Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 19.01.2022 – AN 1 K 21.30046
Titel:

Wegen Vorliegens eines Ausschlussgrunds nur teilweise erfolgreiche Asylklage (Türkei, Aktivitäten für PKK und YPG in Syrien und im Irak)

Normenketten:
EMRK Art. 3
AsylG § 3 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 4, § 4,
AufehthG § 60 Abs. 5, Abs. 8 S. 1
Leitsätze:
1. Bei einer Rückkehr in die Türkei droht Personen, die für die PKK und YPG im Irak und in Syrien aktiv waren, Verfolgung. (Rn. 47 – 57) (redaktioneller Leitsatz)
2. Personen, die terroristische Aktivitäten der PKK unterstützt haben, sind von der Zuerkennung eines internationalen Schutzsstatus ausgeschlossen. (Rn. 58 – 66) (Rn. 78) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland durch solche Personen kann angenommen werden, obwohl sich die Aktivitäten der PKK derzeit überwiegend auf die Türkei und die an diese angrenzenden Staaten konzentriert und sich im Wesentlichen gegen die Türkei richten. (Rn. 73) (redaktioneller Leitsatz)
4. Personen mit PKK-Verbindungen drohen bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, verbunden mit Folter, unmenschlicher Behandlung und Einschränkung ihres Rechtes auf ein faires gerichtliches Verfahren. (Rn. 84 – 86) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
türkischer Staatsangehöriger, Aktivitäten für PKK und YPG in Syrien und im Irak, Türkei, PKK, Ausschlussgrund, Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, Abschiebungsverbot
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 12.07.2022 – 24 ZB 22.30285
Fundstelle:
BeckRS 2022, 19909

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. Dezember 2020 – Gz. ... in Ziff. 4 bis 6 verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes hinsichtlich der Türkei vorliegen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens zu einem Drittel, der Kläger zu 2/3. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Hinsichtlich der Kosten ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Der Kläger und die Beklagte können die Vollstreckung jeweils durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der/die jeweils andere Beteiligte Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er wurde am … 1987 in der Bundesrepublik Deutschland geboren und erwarb aufgrund seiner Nationalität im Rahmen des Assoziationsrechts EWG/Türkei automatisch ein Aufenthaltsrecht und war von der Aufenthaltstitelpflicht befreit. 2009 verließ der Kläger freiwillig die Bundesrepublik Deutschland und reiste am 15. September 2020 erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 16. November 2020 stellte er einen Asylantrag.
2
Bei seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 23. November 2020 trug der Kläger im Wesentlichen vor, dass er in einer Familie aufgewachsen sei, die ihre eigenen Werte, ihre Sprache und Kultur nicht vergessen habe. Ab einem Alter von 14 Jahren habe er Drogen konsumiert und sei auch inhaftiert gewesen. 2009 habe er freiwillig die Bundesrepublik Deutschland verlassen und sei im Anschluss bis Ende 2019 bei der PKK aktiv gewesen. Er habe sich für die PKK entschieden, da schon sein Vater und auch die restliche Familie für die PKK aktiv gewesen seien. Durch den Kontakt mit der PKK habe er sich von den bis dahin konsumierten Drogen und der Kriminalität gelöst. Zuerst sei er in die Neulingsausbildung der PKK aufgenommen worden und sei dann als Guerillakämpfer anerkannt worden. Er habe zweieinhalb Jahre in Syrien für die YPG gegen den IS gekämpft, insgesamt sechs Jahre sei er im Irak gewesen. Am 16.März 2019 sei er im Irak verhaftet worden. Er sei als PKK-Mitglied mitgenommen und verhört worden. Da ein Sohn einer befreundeten Familie alles auf sich genommen habe, sei er freigekommen. Vier bis fünf Monate später sei er mit einem echten irakischen Pass unwahren Inhalts von S… nach I… geflogen und von dort auf dem Landweg weitergereist. In Serbien sei er befragt worden und für sechs Monate in U-Haft genommen worden, der irakische Pass sei beschlagnahmt worden. Auch habe er ein Schreiben erhalten, dass in Deutschland ein Einreiseverbot bestehe, da er eine Gefahr für die öffentliche Seite darstelle, und dass in der Türkei ein Haftbefehl ausgestellt worden sei, in dem stehe, dass er Mitglied einer bewaffneten Organisation sei. In der Türkei werde nach ihm gefahndet, allerdings wisse er nicht, was passiert sei. Seine Identitätsseite beim Konsulat sei geblockt. In der Türkei bestehe für ihn Lebensgefahr, da einem Terrorverdächtigen kein Anwalt helfen könne. Hauptgrund für die bestehende Lebensgefahr sei aber, dass er Kurde sei.
3
In der Gefährdungseinschätzung der Polizeiinspektion … vom 14. Dezember 2020 wird unter Darstellung aller vorhandener Erkenntnisse festgestellt, dass der Kläger im Jahr 2009 nach Vorliegens zweier Haftbefehle zur Strafvollstreckung die Bundesrepublik Deutschland freiwillig verlassen habe, um vermutlich der Freiheitsstrafe zu entgehen. Nach Angaben des Vaters habe sich der Kläger in der Türkei der PKK angeschlossen und sich zuletzt im Irak aufgehalten. Dort habe er Probleme mit der PKK bekommen und sich deshalb zum Schutz der DKP unterstellt.
4
Die Wiedereinreise nach Deutschland habe der Kläger im Januar 2020 unter anderem Namen mittels eines irakischen Reisepasses und einer italienischen ID-Karte versucht, sei unterwegs jedoch in Serbien kontrolliert, identifiziert und letztlich inhaftiert worden. Unmittelbar nach Asylantragstellung im Bundesgebiet sei der Kläger erneut im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln straffällig geworden. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger unter Ausnutzung des Asylverfahrens weiterhin Straftaten in Deutschland begehen werde. Nach Ansicht der Polizei gehe daher eine nicht unerhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vom Kläger aus. Es sei davon auszugehen, dass er in Deutschland weiterhin Straftaten begehen werde.
5
Mit Bescheid vom 30. Dezember 2020, als Einschreiben am 7. Januar 2021 zur Post gegeben, wurden der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, der Antrag auf Asylanerkennung und der Antrag auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Andernfalls wurde ihm die Abschiebung in die Türkei bzw. einen anderen zur Aufnahme bereiten oder verpflichteten Staat angedroht. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und, im Falle einer fristgerechten Stellung eines Antrages auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrag durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes angeordnet und auf 96 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
6
Das Offensichtlichkeitsurteil wurde auf § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG gestützt. Der gesamte Sachvortrag des Klägers erweise sich, insbesondere hinsichtlich des Kerngeschehens, als nicht schlüssig. Auch weiteres Vorbringen anlässlich mehrerer Nachfragen sei unsubstantiiert geblieben, der Kläger habe vielmehr Vorgetragenes wiederholt bzw. ausgeschmückt. Dem Kläger sei es nicht gelungen glaubhaft darzulegen, weshalb er nicht in die Türkei zurückkehren könne. Es werde insoweit auf die Ausführungen im Bescheid zum Flüchtlingsschutz verwiesen.
7
Gleiches gelte auch für offenkundig unwahre Tatsachenbehauptungen. Zur Überzeugung des Unterzeichners sei das Vorbringen des Klägers zur PKK-Zugehörigkeit offenkundig unwahr. Es werde auf die Ausführungen im Bescheid zum Flüchtlingsschutz verwiesen. Der gesamte Sachvortrag sei daher in Gänze in hohem Maße unglaubhaft.
8
Der Asylantrag sei als offensichtlich unbegründet abzulehnen, da sich eine solche Entscheidung mangels drohender Verfolgung sowohl bei Verlassen der Türkei als auch bei Rückkehr in die Türkei aufdränge und eine Entscheidung zu Gunsten des Klägers unter keinem denkbaren Gesichtspunkt möglich sei.
9
Hiergegen ließ der Kläger mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 20. Januar 2020, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach über EGVP am selben Tag, Klage erheben und beantragen,
1.
Der Bescheid des Bundesamtes vom 30. Dezember 2020, Gz.: …, wird ausgenommen der Ziffer 2 aufgehoben.
2.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG hinsichtlich der Türkei vorliegen.
3.
Hilfsweise wird die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass dem Kläger subsidiärer Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG hinsichtlich der Türkei zu gewähren ist, sowie weiter hilfsweise, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei vorliegen.
4.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
10
Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz des Bundesamtes vom 25. Januar 2021,
die Klage abzuweisen, und bezog sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.
11
Nach richterlichem Hinweis hinsichtlich einer möglichen Fristversäumnis mit gerichtlichem Schreiben vom 1. Februar 2021 wies der Bevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 3. Februar 2021 darauf hin, dass der Bescheid der Beklagte ihm am 13. Januar 2021 zugestellt worden sein. Dies ergebe sich auch aus Blatt 292 der elektronischen Akte. Die auf Blatt 256 der elektronischen Akte vermerkte Zustellung und der Zustellvermerk gemäß § 4 Abs. 2 VwZVG (gemeint: VwZG) betreffe eine irrige Zustellung an die früheren Bevollmächtigten des Klägers. Der Kläger habe vor Mandatierung des Unterzeichners seinem vormaligen Bevollmächtigten das Mandat gekündigt. Aus dem Anhörungsprotokoll ergebe sich bereits, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt vom Unterzeichner habe vertreten werden wollen. Zustellungen nach Mandatsanzeige des Unterzeichners, wie z.B. Ladung zur Aktenanlage und zur Anhörung bzw. zur Übersendung des Anhörungsprotokolls, seien lediglich an den Unterzeichner erfolgt. Im Bescheid, im Anhörungsprotokoll und dem tabellarischen Datenblatt zur Niederschrift eines Asylantrages sei jeweils ausschließlich der Unterzeichner als Vertreter und Empfangsbevollmächtigter genannt.
12
Hilfsweise werde beantragt,
Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu gewähren. Nach den geschilderten Umständen bestünde kein Verschulden des Klägers oder des Unterzeichners, da beide davon hätten ausgehen müssen, dass die Klage- und Antragsfrist erst mit Zustellung des Bescheids an den Unterzeichner am 13. Januar 2021 beginne.
13
Der festgestellte Sachverhalt rechtfertige jedenfalls keine Ablehnung als offensichtlich unbegründet. Die Beklagte lehne den Antrag als unbegründet ab, da sie dem Vorbringen des Klägers in einigen Punkten keinen Glauben schenke bzw. ihm widersprüchliche Aussagen vorwerfe. In den Ausführungen zur Offensichtlichkeitsentscheidung auf den Seiten 16 (4. Abs.) und 17 (1. Abs.) verweise die Beklagte lediglich „explizit auf die Ausführungen oben im Bescheid zum Flüchtlingsschutz“. Die Subsumtion zu den Voraussetzungen des § 30 AsylG bliebe oberflächlich und stelle lediglich eine Wiederholung von bereits Angeführtem dar. Die Formulierung „Trotz Nachfragen konnte der Kläger nicht darlegen, was dieser Einschätzung widersprechen würde.“ belege, dass der Entscheider die Maßstäbe einer Offensichtlichkeitsentscheidung (vgl. Göbel-Zimmermann, Asyl- und Flüchtlingsrecht, Teil 3 Rn. 546) völlig verkannt habe.
14
Teilweise führe die Beklagte Punkte gegen die Glaubwürdigkeit des Klägers an, die, weil sie vollkommen anderen Rechtskreisen angehörten, keine Schlüsse auf die Glaubhaftigkeit seines asylrelevanten Vorbringens zuließen. Dies betreffe seine Angaben bezüglich früherer Straftaten in der Bundesrepublik und ebenso bezüglich aktueller Ermittlungsverfahren.
15
Es könne nicht nachvollzogen werden, inwieweit eine unzutreffende Schlussfolgerung (hinsichtlich der türkischen Staatsangehörigkeit) Aussagen über die Glaubwürdigkeit zuließe. Auch sei die Formulierung im Bescheid irreführend, da sie suggeriere, der Kläger habe auf erstmalige Nachfrage falsch geantwortet.
16
Die Zweifel des Sachbearbeiters an den sprachlichen Gepflogenheiten innerhalb der YPG taugten nicht, um den Vortrag des Klägers zu erschüttern. Es werde außer Acht gelassen, dass sich in Reihen der YPG eine erhebliche Zahl ausländischer, insbesondere deutscher Kämpferinnen und Kämpfer befinde. Es sei sogar naheliegend, dass der Kläger als zweisprachig Aufgewachsener in „internationalen Verbänden“ eingesetzt worden sei. Eine Nachfrage oder ein Vorhalt seien jedoch nicht erfolgt.
17
Auch die angeblich widersprüchlichen Angaben des Vaters des Klägers seien nicht geeignet, mangelnde Schlüssigkeit der Glaubhaftigkeit des Vortrags des Klägers zu belegen. Die Aussagen des Vaters könnten schon nicht den Akten entnommen werden, sondern fänden sich lediglich in einer polizeilichen Gefährdungseinschätzung. Es bleibe völlig unklar, wann, wem gegenüber und für welchen Zeitpunkt diese Aussage getroffen worden sei. Auch die Genese der angeblichen Aussage des Vaters, der kaum des Deutschen mächtig sei, bleibe daher unbekannt. Es müsse stark bezweifelt werden, dass der Vater des Klägers diese Aussage tatsächlich getroffen haben, da die DKP laut Wikipedia nicht mehr existiere. Der vermeintliche Widerspruch hätte dem Kläger vorgehalten werden müssen.
18
Hinsichtlich der Anmerkung im Bescheid, dass der Kläger seine Motivation, sich der PKK anzuschließen, nicht dargelegt habe, sei festzustellen, dass es nicht auf die Motivation des Klägers, sich der Organisation anzuschließen, ankommen. Unabhängig davon habe sich der Kläger zu seinen Motiven geäußert. Dass hierbei möglicherweise auch Entscheidungen der Familie oder der Eindruck der bevorstehenden Haft ebenfalls zum Tragen gekommen sein könnten, tue den geschilderten Motiven keinen Abbruch.
19
Zu den Zielen der PKK habe sich der Kläger, der kaum über Schulbildung verfüge und einen Großteil seiner Jugend in Haftanstalten verbracht habe, tatsächlich äußerst knapp geäußert. Gleichwohl seien den wenigen Worten Hinweise zu entnehmen, die den Paradigmenwechsel in der aktiven Zeit des Klägers skizzierten. Gleiches gelte für die Angaben des Klägers zu seinen Aufgaben innerhalb der PKK und seiner Ausbildung. Zwar halte er sich äußerst knapp, habe jedoch nichts Unzutreffendes geschildert. Keinesfalls seien seine Ausführungen denklogisch nicht möglich. Ergeben sich aus der Auskunftsklage Anhaltspunkte dafür, dass der Sachvortrag sich in die politischen Verhältnisse einordnen lasse, komme eine Einordnung als eindeutig unglaubhaft nicht in Betracht. Die Richtigkeit sei gegebenenfalls durch Einholung weiterer Auskünfte zu überprüfen (NK-AuslR, Susanne Schröder, AsylVfG § 30 Rn.22). Bloße Unwahrscheinlichkeiten oder Unglaubhaftigkeiten eines Tatsachenvortrags reichten für sich genommen zur Begründung des Offensichtlichkeitsurteils nicht aus (VG München, B.v. 22.11.2011 - M 25 S 11.30485 - juris).
20
Hinsichtlich der Verfolgungsgefahr habe der Kläger Angaben gemacht, warum er Verfolgung durch den türkischen Staat befürchte. Er habe angegeben, im Irak und in Serbien verhaftet und jeweils mit der Mitgliedschaft in der PKK konfrontiert worden zu sein. In Serbien seien ihm Unterlagen vorgehalten worden, die auf eine internationale Fahndung bzw. ein Auslieferungsersuchen der Republik Türkei hindeuteten. Der Kläger habe hier zwar angegeben, die Unterlagen nicht mehr zu haben, bemühe sich derzeit jedoch um deren Beschaffung über einen in Serbien beauftragten Rechtsanwalt. Hinsichtlich seiner Aussagen zum Irak habe der Kläger angegeben, Unterlagen beschaffen zu können. Eine Aufforderung hierzu bzw. Nachfrage durch die Beklagte seien nicht erfolgt. Der Vortrag des Klägers (Tätigkeit für die PKK bzw. YPG, Inhaftierung und Verhör im Irak, illegale Ausreise, Konfrontation mit einem türkischen Haftbefehl in Serbien) sei als solcher asylrelevant. Die Beklagte sei in diesem Fall gehalten, weitere Nachfragen und Klärungen des Sachverhalts vorzunehmen. Stattdessen wirke der Bescheid als davon geprägt, den Vortrag des Klägers möglichst schnell und „möglichst drastisch“ zurückzuweisen.
21
Sicherlich seien mehrere Punkte des Vorbringens des Klägers in der Anhörung klärungsbedürftig - für eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet sei jedoch kein Raum. Die Aufklärung vermeintlicher Widersprüche und Unklarheiten bleibe dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Angesichts des drohenden totalen Rechtsverlustes im Falle einer Abschiebung sei im Rahmen einer Folgenabwägung dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stattzugeben, da die Aussetzungsinteressen die Vollzugsinteressen überwögen.
22
Aus der mit Schriftsatz der Beklagte vom 1. Februar 2021 vorgelegten Empfangsbestätigung ergibt sich, dass ein Schriftstück mit der Sendungsnummer … am 13. Januar 2021 zugestellt worden ist. Eine telefonische Nachfrage bei der Beklagte am 8. Februar 2021 ergab, dass für den Bescheid vom 30. Dezember 2020 nur eine Zustellung am 13. Januar 2021 nachweisbar sei.
23
Auf den ebenfalls mit Schriftsatz des Bevollmächtigten des Klägers vom 20. Januar 2020 hin gestellten Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 12. Februar 2021 (AN 1 S 21.30045) die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Ziff. 5 des Bescheides vom 30. Dezember 2020 ausgesprochene Abschiebungsandrohung in die Türkei angeordnet.
24
Auf gerichtliche Nachfrage vom 9. Juni 2021 hin übersandte die Polizeiinspektion … mit Schreiben vom 16. Juni 2021 eine Ereignismeldung des Kriminalfachdezernat * in … vom 26. Februar 2020, auf deren Inhalt Bezug genommen wird.
25
Im Laufe des weiteren gerichtlichen Verfahrens übersandte die Beklagte verschiedene Strafbefehle und Auszüge aus Ermittlungsakten.
26
Der Bevollmächtigte des Klägers teilte mit Schriftsatz vom 27. September 2021 mit, dass der Kläger in der JVA …, später in der JVA …, inhaftiert sei.
27
Mit Beschluss vom 18. Oktober 2021 wurde der Rechtsstreit der Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
28
Mit gerichtlichen Schreiben vom 19. Oktober 2021, dem Bevollmächtigten des Klägers gegen Empfangsbekenntnis zusammen mit der Ladung vom 19. Oktober 2021 zugestellt am 21. Oktober 2021, wurde der Bevollmächtigte des Klägers auf die Rechtsfolgen des § 87b Abs. 3 Satz 1 VwGO hingewiesen und aufgefordert binnen drei Wochen nach Zustellung des Schreibens sämtliche zur Begründung dienenden Tatsachen sowie die dazugehörigen Beweismittel vorzutragen bzw. vorzulegen.
29
Laut dem BZR-Auszug vom 2. November 2021 ist der Kläger bisher wie folgt im Bundesgebiet strafrechtlich in Erscheinung getreten:
- Verurteilung durch das AG … vom 12. August 2002 zu einer Jugendstrafe von 8 Monaten wegen gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung in Tatmehrheit mit versuchter gemeinschaftlicher räuberischer Erpressung und gemeinschaftlicher versuchter Nötigung (Az: …, rechtskräftig seit dem 20.8.2002),
- Verurteilung durch das AG … vom 25. November 2002 zu einer Jugendstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten wegen gemeinschaftlichen Raubs in Tatmehrheit mit Bedrohung (Az: …, rechtskräftig seit dem 25.11.2002),
- Verurteilung durch das AG … vom 14. Mai 2007 zu einer Jugendstrafe von 1 Jahr wegen Diebstahls mit Sachbeschädigung, versuchten Diebstahls mit Sachbeschädigung und unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (Az: …, rechtskräftig seit dem 14.5.2007),
- Verurteilung durch das AG … vom 7. Januar 2009 zu einer Freiheitsstrafe von 2 Monate wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (Az: …, rechtskräftig seit dem 07.1.2009, Strafvollstreckung durch Verjährung erledigt am 06.8.2015).
- Verurteilung durch das AG … vom 2. Juli 2009 zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in 2 tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel (Az: …, rechtskräftig seit dem 9.7.2010, Strafvollstreckung durch Verjährung erledigt am 8.7.2015).
- Verurteilung durch das AG … vom 8. Februar 2021 zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 15 EUR wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Aufenthaltstitel in Tateinheit mit unerlaubtem Aufenthalt ohne Pass (Az: …*)
- Verurteilung durch das AG … vom 13. Juli 2021 zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 15 EUR wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (Az: …)
30
Eine telefonische Nachfrage beim AG … ergab, dass der Kläger mit Urteil vom 16. Dezember 2021 (Az.: …) wohl wegen (gefährlicher) Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt worden ist.
31
Der Bevollmächtigte des Klägers teilte mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2021 mit, dass der Kläger für die mündliche Verhandlung keinen Dolmetscher benötige. Mit Beschluss vom 16. Dezember 2021 wurde der Antrag des Bevollmächtigten des Klägers im gleichen Schriftsatz, wegen des Aufenthalts des Klägers in der JVA das persönliche Erscheinen des Klägers anzuordnen, abgelehnt. Die JVA … teilte mit Schreiben vom 17. Dezember 2021 mit, dass der Kläger am Vortag aus der Haft entlassen worden sei.
32
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Behördenakte sowie der Gerichtsakte in den Verfahren … und … den Vater des Klägers betreffend und hinsichtlich des Verlaufs der mündlichen Verhandlung auf das Protokoll Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

33
1. Die Klage ist zulässig.
34
Insbesondere ist die Klage fristgerecht erhoben worden, § 74 Abs. 1 Halbsatz 2 AsylG. Aus der elektronischen Akte des Bundesaktes ergibt sich, dass dem aktuellen Bevollmächtigten des Klägers der Bescheid vom 30. Dezember 2020 mit Schreiben vom 5. Januar 2021 zugestellt worden ist. Der Zustellvermerk bestätigt, dass die Sendung am 7. Januar 2021 zur Post gegeben wurde. Aus dem Zustellnachweis ergibt sich eine Zustellung am 13. Januar 2021. Damit begann die Frist des § 74 Abs. 1 Halbsatz 2 AsylG am 14. Januar 2021 und endete am 20. Januar 2021, sodass die Klage mit Eingang beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach am 20. Januar 2021 fristgerecht erfolgt ist.
35
Eine frühere Bekanntgabe des Bescheides kann die Beklagte nicht nachweisen, da ausschließlich ein Zustellnachweis für die am 13. Januar erfolgte Zustellung vorhanden ist. Aber selbst wenn man aufgrund des Schreibens der früheren Bevollmächtigten des Klägers vom 12. Januar 2021 auf eine Bekanntgabe des Bescheides als Kopie vor dem 13. Januar 2021 schließen wollte, so wäre dem Antrag des aktuellen Bevollmächtigten des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand stattzugeben. Zwar wurde die Beendigung des Mandats erstmals ausdrücklich durch den Schriftsatz der früheren Bevollmächtigten des Klägers vom 12. Januar 2021 der Beklagten gegenüber angezeigt, so dass die Beklagte bis zu diesem Zeitpunkt von einem Fortbestehen der Bevollmächtigung hätte ausgehen dürfen. Allerdings träfe den aktuellen Bevollmächtigten des Klägers bzw. den Kläger selbst kein Verschulden an einer Fristversäumnis, da die Beklagte seit Anzeige der Mandatierung des aktuellen Bevollmächtigten am 29. Oktober 2020 jeglichen Schriftverkehr mit diesem geführt hat. Auch wurde in der Niederschrift zum Asylantrag (Teil 1) vom 16. November 2020 und in der Niederschrift über die Anhörung vom 23. November 2020 ausschließlich der aktuelle Bevollmächtigte als Vertretung genannt. Entsprechend musste der Bevollmächtigte des Klägers nicht davon ausgehen, dass möglicherweise eine frühere Bekanntgabe an die früheren Bevollmächtigten des Klägers im Raum stehen könnte.
36
2. Die Klage ist teilweise begründet. Der Kläger hat zwar keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG und des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG, aber auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Entsprechend sind auch die Anordnungen in den Ziff. 5 und 6 rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Nicht verletzt wird der Kläger durch die Ablehnung als offensichtlich unbegründet, da diese rechtmäßig ist.
37
a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, da dem § 3 Abs. 2 Nr. 3 AsylG bzw. der Ausschlussgrund des § 60 Abs. 8 Satz 1, 1. Alt. AufenthG entgegensteht.
38
aa) Nach § 3 Abs. 4 AsylG ist einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn er Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist und nicht die Regelungen des § 60 Abs. 8 AufenthG entgegenstehen. Flüchtling ist gemäß § 3 Abs. 1 AsyG, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet und für den nicht die Ausnahmeregelungen in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG gelten. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen vom Staat (Nr.1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, dem Ausländer Schutz vor Verfolgung (§ 3d AsylG) zu bieten (Nr. 3). Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist. Nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG kann eine Verfolgungshandlung auch in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Absatz 1 Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn die Voraussetzungen des sogenannten internen Schutzes erfüllt sind, wenn er also in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (vgl. § 3e Abs. 1 AsylG).
39
Die Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Der in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchst. d) RL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 18.4.1996 - 9 C 77.95 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; B.v. 7.2.2008 - 10 C 33.07 - ZAR 2008, 192; U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377; U.v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22; U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936).
40
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013, a.a.O. und vom 5.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162).
41
Die Tatsache, dass ein Drittstaatsangehöriger bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betroffene erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL). Diese Vorschrift greift sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einen Vorverfolgten (bzw. von Verfolgung unmittelbar Bedrohten) als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. davon unmittelbar bedroht war. In beiden Varianten des internationalen Schutzes privilegiert sie den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind.
42
Art. 4 Abs. 4 RL ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend BVerfG, B.v. 2.7.1980 - 1 BvR 147, 181, 182/80 - BVerfGE 54, 341; dem folgend U.v. 31.3.1981 - 9 C 237.80 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, U.v. 18.2.1997 - 9 C 9.96 - BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, U.v. 27.4.1982 - 9 C 308.81 - BVerwGE 65, 250). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, U.v. 18.2.1997 - 9 C 9.96, a.a.O.). Diese zum Asylgrundrecht entwickelte Rechtsprechung (zusammenfassend BVerwG, U.v. 25.9.1984 - 9 C 17.84 - BVerwGE 70, 169 und v. 5.11.1991 - 9 C 118.90 - BVerwGE 89, 162) wurde auf den Flüchtlingsschutz (Abschiebungsschutz aus politischen Gründen) gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (BVerwG, U.v. 3.11.1992 - 9 C 21.92 - BVerwGE 91, 150), nicht jedoch auf die Abschiebungsverbote des § 53 AuslG 1990 übertragen (BVerwG, U.v. 17.10.1995 - 9 C 9.95 - BVerwGE 99, 324 zu § 53 Abs. 6 AuslG und vom 4.6.1996 - 9 C 134.95 - InfAuslR 1996, 289 zu § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK).
43
Art. 4 Abs. 4 RL privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten jedoch auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, U.v. 2.3.2010 - Rs. C - 175/08 u.a., Abdulla). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 - Nr. 37201/06, Saadi). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL kann im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde. Dieser Maßstab hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung mehr (zum Ganzen: BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5/09 - BVerwGE 136, 377).
44
Für das Eingreifen der Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ist nicht nur im Rahmen des Flüchtlingsschutzes, sondern auch im Rahmen des subsidiären Schutzes erforderlich, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem früher erlittenen oder unmittelbar drohenden Schaden und dem befürchteten künftigen Schaden besteht. Denn die der Vorschrift zu Grunde liegende Vermutung, erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht zu sein, beruht wesentlich auch auf der Vorstellung, dass eine Verfolgungs- oder Schadenswiederholung - bei gleichbleibender Ausgangssituation - aus tatsächlichen Gründen naheliegt (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 4/09 - BVerwGE 136, 360).
45
Mit Rücksicht darauf, dass sich der Schutzsuchende vielfach hinsichtlich asylbegründender Vorgänge außerhalb des Gastlandes in einem gewissen sachtypischen Beweisnotstand befindet, genügt bezüglich dieser Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, die aber den Anforderungen des § 108 Abs. 1 VwGO entsprechen muss, wohingegen für Vorgänge innerhalb des Gastlandes grundsätzlich der volle Nachweis auf Grund von Tatsachen zu fordern ist (vgl. BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE, 71, 180).
46
Bei der Feststellung der für eine Verfolgung im Herkunftsland im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG sprechenden Umstände kommt dem Vorbringen des Schutzsuchenden deshalb besondere Bedeutung zu. Er ist auf Grund der ihm obliegenden Mitwirkungspflichten gehalten, die in seine Sphäre fallenden tatsächlichen Umstände substantiiert und in sich stimmig zu schildern. Das Gericht muss sich die feste Überzeugung vom Wahrheitsgehalt des klägerischen Vorbringens verschaffen können (BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE, 71, 180, 181 und vom 12.11.1985 - 9 C 27.85 - EZAR 630 Nr. 23). Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Schutzsuchenden nur geglaubt werden, wenn diese Unstimmigkeiten überzeugend aufgelöst werden (BVerwG, U.v. 16.4.1985, a.a.O., 183 und vom 23.2.1988 - 9 C 32.87 - EZAR 630 Nr. 25).
47
bb) Hiervon ausgehend konnte der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft machen, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei wegen seiner Aktivitäten für die PKK und YPG im Irak und in Syrien Verfolgung droht. Dies ergibt sich aufgrund der aktuellen Situation in der Türkei.
48
Das Auswärtige Amt führt aus (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, 3.6.2021), dass die türkische Regierung die Sicherheit des Staates auf vielfache Weise gefährdet sieht, u.a. durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete „Arbeiterpartei Kurdistan“ (PKK) und die aus türkischer Sicht mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die „Terrorbekämpfung“ und die Sicherung „nationaler Interessen“ nimmt daher ein sehr hohes Ausmaß ein, verbunden mit erheblichen Einschränkungen von Grundfreiheiten, auch in Bereichen zivilgesellschaftlichen Engagements ohne erkennbaren Terrorbezug. Nach dem Putschversuch 2016 hat die türkische Regierung sog. „Säuberungsmaßnahmen“ gegen Individuen und Institutionen eingeleitet, die sie der Gülen-Bewegung zurechnet oder denen eine Nähe zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) oder anderen terroristischen Vereinigungen vorgeworfen wird. Im Zuge dieser Maßnahmen wurden bislang nach Angaben des türkischen Justizministeriums und des Innenministeriums gegen ca. 600.000 Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet. Bereits vor dem Putschversuch wurde in der Innenpolitik ein zunehmend autoritärer Weg eingeschlagen, der die Türkei sukzessive von europäischen Rechtsstandards und Werten entfernt hatte. Zu beobachten sind bis heute eine weiter zunehmende Einschränkung der Meinungsund Pressefreiheit, Missbrauch der Justiz für persönliche Machtinteressen, eine kaum kaschierte politische Einflussnahme auf Wissenschaft und Universitäten und eine deutliche Eskalation im Kurdenkonflikt nach dem Scheitern der Gespräche der Regierung mit der PKK 2015. Staatspräsident Erdogan fährt politisch spätestens seit Sommer 2015 einen verstärkt nationalistischen Kurs, dessen Kernelement das bedingungslose Vorgehen im Kurdenkonflikt gegen die PKK und vermeintliche Unterstützer ist (Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021 und 24.8.2020). Türkische Staatsangehörige, die im Ausland für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, laufen Gefahr polizeilicher oder justizieller Maßnahmen, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Aufwiegler angesehen werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen. Es kann davon ausgegangen werden, dass türkische Stellen Regierungsgegner, darunter insbesondere (auch vermeintliche) PKK- und GülenAnhänger im Ausland ausspähen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, 3.6.2021).
49
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (BFA, Informationsblatt der Staatendokumentation - Türkei, Version 4 vom 6.12.2021) führt aus, dass der Konflikt zwischen der Regierung und der PKK andauert. Bestehende Spannungen werden durch die Lageentwicklung in Syrien und Irak beeinflusst. Vereinzelt kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen, wenn auch auf einem geringeren Niveau als in den Vorjahren. Diese führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern aber auch unter der Zivilbevölkerung. In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer. Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, treffen jedoch auch Zivilpersonen. Die Sicherheitskräfte unterhalten zahlreiche Straßencheckpoints und sperren ihre Operationsgebiete vorgängig weiträumig ab. Die bewaffneten Konflikte in Syrien und Irak können sich auf die angrenzenden türkischen Gebiete auswirken, zum Beispiel durch vereinzelte Granaten- und Raketenbeschüsse aus dem Kriegsgebiet. Wiederholt sind Anschläge gegen zivile Ziele verübt worden. Das Risiko von Entführungen durch terroristische Gruppierungen aus Syrien kann im Grenzgebiet nicht ausgeschlossen werden. In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. Personen, die für die Abeiterpartei Kurdistans (PKK) oder eine mit der PKK verbündete Organisation tätig sind/waren, müssen in der Türkei mit langen Haftstrafen rechnen. Das türkische Außenministerium sieht auch die syrischkurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) bzw. die Volksverteidigungseinheiten (YPG) als Teilorganisationen der als terroristisch eingestuften PKK.
50
Amnesty International (AI, Auskunft an das VG Ansbach im Verfahren AN 1 K 17.33521, 30.1.2019) erklärt zur Frage nach der zu erwartenden Behandlung türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, die sich längere Zeit im Irak aufgehalten haben und bei einer Rückkehr in die Türkei wegen des Verdachts der Unterstützung einer verbotenen Partei festgenommen worden sind, dass derartige Fälle zwar nicht bekannt sind, jedoch davon auszugehen ist, dass ein aus der Türkei stammender Kurde, der sich längere Zeit in Irakisch-Kurdistan aufgehalten hat, leicht in den Verdacht geraten kann, sich der PKK angeschlossen zu haben, da Teile der Autonomieregion Irakisch-Kurdistan der PKK als Rückzugsgebiet dienen und sich die Führungskader der Organisation dort aufhalten. Dies würde wahrscheinlich zu einer Festnahme und zu Verhören führen. Bei Festgenommenen, die der Mitgliedschaft in oder Unterstützung der PKK verdächtigt werden, besteht auch in hohem Maße die Gefahr von Misshandlungen.
51
Auch aus einer EASO COI-Query (EASO COI-Query, Turkey - Treatment of former PKK and YPG members, 1.12.2021, Q43-2021) ergibt sich, dass laut Human Rights Watch die türkische Armee und die syrische Nationalarmee zwischen dem 11. Oktober und dem 6. Dezember 2019 mindestens 63 syrische Staatsangehörige festgenommen und „illegal aus dem Nordosten Syriens in die Türkei überstellt haben, um dort wegen schwerwiegender Anschuldigungen, die zu lebenslangen Folgen führen können, vor Gericht gestellt zu werden. Anklagepunkte für die Verhaftungen sind „Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Mord“. Die Anklagen beruhen hauptsächlich auf unbegründeten Behauptungen, die Häftlinge hätten Verbindungen zur Volksschutzeinheit. Human Rights Watch berichtete weiter, dass im Oktober 2020 fünf der Häftlinge „zu lebenslanger Haft ohne Bewährung verurteilt“ worden sind, ein Häftling ist freigesprochen worden. Die Gerichtsverfahren gegen die anderen dauern seit Februar 2021 an. Die Festgenommenen sind ein Jahr nach ihrer Festnahme weiterhin in Haft.
52
Dies berücksichtigend besteht eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden (VG Bremen, U.v. 24.9.2021 - 2 K 813/19 - juris Rn. 20; U.v. 21.5.2021 - 2 K 217/19 - juris; VG Augsburg, Urt. v. 30.4.2019 - Au 6 K 17.33876 - juris;).
53
Die Einzelrichterin geht davon aus, dass der Kläger tatsächlich von 2009 bis 2019 für die PKK bzw. YPG im Irak und Syrien als Guerillakämpfer aktiv war. So konnte der Kläger in der mündlichen Verhandlung überzeugend und glaubhaft schildern, weshalb er 2009 die Bundesrepublik Deutschland verlassen hat und aus welchen Gründen er sich im Irak der PKK angeschlossen hat. Des Weiteren stellte er ausführlich und detailreich seine Ausbildung in einem Neulings-/ Ausbildungscamp der PKK, den Ablauf der Ausbildung, das Zusammenleben im Camp sowie die sich anschließende Tätigkeit als Guerillakämpfer dar. Insoweit konnte der Kläger Aufenthalts- und Einsatzorte, Einzelheiten zum Kampfgeschehen und Details zu seinen Einsätzen in Syrien nennen. Deutlich wurde auch die unterschiedlichen Bedingungen des Lebens und der Einsätze im Irak und in Syrien.
54
Dass der Kläger erst nach mehrmaligen Nachfragen und Hinweisen, er müsse sich konkret zu seinen Aktivitäten im Irak und in Syrien äußern, ausführlicher antwortete, erklärten er und sein Bevollmächtigter überzeugend damit, dass der Kläger durchaus eine begründete Furcht vor einer Strafverfolgung in Deutschland habe. Dies erklärt für die Einzelrichterin auch, dass sich der Kläger bei seiner Anhörung beim Bundesamt weitgehend eher zurückhaltend eingelassen hat.
55
Dabei ist auch nicht auszuschließen, dass der Aufenthalt des Klägers im Iran und in Syrien den türkischen Behörden bekannt geworden ist.
56
Soweit der Kläger auf einen türkischen Haftbefehl, ein ihm in Serbien ausgehändigtes Schreiben diesbezüglich, die Sperrung seines e-Devlet-Zugangs sowie Aktivitäten der türkischen Sicherheitsbehörden gegenüber seinem Onkel als Nachweis dafür, dass die türkischen Sicherheitsbehörden von seinen Aktivitäten im Irak und in Syrien wüssten, verwies, hat er dies nicht ausreichend glaubhaft gemacht. Insbesondere hätte von dem Kläger im Rahmen der Mitwirkungspflichten durchaus erwartet werden können, dass er mit seinem Rechtsanwalt in Serbien Kontakt aufnimmt, damit dieser die ihm ausgehändigten Dokumente an den Kläger zurückgeben kann. Gleiches gilt hinsichtlich einer Erklärung des türkischen Rechtsanwalts, den sein Onkel bereits 2017 oder 2018 beauftragt haben soll, um Hintergründe des Tätigwerdens der türkischen Sicherheitsbehörden in Erfahrung zu bringen. Wenig plausibel erscheint auch die Einlassung, dass sein Reisepass, den der Kläger bei der PKK im Irak abgegeben haben will, beim türkischen Konsulat gelandet sein soll, denn für die Einzelrichterin ist kein Grund ersichtlich, weshalb die PKK gerade ihr anvertraute Dokumente ihrer Kämpfer an türkische Einrichtungen herausgeben sollte.
57
Trotzdem schließt die Einzelrichterin nicht aus, dass türkische Sicherheitsbehörden von der Anwesenheit des Klägers in Syrien und dem Irak erfahren haben können. Es ist nicht auszuschließen, dass türkische Sicherheitskräfte den Kläger im Ausland beobachtet haben bzw. dass die türkischen Sicherheitskräfte nach der Verhaftung des Klägers im Irak durch die Sicherheitskräfte der kurdischen Autonomieregierung entsprechend informiert worden sind. Zwischen der Türkei und der Autonomieregierung in den kurdischen Autonomiegebieten im Irak haben sich entspannte politische und wirtschaftliche Beziehungen entwickelt, auch weil Teile der irakischen Kurden in Konkurrenz zur türkischen PKK stehen. Im Übrigen sind türkische Kräfte mit Duldung der Autonomieregierung an der türkischirakischen Grenze stationiert (https://www.spiegel.de/politik/ausland/kurdenvolkohnestaatwersindsiewaswollensiewolebensiea-1292081.html; EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak - Sicherheitslage, März 2019).
58
cc) Der Kläger ist jedoch gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen, weil schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er sich bei seinem Einsatz für die PKK Handlungen zuschulden kommen hat lassen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen.
59
Die maßgeblichen Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen sind in der Präambel und in den Art. 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen dargelegt und u.a. in den Resolutionen des UN-Sicherheitsrats zu den Antiterrormaßnahmen verankert. Aus diesen folgt, „dass die Handlungen, Methoden und Praktiken des Terrorismus im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen“ und „dass die wissentliche Finanzierung und Planung terroristischer Handlungen sowie die Anstiftung dazu ebenfalls im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen“ (vgl. Erwägungsgrund 22 zur RL 2004/83/EG). Wie sich aus den UN-Resolutionen 1373 (2001) und 1377 (2001) ergibt, geht der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen von dem Grundsatz aus, dass Handlungen des internationalen Terrorismus in einer allgemeinen Weise und unabhängig von der Beteiligung eines Staates den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen. Daraus folgert der EuGH, dass dieser Ausschlussgrund auch auf Personen Anwendung finden kann, die im Rahmen ihrer Zugehörigkeit zu einer in der Liste im Anhang des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 aufgeführten Organisation an terroristischen Handlungen beteiligt waren, die eine internationale Dimension aufweisen (EuGH, Slg 2010, I-10979 Rn. 82 ff. = NVwZ 2011, 285). Danach können Zuwiderhandlungen iSv § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylVfG jedenfalls bei Aktivitäten des internationalen Terrorismus auch von Personen begangen werden, die keine Machtposition in einem Mitgliedstaat der Vereinten Nationen oder zumindest in einer staatsähnlichen Organisation innehaben (BVerwG, U.v. 19.11.2013 - 10 C 26/12 - juris Rn. 12; U.v. 7.7.2011 - BVerwG 10 C 26.10 - BVerwGE 140, 114 = Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 40 jeweils Rn. 28). Allein die Zugehörigkeit zu einer in der sog. EU-Terrorliste aufgeführten Organisation wie der PKK und die aktive Unterstützung ihres bewaffneten Kampfes kann nicht automatisch die Annahme der Beteiligung an Handlungen im Sinne des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylVfG rechtfertigen. Es bedarf vielmehr der Würdigung der tatsächlichen Umstände des Einzelfalles, ob dem Asylbewerber eine individuelle Verantwortung für die Verwirklichung dieser Handlungen zugerechnet werden kann, wobei dem in der Vorschrift verlangten Beweisniveau Rechnung zu tragen ist. Anders als bei der Beteiligung an einer schweren nichtpolitischen Straftat gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Satz 2 AsylVfG, die eine Zurechnung nach strafrechtlichen Kriterien (Anstiftung oder Beihilfe) verlangt, müssen sich Unterstützungshandlungen zugunsten einer terroristischen Organisation nicht spezifisch auf einzelne terroristische Aktionen beziehen, um von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. Satz 2 AsylVfG erfasst werden zu können. Denn dieser Ausschlussgrund verlangt keine Zurechnung nach strafrechtlichen Kriterien, da er kein strafbares Handeln im Sinne einer Beteiligung an bestimmten Delikten voraussetzt. Demzufolge können auch rein logistische Unterstützungshandlungen von hinreichendem Gewicht im Vorfeld den Tatbestand des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. Satz 2 AsylVfG erfüllen. Gleiches gilt für gewichtige ideologische und propagandistische Aktivitäten zugunsten einer terroristischen Organisation. Dagegen reicht etwa das bloße Sprühen von Parolen der Organisation oder das Verteilen von Flugblättern nicht aus. Denn das Gewicht des Tatbeitrages eines Gehilfen als „in sonstiger Weise Beteiligtem“ muss dem der Beteiligung an einer schweren nichtpolitischen Straftat im Sinne von § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG entsprechen (BVerwG, U.v. 19.11.2013 - 10 C 26/12 - juris Rn. 15 m.w.N.).
60
Dies berücksichtigend ist der Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. Satz 2 AsylG verwirklicht. Die PKK steht auf der EU-Liste von Personen, Vereinigungen und Körperschaften, die an Terrorhandlungen beteiligt waren und restriktiven Maßnahmen unterliegen sollen (Durchführungsverordnung (EU) 2021/138 des Rates vom 5. Februar 2021 zur Durchführung des Artikels 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung der Durchführungsverordnung (EU) 2020/1128). Während des Aufenthaltes des Klägers im Irak und in Syrien ist es auch zu terroristischen Aktivitäten der PKK gekommen.
61
Das Auswärtige Amt (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, 19.2.2017) führt aus, dass im Juli 2015 der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK militärisch wieder aufflammte und der Lösungsprozess zum Erliegen kam. Seit dieser erneuten Eskalation forderte der Konflikt 4.895 Todesopfer (davon 475 Zivilisten, 478 Angehörige der Streitkräfte, 211 Polizisten und 3.731 PKK-Kämpfer - Stand 21.09.2016). Auch nach dem Putschversuch gibt es keine Entspannungssignale, der Konflikt wird von beiden Seiten unvermindert fortgeführt. Im Anschluss an das mutmaßlich durch die Terrormiliz IS verübte Attentat von Suruç am 20. Juli 2015 mit 32 Toten kam es zu einer neuen Eskalationsdynamik, die zu seitdem nahezu täglichen Anschlägen und Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und PKK führte. Für eine Rückkehr zum politischen Verhandlungsprozess gibt es bislang keine Anzeichen. Die regionale Dimension des Kurdenkonflikts und die aktive Rolle der PKK und ihr nahestehender Gruppen in Syrien und im Nord-Irak macht die Konfliktlösung auch für die Situation in der Türkei zusätzlich komplex. Dem Bericht des Auswärtigen Amtes vom 24. August 2020 (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, 24.8.2020) ist zu entnehmen, dass die Türkei von Sommer 2015 bis Ende 2017, auch in Ankara und Istanbul, eine Serie terroristischer Anschläge mit einer der höchsten Zahlen von Todesopfern in ihrer jüngeren Geschichte verkraften musste. Sie ist dabei einer dreifachen Bedrohung ausgesetzt: durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des „IS“ sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der DHKP-C.
62
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Türkei, 7.2.2017 in der Fassung vom 5.3.2018) führt aus, dass die Regierung Ende 2012 nach über drei Jahrzehnten blutigen Konflikts zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Nationalisten einen Dialogprozess mit dem inhaftierten PKK-Chef Öcalan und der bislang v.a. auf kurdische Anliegen fokussierten Partei HDP begann. Der seitdem andauernde „Lösungsprozess“ führte Ende März 2013 zur Ausrufung einer von beiden Seiten respektierten Waffenruhe. Öcalan hatte zuletzt Ende Februar 2015 die Niederlegung der Waffen durch die PKK in der Türkei in Aussicht gestellt, abhängig von weiterer Bewegung der Regierung im Lösungsprozess. Der von der PKK gegenüber dem türkischen Staat angebotene Gewaltverzicht wurde im Sommer 2015 zurückgenommen. Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war ein der Terrormiliz Islamischer Staat zugerechneter Selbstmordanschlag am 20. Juli 2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22. Juli 2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25. Juli 2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKKGuerillaeinheiten den - seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden - Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos. Die türkische Regierung kündigte nach deutlich intensivierten Kamphandlungen der PKK am 28. Juli 2015 ihrerseits den Friedensprozess faktisch auf. Mitte August 2015 hat die PKK in zahlreichen Provinzen mit überwiegend kurdischer Bevölkerung die „Selbstverwaltung“ ausgerufen, da sie nicht mehr bereit sei, die Autorität des türkischen Staates in diesen Gebieten anzuerkennen. Die PKK-Guerillaeinheiten forderten, sich gegen den „Genozid“ der türkischen Regierung zu wehren und die ausgerufenen Selbstverwaltungsgebiete zu verteidigen. Eine nicht unwesentliche Rolle im Konflikt mit dem türkischen Staat kommt der Jugendorganisation der PKK zu. Die Patriotische Revolutionäre Jugendbewegung (YDG-H) wurde im Februar 2013 gegründet, am Vorabend der Verkündung der Waffenruhe durch PKK-Führer Öcalan. Bereits im selben Jahr kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen mit kurdischen Islamisten in der Region. Seit Sommer 2015 zeichnete sich die YDG-H insbesondere durch einen Guerilla-Krieg gegen die türkischen Sicherheitskräfte in den Städten des Südostens aus. Die PKK selbst verneinte, die Kontrolle über die YDG-H zu haben, obschon sie deren Aktionen guthieß. Die türkische Armee fliegt regelmäßig Angriffe gegen die PKK-Basen in der gebirgigen Region des nördlichen Iraks. Es gab zahlreiche PKK-Angriffe auf die türkischen Sicherheitskräfte im Südosten des Landes. Im August 2016 tötete etwa eine Autobombe in Cizre elf Polizisten und verletzte 78 weitere. Hunderte Menschen starben bei den Zusammenstößen in der mehrheitlich kurdischen Region der Türkei. Der Konflikt mit der PKK hat seit dem Zusammenbruch des Waffenstillstandes im Juli 2015 mindestens 2.500 PKKKämpfern, Sicherheitskräften und Zivilisten das Leben gekostet. Dem Bericht vom 29. November 2019 (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Türkei, Gesamtaktualisierung vom 29.11.2019 in der Fassung vom 8.4.2020) ist zu entnehmen, dass sich die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerillaeinheiten der PKK in den südostanatolischen und den nordsyrischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit im Berichtszeitraum (2018) fortsetzten und sich teils noch verschärften.
63
ACCORD (COI-Compilation, Auszug und teilweise aktualisierte Übersetzung der im August 2020 veröffentlichten englischen COI Compilation - Türkei, Dezember 2020) führt unter Bezugnahme auf verschiedene Berichte aus, dass für den Zeitraum 1. Februar 2017 bis 31. Januar 2019 von einer „Verschlechterung der Sicherheitslage auszugehen ist. Obwohl sich die Zusammenstöße mit der PKK von den städtischen in die ländlichen Gebiete verlagert haben und weniger Opfer unter der Zivilbevölkerung forderten, stellt die Lage im Südosten nach wie vor die größte Sicherheitsherausforderung für die Türkei dar. Die von der PKK ausgehenden Sicherheitsrisiken sind nach wie vor hoch, und die Regierung hat ihren Kampf gegen die PKK intensiviert. Die Grenzen der Türkei zum Irak und insbesondere zu Syrien geben der türkischen Regierung nach wie vor Anlass zur Sorge. Die staatliche Kontrolle in diesen Grenzregionen ist begrenzt und weiterhin umstritten, vor allem seitens kurdischer PKK-Kämpfer. Um die Kontrolle der durchlässigen Grenzen zu Syrien und dem Irak zu sichern, den Islamischen Staat (IS) sowie terroristische Bedrohungen, die von den kurdischen Regionen in Syrien und im Irak ausgehen, zu bekämpfen, führt die türkische Regierung Luftangriffe auf Lager der PKK im kurdischen Gebiet des Irak durch und führt grenzüberschreitende Operationen in Syrien durch, darunter in Idlib (Oktober 2017) und die Operation Olivenzweig (Jänner 2018). Die Operation Olivenzweig ist zusammen mit der Freien Syrischen Armee in Nordsyrien (Afrin) gestartet und hat darauf abgezielt, die Partei der Demokratischen Union/Volksverteidigungseinheiten (PYD/YPG) zu vertreiben, die von der türkischen Regierung als eine mit der PKK verbundene terroristische Organisation betrachtet wird. Bei der Patriotischen Revolutionären Jugendbewegung (Yurtsever Devrimci Gençlik Hareket, YDG-H), den Zivilschutzeinheiten (Yekîneyên Parastina Sivil, YPS) und der Volksverteidigungskräfte (Hezen Parastina Gel, HPG) handelt es sich um mit der PKK verbundene oder ihr angeschlossenen Gruppen und den bewaffneten Flügel der PKK. Erwähnt wird ferner die Gruppe der Freiheitsfalken Kurdistans (Teyrebazen Azadiya Kurdistan, TAK), die sich 2016 zu mehreren Angriffen bekannt hat, die Dutzende von Opfern, darunter viele Zivilisten, gefordert hätten. Der letzte der Gruppe TAK zugeschriebene Angriff der Bombenanschlag auf ein Justizgebäude in Izmir sei im Januar 2017 gewesen, bei dem zwei Menschen getötet worden seien. Das USDOS erwähnt in seinem im Juni 2020 veröffentlichten Jahresbericht zu Terrorismus für das Jahr 2019, dass „die PKK weiterhin Terroranschläge in der Türkei und gegen türkische Interessen außerhalb der Türkei verübte“. Die Europäische Kommission schreibt in ihrem Fortschrittsbericht vom Oktober 2020, dass die Lage im Südosten des Landes weiterhin sehr besorgniserregend war. Die Regierung setzte die Sicherheits- und Militäroperationen im Land sowie grenzüberschreitend im Irak und in Syrien fort. In den Grenzgebieten war die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer.
64
Im vorliegenden Einzelfall hat der Kläger mit seinem Einsatz für die PKK diese terroristischen Aktivitäten auch unterstützt: zum einen durch seinen eigenen bewaffneten Einsatz, aber auch durch die Ausbildung weiterer Guerillakämpfer als Leiter eines Ausbildungscamps. Der Kläger hat überzeugend dargelegt, dass das ideologischen Gedankengut der PKK bereits in seiner Kindheit und Jugend aufgrund des durch die Tätigkeiten für die PKK geprägten Elternhauses (vgl. auch Feststellungen des VG Ansbach in den Verfahren … und …*) Teil seines alltäglichen Lebens gewesen ist und seine Entwicklung nicht unmaßgeblich beeinflusst hat. Dies zeigt sich bereits daran, dass der Kläger nach Erkennen seiner Probleme aufgrund seiner Drogenabhängigkeit und der begangenen Straftaten nicht die in Deutschland zur Verfügung stehenden Hilfsangebote einschließlich auch der im Strafvollzug zur Verfügung stehenden Angebote in Anspruch genommen hat, sondern sich vielmehr im Ausland der Unterstützung der auch in Deutschland als terroristische Vereinigung geltenden PKK bedient hat, um zukünftig ein Leben ohne Drogen führen zu können. Allein durch die Zurverfügungstellung seiner Arbeitskraft im Irak - erst im Rahmen der Ausbildung, dann als aktiver Kämpfer - hat der Kläger die Ziele der PKK unterstützt, selbst wenn er nicht unmittelbar an terroristischen Aktionen der PKK beteiligt gewesen sein sollte. Dass der Kläger trotz des offiziell bestehenden Waffenstillstandes zwischen der PKK und der Türkei von 2012 bis 2015 weiterhin als aktiver GuerillaKämpfer im irakischen Grenzgebiet zur Türkei aktiv war, zeigt aus Sicht der Einzelrichterin, dass der Kläger den bewaffneten Kampf gegen die Türkei als richtigen Weg empfunden hat und wenig Interesse an einer friedlichen Beilegung des Konfliktes gehabt hat. Diese Bewertung ändert sich auch nicht dadurch, dass der Kläger ab 2013 bei der Einnahme von Steuerzahlungen von Schmugglern geholfen hat, da gerade auch durch derartige Tätigkeiten der PKK die erforderlichen finanziellen Mittel für deren terroristischen Aktivitäten zur Verfügung gestellt wurden. Der Kläger hat überzeugend geschildert, dass es ihm im Rahmen seines Engagements für die PKK gerade darauf angekommen ist, seine Verantwortung auszuweiten. Insoweit kann man den Kläger gerade nicht mehr als Mitläufer, der die PKK mit untergeordneten Tätigkeiten und Aktionen unterstütz hat, bezeichnen, denn er entwickelte sich vom einfachen Kämpfer zum Mannschaftsvorsitzenden und später zum Leiter eines Ausbildungscamps. Spätestens mit Übernahme der Leitung eines Ausbildungscamps hat der Kläger dazu beigetragen, dass weiter Kämpfer für die PKK ausgebildet werden konnten, die die erheblichen Verluste seitens der PKK-Kämpfer ausgleichen und für die terroristischen Aktivitäten der PKK eingesetzt werden konnten, selbst dann noch als der Kläger 2019 den Irak mit Ziel Deutschland verlassen hatte.
65
Wenn aber bereits Beiträge im Bereich der Logistik, z.B. durch Transport von neuen Kämpfern und Rekruten (vgl. dazu VG Berlin, U.v. 29.1.2019 - 37 K 98.18 A - juris Rn. 32) keinen untergeordneten Tatbeitrag, sondern im Gegenteil einen wesentlichen Faktor für die Vorbereitung, Organisation und Begehung der Taten darstellen, so gilt dies nach Überzeugung der Einzelrichterin umso mehr bei einer Ausbildungstätigkeit, da damit überhaupt erst die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass der PKK das erforderliche Personal zur Verfügung steht, mit dem dann die ideologischen Zielsetzungen der PKK umgesetzt werden können. Aufgrund der dokumentierten Vielzahl von schweren und schwersten Taten liegen klare und glaubhafte Indizien dafür vor, dass die Planung und Begehung von Anschlägen die Hauptaktivität der PKKTruppen in dieser Zeit darstellte und auch neue Rekruten an ihnen beteiligt waren. Dass immer neue Kämpfer benötigt wurden ergibt sich insoweit bereits aus den dokumentierten erheblichen Opferzahlen der PKK. Hinzukommt, dass die Übertragung der Leitung eines Ausbildungscamps sicherlich nur an Personen erfolgt, die aus Sicht der PKK zuverlässig und organisationstreu sind, die ideologischen Ziele der PKK verinnerlicht haben und dadurch intensiv an der Weitergabe der Ideologie mitwirken können.
66
Nicht relevant ist im Übrigen, ob auch eine Tätigkeit für die YPG in Syrien in den Anwendungsbereich des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG fällt (so VG Hannover, U.v. 20.11.2018 - 13 A 6596/17 - juris). Der Kläger schilderte überzeugend, dass er während der Einsätze in Syrien zwar dem Kommando der YPG unterstellt war, letztlich aber noch immer Kämpfer der PKK war und damit noch immer deren Ziele unterstütze. Dies wird allein dadurch deutlich, dass der Kläger immer wieder zwischen den Einsätzen in Syrien in den Irak zu den PKK-Einheiten zurückkehrte.
67
dd) Unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylG steht der Flüchtlingsanerkennung auch die Regelung des § 60 Abs. 8 Satz 1, 1. Alt. AufenthG entgegen. Danach ist die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist.
68
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwG, B.v. 22.5.2018 - 1 VR 3/18 - juris Rn. 16 ff. m.w.N.) ist der Begriff der „Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“ - wie die wortgleiche Formulierung in § 54 Abs. 1 Nr. 2 und § 58a Abs. 1 AufenthG - enger zu verstehen als der Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne des allgemeinen Polizeirechts. Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umfasst die innere und äußere Sicherheit und schützt nach innen den Bestand und die Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Einrichtungen. Das schließt den Schutz vor Einwirkungen durch Gewalt und Drohungen mit Gewalt auf die Wahrnehmung staatlicher Funktionen ein. In diesem Sinne richten sich auch Gewaltanschläge gegen Unbeteiligte zum Zwecke der Verbreitung allgemeiner Unsicherheit gegen die innere Sicherheit des Staates.
69
Das Erfordernis einer „besonderen“ Gefahr bezieht sich allein auf das Gewicht und die Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter sowie das Gewicht der befürchteten Tathandlungen des Betroffenen, nicht auf die zeitliche Eintrittswahrscheinlichkeit. In diesem Sinne muss die besondere Gefahr für die innere Sicherheit aufgrund der gleichen Eingriffsvoraussetzungen eine mit der terroristischen Gefahr vergleichbare Gefahrendimension erreichen. Die erforderliche besondere Gefahrenlage muss sich aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ergeben. Aus Sinn und Zweck der Regelung ergibt sich, dass die Bedrohungssituation unmittelbar vom Ausländer ausgehen muss, in dessen Freiheitsrechte sie eingreift. Die vom Ausländer ausgehende Bedrohung muss aber nicht bereits die Schwelle einer konkreten Gefahr im Sinne des polizeilichen Gefahrenabwehrrechts überschreiten, bei der bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des geschützten Rechtsguts zu erwarten ist. Ausreichend ist, wenn ein beachtliches Risiko dafür besteht, dass sich eine terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland in der Person des Ausländers jederzeit aktualisieren kann, sofern nicht eingeschritten wird. Eine hinreichend konkretisierte Gefahr kann schon bestehen, wenn sich der zum Schaden führende Kausalverlauf noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersehen lässt, aber bereits bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen. In Bezug auf terroristische Straftaten, die oft von bisher nicht straffällig gewordenen Einzelnen an nicht vorhersehbaren Orten und in ganz verschiedener Weise verübt werden, kann dies schon dann der Fall sein, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, jedoch das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie solche Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird. Angesichts der Schwere aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist eine Verlagerung der Eingriffsschwelle in das Vorfeldstadium dagegen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, wenn nur relativ diffuse Anhaltspunkte für mögliche Gefahren bestehen, etwa allein die Erkenntnis, dass sich eine Person zu einem fundamentalistischen Religionsverständnis hingezogen fühlt. Allerdings kann in Fällen, in denen sich eine Person z.B. in hohem Maße mit einer militanten, gewaltbereiten Auslegung des Islam identifiziert, den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung dieser radikalislamischen Auffassung für gerechtfertigt und die Teilnahme am sogenannten „Jihad“ als verpflichtend ansieht, von einer hinreichend konkreten Gefahr auszugehen sein, dass diese Person terroristische Straftaten begeht. Gefahrerhöhende Umstände können sich auch aus einem freiwilligen Aufenthalt im Ausland im unmittelbaren Umfeld jihadistischer oder sonstiger terroristischer oder extremistischer Vereinigungen ergeben.
70
Für diese „Gefahrenprognose“ bedarf es - wie bei jeder Prognose - zunächst einer hinreichend zuverlässigen Tatsachengrundlage. Der Hinweis auf eine auf Tatsachen gestützte Prognose dient der Klarstellung, dass ein bloßer (Gefahren-)Verdacht oder Vermutungen bzw. Spekulationen nicht ausreichen. Jedoch muss abweichend von dem sonst im Gefahrenabwehrrecht geltenden Prognosemaßstab der hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit mit seinem nach Art und Ausmaß des zu erwartenden Schadens differenzierenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab eine bestimmte Entwicklung nicht wahrscheinlicher sein als eine andere. Vielmehr genügt angesichts der besonderen Gefahrenlage, dass sich aus den festgestellten Tatsachen ein beachtliches Risiko dafür ergibt, dass die von einem Ausländer ausgehende Bedrohungssituation sich jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umschlagen kann. Dieses beachtliche Eintrittsrisiko kann sich auch aus Umständen ergeben, denen (noch) keine strafrechtliche Relevanz zukommt, etwa wenn ein Ausländer fest entschlossen ist, in Deutschland einen mit niedrigem Vorbereitungsaufwand möglichen schweren Anschlag zu verüben, auch wenn er noch nicht mit konkreten Vorbereitungs- oder Ausführungshandlungen begonnen hat und die näheren Tatumstände nach Ort, Zeitpunkt, Tatmittel und Angriffsziel noch nicht feststehen. Eine hinreichende Bedrohungssituation kann sich aber auch aus anderen Umständen ergeben. In jedem Fall bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Ausländers, seines bisherigen Verhaltens, seiner nach außen erkennbaren oder geäußerten inneren Einstellung, seiner Verbindungen zu anderen Personen und Gruppierungen, von denen eine terroristische Gefahr und/oder eine Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik ausgeht sowie sonstiger Umstände, die geeignet sind, den Ausländer in seinem gefahrträchtigen Denken oder Handeln zu belassen oder zu bekräftigen. Dabei kann sich - abhängig von den Umständen des Einzelfalls - in der Gesamtschau ein beachtliches Risiko, das ohne ein Einschreiten jederzeit in eine konkrete Gefahr umschlagen kann, auch schon daraus ergeben, dass sich ein im Grundsatz gewaltbereiter und auf Identitätssuche befindlicher Ausländer in besonderem Maße mit dem radikalextremistischen Islamismus in seinen verschiedenen Ausprägungen bis hin zum ausschließlich auf Gewalt setzenden jihadistischen Islamismus identifiziert, über enge Kontakte zu gleichgesinnten, möglicherweise bereits anschlagsbereiten Personen verfügt und sich mit diesen in „religiösen“ Fragen regelmäßig austauscht In Anwendung dieser Grundsätze ist davon auszugehen, dass vom Kläger aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose ein beachtliches Risiko im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 1 AufenthG ausgeht, auch wenn den Sicherheitsbehörden kein konkreter Plan zur Ausführung einer terroristischen Gewalttat bekannt geworden war. Es besteht ein zeitlich und sachlich beachtliches Risiko, dass der Kläger seinen über einen langen Zeitraum gebildeten und bekundeten Überzeugungen hinsichtlich der Ziele der PKK weitere Taten folgen lässt einschließlich der Begehung oder aktiven Mitwirkung an einem - ohne großen Vorbereitungsaufwand möglichen - Terroranschlag mit unbeteiligten Toten. Diese vom Kläger ausgehende Bedrohungssituation konnte sich jederzeit aktualisieren und in eine konkrete terroristische Gefahr und/oder eine dem gleichzustellende Gefahr für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umschlagen. Dies ergibt sich in der Gesamtschau insbesondere aus der tiefen Verwurzelung des Klägers in der Ideologie der PKK und die Bereitschaft, die Ziele der PKK mit Waffen und Gewalt umzusetzen. Denn nach der Rechtsprechung des BVerwG kann sich eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland auch dann ergeben, wenn ein Ausländer eine die Sicherheit des Staates gefährdende Organisation in qualifizierter Weise, insbesondere durch eigene Gewaltbeiträge oder als Funktionär, unterstützt (BVerwG, U.v. 30.3.1999 - 9 C 31/98 - juris).
71
Wie bereits dargelegt hat der Kläger im Irak und in Syrien aktiv über einen Zeitraum von 10 Jahren terroristische Aktivitäten der PKK unterstützt. Bereits zuvor war er durch sein Elternhaus mit der Ideologie der PKK konfrontiert und engagierte sich in der Jugendorganisation. Spätestens als Leiter eines Ausbildungscamps war der Kläger intensiv an der Weitergabe der Ideologie der PKK beteiligt. Der Kläger hat bereits damit gezeigt, dass er bereit ist, die Ziele der PKK durch den Einsatz von Gewalt zu unterstützen.
72
Dies hat sich nach Einschätzung der Einzelrichterin aufgrund der Einlassungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung auch nicht geändert. Zwar hat sich der Kläger sowohl beim Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung dahingehend geäußert, dass er mit der PKK nichts mehr zu tun haben wolle, er mit einer anderen Einstellung nach Deutschland gekommen sei, er sich ein neues Leben in Deutschland aufbauen wolle und ihm nun seine Freundin und sein Kind wichtig seien. Als Grund für die Distanzierung von der PKK gab der Kläger an, dass er sich im Irak für den Grund seiner Suspendierung von der Lagerleitung geschämt habe und er mit der Vielzahl der Toten, u.a. auch in Folge seiner Suspendierung, nicht mehr zurechtgekommen sei. Diese Einlassungen dürften aber wohl eher den Grund dafür darstellen, dass der Kläger den Irak verlassen hat, nicht aber dafür, dass er sich vollständig von der PKK und ihrer der Ideologie distanziert hat. Selbst wenn es zutreffend sollte, dass der Kläger aktuell keinen oder kaum Kontakt zu anderen Anhängern der PKK hat, so sieht die Einzelrichterin allein unter Berücksichtigung, über welch langen Zeitraum der Kläger die PKK aktiv in nicht nur untergeordneter Funktion unterstützt hat und dass der Kläger den Iran nur verlassen hat, da er dort Probleme, insbesondere nach der Verhaftung durch die Sicherheitskräfte der kurdischen Autonomieregierung, bekommen hat, im Rahmen der anzustellenden Prognose hinsichtlich einer weiterhin bestehenden Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland noch keine ausreichende Distanzierung von der PKK. Solange der Kläger - wie er selbst einräumt - die Ziele der PKK noch immer für gut erachtet, stellt dies noch keine echte innere Abkehr von der Ideologie der PKK dar. Hinzukommt, dass sich nach ersten Eindrücken das strafrechtlich relevante Verhalten des Klägers nach der Rückkehr nach Deutschland ähnlich fortsetzt wie vor seiner Ausreise in den Irak. So ist der Kläger 2021 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln und wegen (gefährlicher) Körperverletzung verurteilt worden. Identische Straftaten sowie seine Drogenabhängigkeit haben den Kläger aber nach eigener Einlassung in der mündlichen Verhandlung veranlasst, Unterstützung bei der PKK im Irak zu suchen. Insoweit ist für die Einzelrichterin nicht ausgeschlossen, dass sich erneut eine vergleichbare Entwicklung ergeben kann, insbesondere unter dem Eindruck, dass gerade keine innere Abkehr von der Ideologie der PKK stattgefunden hat.
73
Unerheblich ist für die Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, dass sich die Aktivitäten der PKK derzeit überwiegend auf die Türkei und die an diese angrenzenden Staaten konzentriert und sich im Wesentlichen gegen die Türkei richten. Die Sicherheit der Bundesrepublik ist auch dann gefährdet, wenn sich z.B. gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Volksgruppen in die Bundesrepublik Deutschland verlagern und hier ausgetragen werden oder wenn derartige Gewaltanwendungen propagiert und damit das Gewaltmonopol des Staates in Frage gestellt wird (BVerwG, U.v. 30.3.1999 - 9 C 31/98 - juris). Auch wenn es derzeit keine Gewaltanschläge in Europa gibt, besteht die Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland fort. Insoweit ist für die Einzelrichterin maßgeblich, dass das Vereinsverbot hinsichtlich der PKK und ihrer Untergruppierungen in Deutschland fortbesteht und die PKK auch weiterhin auf der EU-Terrorliste (s.o.) steht. Auch wird das Verhalten der PKK als taktisches Verhalten bewertet.
74
So wird in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 7. Januar 2015 (BTDrs. 18/3702) ausgeführt, dass es der PKK aufgrund der Bindung ihrer Ressourcen und ihrer momentanen Ausrichtung auf Nord-Syrien Unruhe und erhöhter Verfolgungsdruck im Rest Europas ungelegen käme und sie daher auf friedliche Verläufe der Aktionen drängt sowie unfriedliche Verläufe kritisiert. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die PKK jederzeit zu einem anderen Vorgehen in der Lage ist.
75
Im Verfassungsschutzbericht 2020 wird ausgeführt, dass die PKK weiterhin in der Lage ist, Personen weit über die eigene Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren, auch wenn 2020 die öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen aufgrund der Corona-Pandemie beschränkt gewesen sind. Die Entwicklungen in der Türkei und in Nordsyrien in den letzten Jahren hat zu einer deutlichen Emotionalisierung der PKK-Anhängerschaft in Deutschland geführt, die sich auch weiterhin auf die Sicherheitslage in Deutschland auswirken kann. Eine Lageverschärfung dort verstärkt regelmäßig auch hierzulande die ohnehin starken Spannungen zwischen Anhängern der PKK und nationalistischen/rechtsextremistischen Türken. Ein permanentes Konfliktpotenzial bieten die zahlreichen im Bundesgebiet abgehaltenen Kundgebungen, bei denen es auch im Verlauf des Jahres 2020 zu Konfrontationen beider Lager kam. Neben Zusammenstößen beider Lager besteht in Deutschland nach wie vor auch die Gefahr militanter Aktionen gegen (halb-) staatliche Einrichtungen der Türkei. Solange in der Türkei beziehungsweise in Syrien keine Lageentspannung eintritt, dürfte dieser Zustand anhalten und eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit in Deutschland darstellen. Wenngleich in Europa weiterhin friedliche Veranstaltungen und Aktivitäten im Vordergrund stehen, bleibt Gewalt eine strategische Option der PKK-Ideologie. Dies wird nicht zuletzt durch die Rekrutierungen für die eigene Guerilla deutlich. Die PKK ist in der Lage, zumindest punktuell Gewalt auch in Deutschland einzusetzen, sofern dies aus ihrer Sicht geboten scheint. Darüber hinaus würden Straf- und Gewalttaten ihrer jugendlichen Anhängerschaft zumindest geduldet.
76
Auch ACCORD (COI-Compilation, Auszug und teilweise aktualisierte Übersetzung der im August 2020 veröffentlichten englischen COI Compilation - Türkei, Dezember 2020) verwies auf den im Juni veröffentlichten Jahresbericht von USDOS zu Terrorismus für das Jahr 2019, wonach „die PKK weiterhin Terroranschläge in der Türkei und gegen türkische Interessen außerhalb der Türkei verübte“.
77
Insoweit ist der Kläger aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen. In der mündlichen Distanzierung von der PKK sieht die Einzelrichterin lediglich ein aus taktischen Gründen angepassten Verhalten, um eine Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten.
78
b) Es besteht auch kein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG, da entsprechend der vorausgehenden Ausführungen die Ausschlussgründe gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 4 AsylG einschlägig sind (s.o.).
79
c) Nicht zu beanstanden ist die Ablehnung als offensichtlich unbegründet. Zwar lagen zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung gemäß § 77 Abs. 1, Halbsatz 1 AsylG die Voraussetzungen § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG, auf den sich das Bundesamt im Bescheid vom 30. Dezember 2020 gestützt hat, nicht vor, eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet kann aber auf § 30 Abs. 4 AsylG gestützt werden. Das Gericht kann dabei auch die Begründung des Bescheides für die offensichtliche Unbegründetheit auswechseln (VG Berlin, B.v. 30.1.2020 - 38 L 549.19 A -, juris Rn. 14 m.w.N.; VG Augsburg, U.v. 12.1.2018 - Au 4 K 17.33684 -, juris Rn. 34; VG München, B. v. 29.8.2013 - M 24 S. 13.30753 - juris Rn. 27)
80
Gem. § 30 Abs. 4 AsylG ist ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder des § 3 Abs. 2 AsylG vorliegen oder wenn das Bundesamt nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 8 Satz 3 des AufenthG abgesehen hat.
81
Gem. § 30 Abs. 4 i.V.m. § 14 Abs. 2 Satz 1 AsylG bezieht sich diese Rechtsgrundlage gleichermaßen auf den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter gem. Art. 16a Abs. 1 GG, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG und die Zuerkennung subsidiären Schutzes gem. § 4 AsylG. Liegt ein Ausschlusstatbestand gem. § 30 Abs. 4 AsylG vor, ist ein Asylantrag auch dann insgesamt als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn zugleich die tatbestandsbegründenden Voraussetzungen für die Zuerkennung von Asyl gem. Art. 16a Abs. 1 GG oder eines internationalen Schutzstatus gem. § 3 und § 4 AsylG vorliegen. Der Asylantrag ist in diesem Fall auch dann offensichtlich unbegründet, wenn er andernfalls begründet wäre. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen auch im Hinblick auf das in Art. 16a Abs. 1 GG vorbehaltlos gewährleistete Grundrecht auf Asyl nicht, weil es sich bei § 30 Abs. 4 AsylG nicht um eine einfachgesetzliche Schranke handelt, sondern dort der in praktischer Konkordanz gefundene Ausgleich mit anderen, ebenfalls verfassungsrechtlich verankerten Rechtsgütern, namentlich dem Schutz von Leib und Leben sowie der Sicherheit der Allgemeinheit, normiert ist. Sofern einer der in § 30 Abs. 4 AsylG normierten Ausschlussgründe vorliegt, kommt es deshalb nicht darauf an, ob dem Kläger in der Türkei politische oder sonst flüchtlingsschutzrechtlich relevante Verfolgung droht oder eine Gefahrenlage gemäß § 4 AsylG besteht. Dem ist dann gem. § 31 Abs. 3 Alt. 1, Abs. 2 AsylG ausschließlich durch die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG Rechnung zu tragen (VG Würzburg, U.v. 26.7.2021 - W 2 K 21.30396 -, juris Rn. 33 unter Bezugnahme auf Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 29. Edition [Stand: 1.4.2021], Rn. 53 f.).
82
Das Gericht hat bereits ausführlich dargelegt, weshalb es vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 AsylG bzw. des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG ausgeht. Insoweit wird auf diese Ausführungen verwiesen.
83
d) Es besteht aber ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Das ist insbesondere der Fall, wenn der Betroffene im Fall seiner Abschiebung der ernsthaften Gefahr („real risk“) der Todesstrafe, der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt wäre.
84
Die Einzelrichterin ist aufgrund der bereits dargestellten Erkenntnismittel davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit polizeilichen oder justiziellen Maßnahmen, verbunden mit Folter, unmenschlicher Behandlung und Einschränkung seines Rechtes auf ein faires gerichtliches Verfahren, ausgesetzt sein wird.
85
So bestehen hinsichtlich des Rechtes auf ein faires öffentliches Verfahren Mängel beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der PKK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (BFA, Informationsblatt der Staatendokumentation - Türkei, Version 4 vom 6.12.2021, S.46). Auch wird weiterhin von Folter und Misshandlung berichtet. Folter und Misshandlung kommen nach wie vor in Haftzentren der Polizei und Gendarmerie sowie Gefängnissen, aber auch in informellen Hafteinrichtungen, beim Transport und auf der Straße vor. Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind. Die Staatsanwaltschaft führt keine adäquaten Untersuchungen zu solchen Anschuldigungen durch. Zudem herrscht eine weitverbreitete Kultur der Straflosigkeit für Mitglieder der Sicherheitskräfte und betroffene Beamte. Insbesondere Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur PKK zu haben, sind brutalen Verhör-Methoden ausgesetzt, die darauf abzielen, Geständnisse zu erzwingen oder Häftlinge zu nötigen, andere zu belasten (BFA, Informationsblatt der Staatendokumentation - Türkei, Version 4 vom 6.12.2021, S. 54 ff., 104 ff).
86
Auch nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe können wegen PKK-Verbindungen Verhaftete kein faires Verfahren erwarten und es besteht für sie ein erhebliches Risiko, in Haft misshandelt zu werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei: Gefährdungsprofile, 19. Mai 2017, S. 13).
87
e) Daher ist auch die im angefochtenen Bescheid verfügte Abschiebungsandrohung und Ausreisefristbestimmung rechtswidrig und aufzuheben.
88
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 155 Abs. 1 VwGO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
89
Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 b AsylVfG).