäßhälfte) mitumfasst. Bei ihnen handelt es sich um weitere (meldepflichtige) Unfallfolgen und nicht um absehbare (typische) Folgen oder eine vorhersehbare Verschlimmerung der unmittelbar aufgetretenen (Körper-) Schäden (vgl. OVG NW, U.v. 30.11.2017 - 1 A 469/15 - juris Rn. 87 f. m.w.N.).
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Die diesbezüglich notwendig vorzunehmende Abgrenzung zwischen einer weiteren Unfallfolge auf der einen Seite und einer absehbaren (typischen) Folge oder einer vorhersehbaren Verschlimmerung der unmittelbar aufgetretenen (Körper-)Schäden auf der anderen Seite nimmt das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf obergerichtliche Rechtsprechung (OVG NW, B.v. 25.5.2020 - 1 A 163/19 - juris Rn. 17; U.v. 30.11.2017 - 1 A 469/15 - juris Rn. 95 ff.) danach vor, ob es sich bei den neu geltend gemachten Unfallfolgen um selbstständige, objektiv von dem bisherigen Schaden unterscheidbare Körperschäden bzw. Erkrankungen mit jeweils eigenem Krankheitswert handelt, die in der Regel auch einer nach Art und Umfang unterschiedlichen Behandlung bedürfen. Dem stehe es gleich, wenn sich der ursprünglich bestehende Körperschaden bezogen auf das Gesamtbild der Symptome qualitativ in einer Weise verändert habe, dass bei natürlicher Betrachtung und gemessen an einer - ausgehend von dem gemeldeten Unfall bzw. Unfallschaden - typischen Entwicklung des Krankheitsverlaufs kein zu erwartendes Fortschreiten und auch keine vorhersehbare Verschlimmerung vorliege. Weitere verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung (vgl. VG München, B.v. 18.12.2015 - M 12 K 15.947 - juris Rn. 54 bestätigt durch BayVGH, B.v. 24.3.2017 - 3 C 16.859 - juris; VG Bayreuth, U.v. 21.11.2017 - B 5 K 16.655 - juris Rn. 50; VG Gelsenkirchen, U.v. 31.5.2017 - 3 K 1320/15 - juris Rn. 45 ff.; VG Bremen, U.v. 21.9.2021 - 7 K 2010/19 - juris Rn. 35) stellt für die vorzunehmende Abgrenzung ergänzend darauf ab, ob die ursprünglichen und die später geltend gemachten Folgen eines Unfalls einer unterschiedlichen Behandlung bedürfen (VG Berlin, U.v. 13.10.2009 - 28 A 333.05 - juris Rn. 27) oder ob zwischen der Ausgangserkrankung und dem späteren Körperschaden ein langer behandlungsfreier Zeitraum lag, in dem andere Ereignisse den betreffenden Köperschaden ausgelöst haben können (VG München, U.v. 5.6.2009 - M 21 K 07.4500 - juris Rn. 23). Als weitere Abgrenzungskriterien werden die Gleichartigkeit oder Unterschiedlichkeit der Symptome, Dauer und Umfang der Behandlungsbedürftigkeit sowie die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter späterer Folgen genannt. Dabei sei eine natürliche Betrachtungsweise geboten (VG Trier, U.v. 31.7.2012 - 1 K 124/12.TR - juris Rn. 32).
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Nach Auffassung des Senats findet die Auslegung des Regelungsgehalts der mit Bescheiden vom 12. Januar 1999 und 13. Januar 2004 anerkannten Dienstunfallfolgen seine immanente Grenze, wenn ein Gesundheitszustand vorliegt und nun geltend gemacht wird, der gegenüber demjenigen, der bislang anerkannt worden ist, als aliud angesehen werden muss. Ein solches aliud kann nicht mitumfasst sein, selbst wenn der dienstunfallrechtliche Kausalzusammenhang insoweit festgestellt werden könnte (vgl. OVG NW a.a.O. Rn. 95). Diese Frage ist mithin rechtlicher und nicht medizinischer Natur.
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Auch unter Zugrundelegung der bisher in der Rechtsprechung herangezogenen Hilfskriterien handelt es sich bei den neu geltend gemachten Körperschäden (funktioneller Beckenschiefstand und Skoliose mit Rippenbuckel) nicht um eine absehbare (typische) Folge oder eine vorhersehbare Verschlimmerung der anerkannten Dienstunfallfolgen, sondern um selbstständige, objektiv von dem bisherigen Schaden unterscheidbare Körperschäden mit jeweils eigenem Krankheitswert. Den neu geltend gemachten Körperschäden liegen eigenständige Diagnosen zugrunde, die andere Körperteile betreffen (Hüfte und Wirbelsäule statt Unterschenkel, Ellenbogen und Gesäß). Es bestehen nicht nur andere Krankheitsbilder (Fraktur, eine Luxation mit Ruptur und Sensibilitätsstörung im Gegensatz zu anatomischen Fehlstellungen bzw. Verformungen des Bewegungsapparates), sondern auch grundlegend unterschiedliche Ursachen, Symptome und Genesungszeiträume. Während die anerkannten Dienstunfallfolgen durch ein Trauma ausgelöst wurden, sind die nunmehr aufgetretenen Körperschäden funktionell bedingt und durch eine neue Ursache in Gestalt einer Fehlhaltung, Bewegungseinschränkung und Kraftminderung ausgelöst worden. Die neu geltend gemachten Körperschäden weisen auch einen jeweils eigenen Krankheitswert mit einem anderen Ausmaß an Gesundheitsminderung auf. Sie gehen nach Art, Schwere und Ausprägungsgrad deutlich über den Verletzungszustand hinaus, der unmittelbar im Anschluss an den Dienstunfall des Klägers ausweislich der Unfallmeldung nebst nachgereichter ärztlicher Bescheinigung zunächst bestanden und insofern auch dem Kenntnisstand der Beklagten entsprochen hatte. Sie bedurften zudem nach Art und Umfang divergierender Behandlungsansätze an lokal völlig unterschiedlichen Körperstellen. Soweit der Kläger geltend macht, die Folgen des Dienstunfalls seien jeweils mit Physiotherapie-Maßnahmen behandelt worden, verkennt er, dass dies bei den anerkannten Körperschäden allenfalls im Rahmen der Nachbehandlung erfolgte und zudem völlig andere Körperregionen betraf. Das (eigentliche) Heilverfahren konnte zum damaligen Zeitpunkt als abgeschlossen angesehen werden. Als weitere Folgeleistung war zum damaligen Zeitpunkt lediglich mit physiotherapeutischen Maßnahmen (etwa jährlich einmal) zur Bewegungserhaltung im Bereich des rechten Sprunggelenkes zu rechnen (vgl. Schr. des Amtsarztes v.16.12.2003 - Dienstunfallakte S. 51 f.). Die danach zur Erstattung eingereichten ärztlichen Rezepte über die Verordnung von Krankengymnastik, Fango, Massagen enthielten folglich auch nur die bereits anerkannten Diagnosen „Z.n. dienstunfallbed. Polytrauma III. Grades, offener Unterschenkelfraktur re. Ellenbogenluxation mit Ruptur des lat. Seitenbandes“ (vgl. z.B. Rezepte v. 23.1., 31.10.2012, 11.1.2013, 22.6., 4.7.2016, 2.8.2018, 15., 26.7., 21.11.2019, 26.5.2020 - Dienstunfallakte HBK III S. 541, 559, 565, 571, 573, 583, 599, 611, 613, 629, 633). Zwischen 2013 und 2016 wurden ausweislich der behördlichen Akten über die Heilbehandlungskosten in einem Zeitraum von etwa dreieinhalb Jahren keine Erstattungsanträge über Heilbehandlungen eingereicht. Erst Jahre nach Ablauf der Zehnjahresfrist diagnostizierte die behandelnde Ärztin auf dem Rezept zu Einlagen nach Formabdruck und Ganganalyse vom 22. Juni 2016 bzw. zur Verordnung von Fußpflege vom 4. Juli 2016 „statische Beschwerden“ bzw. „Hyperkeratose bei Fehlstellung des Fußes nach dienstunfallbedingtem Polytrauma III. Grades“ (Dienstunfallakte HBK III S. 589). Selbst als das Landesamt dies zum Anlass nahm, den Kläger zu bitten, den derzeitigen Stand seiner Beschwerden und Einschränkungen zu skizzieren, um prüfen zu können, ob gegebenenfalls eine Fortschreibung der bisherigen MdE-Einstufung angezeigt sei (Schr. v. 1.8.2016 - Dienstunfallakte S. 57), schilderte dieser in seiner Erklärung vom 8. August 2016 keine Beschwerden an Hüfte oder Wirbelsäule, sondern: „Einschränkung Großzeh, Sprunggelenk, Schmerzen Großzeh und Sprunggelenk, Unterschenkel“. Ohne auf die Diagnosen eines Beckenschiefstandes oder einer Skoliose einzugehen, erläuterte die behandelnde Ärztin in ihrem Schreiben vom 4. Dezember 2017 (Dienstunfallakte HBK III S. 594), dass es in Folge des Dienstunfalls zu einer Fehlstellung des „linken Fußes“ (statt richtigerweise „rechten Fußes“, korrigiert mit Attest v. 15.1.2019 - Dienstunfallakte S. 82), einschließlich der Großzehe gekommen sei, was zu einer nahezu aufgehobenen Beweglichkeit des D1 mit Fehlbelastung des Vorfußes und zu einem Clavus an der Palmarseite der Großzehe geführt habe. Aufgrund starker Schmerzen durch den Clavus sei es dringend erforderlich, regelmäßig Fußpflege durchzuführen, um die immer wieder auftretende Hyperkeratose abzutragen. Erst in dem auf Veranlassung des Landesamtes eingeholten amtsärztlichen Gutachten vom 18. Juli 2019 wurde als „verbliebene Unfallfolge“ ein funktioneller Beckenschiefstand bei Fehlbelastung und eine dadurch gebildete Skoliose mit Rippenbuckel festgestellt. Dass es sich dabei um eine absehbare (typische) Folge oder eine vorhersehbare Verschlimmerung der anerkannten Dienstunfallfolgen handele, kann dem Gutachten indes nicht entnommen werden.
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Mit Blick auf das Gesamtbild der Symptome haben sich die ursprünglich bestehenden Körperschäden zudem nicht bloß verstärkt, sondern deutlich erweitert und auch qualitativ in einer Weise verändert, dass bei natürlicher Betrachtung und gemessen an einer - ausgehend von dem gemeldeten Unfall bzw. Unfallschaden - typischen Entwicklung des Krankheitsverlaufs keine (bloße) vorhersehbare Verschlimmerung der Ausgangserkrankung vorliegt. Bei neuen Körperschäden, die auf dienstunfallbedingte Fehlhaltungen zurückzuführen sind, handelt es sich schon begrifflich nicht um ein „Fortschreiten“ oder eine „Verschlimmerung“ der anerkannten Ausgangserkrankung, sondern um einen gänzlich neuen Körperschaden. Denn eine orthopädische Fehlstellung eines anderen Körperteils aufgrund einer Fehl- oder Schonhaltung - wie hier - ist ein „weiterer“ Körperschaden, auch wenn er kausal auf einer anerkannten Dienstunfallfolge beruht, daher naturgemäß untrennbar mit ihm verbunden ist und in der Regel erst Jahre später in Erscheinung tritt. Die Zehnjahresfrist des § 45 Abs. 2 BeamtVG läuft unabhängig davon ab, ob der Beamte erkennen konnte bzw. erkannt hat, dass er an einer solchen Krankheit leidet (vgl. BVerwG, U.v. 28.4.2011 - 2 C 55.09 - juris Rn. 29).
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Ein funktioneller Beckenschiefstand und eine Skoliose mit Rippenbuckel stellen nicht die zwangsläufige Folge einer III-Grad offenen Unterschenkenfraktur rechts oder etwa einer Ellenbogenluxation mit Ruptur des radialen Seitenbandes oder einer Sensibilitätsstörung im Bereich der rechten Gesäßhälfte dar. Diese geltend gemachten Körperschäden sind nicht - wie der Kläger meint - typischerweise in den anerkannten Dienstunfallfolgen angelegt. Gegenteiliges ergibt sich insbesondere nicht aus dem amtsärztlichen Gutachten vom 18. Juli 2019, auch wenn dieses den kausalen Zusammenhang zwischen Dienstunfall, unfallbedingter Bewegungseinschränkung/Kraftminderung, Fehlbelastung und letztlich orthopädischen Fehlstellungen im Nachhinein bestätigt. Nach dem damaligen ärztlichen Kenntnisstand war aufgrund der vom Kläger beim Unfall erlittenen Verletzungen - auch wenn es sich dabei um schwerwiegende Verletzungen mit langwierigen gesundheitlichen Auswirkungen gehandelt hat - eine derart gravierende Verschlechterung, wie sie später tatsächlich eintrat, nicht ohne weiteres zu erwarten. Aus den vorliegenden ärztlichen Bescheinigungen ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass sich die orthopädischen Fehlstellungen in voraussehbarer Weise aus den anerkannten Dienstunfallfolgen typisch progredient entwickelt hätten. Nach der amtsärztlichen Stellungnahme vom 3. April 2002 konnten aufgrund der intensiven, regelmäßig vom Kläger durchgeführten ambulanten Reha-Maßnahmen in den davorliegenden letzten beiden Jahren die Bewegungseinschränkungen im Bereich der rechten unteren Extremität wieder verbessert werden, sodass im Bereich des oberen Sprunggelenkes rechts nur noch mäßiggradige Einschränkungen beim Strecken und beim Einwärtsdrehen des Fußes festzustellen gewesen seien (Bewegungsumfang nach Neutral-0-Methode 0°-0°-10° im rechten Sprunggelenk). Die grobe Kraft im Bereich der rechten Unterschenkelmuskulatur sei (nur) noch geringgradig herabgesetzt.
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Die ärztlicherseits gestellte medizinische Diagnose „III-Grad offenen Unterschenkenfraktur“ ist im Übrigen zu unspezifisch, als dass sie alle im Einzelfall möglichen Einzelausprägungen bzw. Folgeschädigungen von Krankheitswert von vorneherein (gewissermaßen automatisch) mitumfassen würde. Die möglichen Folgen eines solchen Traumas können - wie der Fall des Klägers zeigt - in nicht exakt vorhersehbarer Weise nach Art und Schwere völlig unterschiedlich ausfallen und unterschiedliche Körperregionen betreffen. Dass sich gerade beim Kläger durch entsprechende Fehlbelastungen eine orthopädische Fehlstellung mit den sich von der Unterschenkelfraktur erheblich unterscheidenden Symptomen entwickelt, war nicht vorhersehbar oder in der eigentlichen Ausgangserkrankung angelegt. Die dann eingetretene weitere Unfallfolge wurde von ihm indessen, wie dargelegt, erstmals mehr als 20 Jahre nach seinem Dienstunfall und damit nicht rechtzeitig seinem Dienstherrn gemeldet.
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Nach alledem hat der Kläger damit die zu beachtende Zehnjahresfrist des § 45 Abs. 2 Satz 1 BeamtVG versäumt.
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2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
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3. Die Revision war mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2, § 191 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 127 BRRG nicht zuzulassen.