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VGH München, Beschluss v. 12.07.2022 – 24 ZB 22.30285
Titel:

Klage gegen Aufhebung des Hinweises, dass der Ausländer in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, mangels Beschwer unzulässig

Normenkette:
AufenthG § 59 Abs. 2 S. 1
Leitsätze:
Unzulässigkeit des Antrags der Beklagten auf Zulassung der Berufung mangels Beschwer, da der Hinweis nach § 59 Absatz 2 Satz AufenthG, dass der Antragsteller auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, nur eine schlichte Information ist und keinen Regelungsgehalt enthält.
1. Wenn dem Rechtsschutzführer die Beschwer - das Rechtsschutzinteresse für die Rechtsmittelinstanz - fehlt, ist ein Rechtsmittel nicht statthaft und damit unzulässig. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der nach § 59 Abs. 2 S. 1 AufenthG erforderliche Hinweis, dass der Ausländer auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, stellt eine schlichte Information dar, besitzt also keinen Regelungsgehalt. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Unzulässigkeit eines Berufungszulassungsantrags, Mangelnde Beschwer, Hinweis, Rechtsmittel, Beschwer, Abschiebung in ein anderes Land, Regelungsgehalt
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 19.01.2022 – AN 1 K 21.30046
Fundstelle:
BeckRS 2022, 19908

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

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1. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 19. Januar 2022 hat keinen Erfolg.
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Mit dem Urteil hat das Verwaltungsgericht Nr. 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge - Bundesamt - vom 30. Dezember 2020 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich der Türkei vorliegen. Nr. 5 des Bescheids vom 30. Dezember 2020 lautet: „Der Antragsteller wird aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Sollte der Antragsteller die Ausreisefrist nicht einhalten, wird er in die Türkei abgeschoben. Der Antragsteller kann auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist.“
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Nach Auffassung der Beklagten verletze die erstinstanzliche Entscheidung das Gebot der (hinreichenden) Begründung eines Urteils (vgl. § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 6 VwGO). Der Entscheidung lasse sich auch nicht mittelbar entnehmen, welche Gründe für die vollumfängliche Aufhebung der Abschiebungsandrohung maßgeblich gewesen seien. Auf Seite 35 des Urteils würden die Abschiebungsandrohung und die Ausreisefristbestimmung als rechtswidrig bewertet, „daher“ seien diese aufzuheben. Das Gericht folgere aus dem vorliegenden Abschiebungsverbot die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung und der Ausreisefristbestimmung insgesamt. Es sei jedoch nicht erkennbar, ob das Gericht diese Feststellung als sich unmittelbar aus dem Gesetz ergebende Rechtsfolge betrachte oder ob es aufgrund der tatbestandlichen Voraussetzungen für die Abschiebungsandrohung zu dem Ergebnis komme, dass diese rechtswidrig sei. Es werde auch der Teil aufgehoben, welcher die Feststellung enthalte, dass der Kläger auch in einen anderen Staat abgeschoben werden könne, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei. Die Aufhebung habe nicht nur deklaratorischen Wert. Indem das Gericht die Abschiebungsandrohung in Gänze aufgehoben habe, gehe es über den Schutzanspruch des Einzelnen hinaus und schränke das Recht der Beklagten, die Allgemeinheit vor Straftaten zu schützen ein. Zum Schutz des Klägers habe es ausgereicht, die Abschiebungsandrohung in die Türkei aufzuheben. Es sei nicht erkennbar, ob sich das Gericht mit § 59 Abs. 3 Satz 3 AufenthG befasst habe.
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Die Beklagte macht zudem geltend, es liege der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung vor und wirft als gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG grundsätzlich klärungsbedürftig die Frage auf,
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„inwieweit sich ein vom Verwaltungsgericht festgestelltes Abschiebungsverbot betreffend ein bestimmtes Land, auf die Rechtmäßigkeit der darüber hinausgehenden Feststellung des Bundesamtes auswirkt, dass der Ausländer auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet ist“.
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Die erstinstanzliche Rechtsprechung in Bayern verhalte sich unterschiedlich. Die Urteile wichen hinsichtlich der Tenorierung und der Begründung voneinander ab. Die Frage lasse sich auch nicht aus dem Gesetz oder allgemeinen rechtlichen Grundsätzen beantworten. Die Aufhebung sei zur Wahrung der rechtlichen Interessen der Schutzsuchenden nicht erforderlich. Soweit festgestellt werde, dass auch in andere aufnahmebereite Staaten abgeschoben werden könne, ergebe sich kein Aufhebungsanspruch aus der Feststellung eines Abschiebeverbots bezüglich des Herkunftsstaates. Der Hinweis auf die Abschiebemöglichkeit in einen anderen Staat sei nicht denknotwendig davon abhängig, dass Abschiebungsverbote bezüglich des Herkunftsstaates vorlägen. Angesichts der auch vom Gericht festgestellten erheblichen Gefahr, die vom Kläger für die öffentliche Sicherheit ausgehe, dürften die Möglichkeiten einer Abschiebung nur im rechtlich zwingend gebotenen Umfang eingeschränkt werden. Die vollumfängliche Aufhebung der Abschiebungsandrohung entfalte erhebliche aufenthaltsrechtliche Wirkungen. Durch die vollumfängliche Aufhebung sei einer Abschiebung in einen aufnahmebereiten Staat die rechtliche Grundlage entzogen. Einem Ausländer solle eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliege. Sie werde nicht erteilt, wenn die Ausreise in einen anderen Staat möglich und zumutbar sei oder der Ausländer wiederholt oder gröblich gegen entsprechende Mitwirkungspflichten verstoßen habe (§ 25 Absatz 3 AufenthG).
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Wie sich aus der Begründung des Zulassungsantrags ergibt, wendet sich die Beklagte nur gegen die Aufhebung von Nr. 5 Satz 3 des Bescheids vom 30. Dezember 2020, nämlich: “Der Antragsteller kann auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist.“ Im Übrigen wurde das streitgegenständliche Urteil rechtskräftig. Der so verstandene Zulassungsantrag hat keinen Erfolg, da er mangels Beschwer der Beklagten unzulässig ist.
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Voraussetzung für die Zulässigkeit des Rechtsmittels sind die Darlegung der Zulassungsgründe sowie eine Beschwer durch die angegriffene Entscheidung (Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 82, vor § 124 Rn. 23). Wenn dem Rechtsmittelführer die Beschwer fehlt, ist ein Rechtsmittel nicht statthaft und damit unzulässig. Die Beschwer ist das Rechtsschutzinteresse für die Rechtsmittelinstanz (Rudisile in Schoch/Schneider, VwGO, Stand Februar 2022, vor § 124 Rn. 39). Die Zulässigkeitsvoraussetzungen sind vom Gericht von Amts wegen zu prüfen (Happ in Eyermann, a. a. O., § 124a Rn. 82). Dabei ist es weder an das tatsächliche Vorbringen der Beteiligten noch an ihre Rechtsauffassungen gebunden. Maßgebend ist auf die materielle Beschwer abzustellen, weil nur nach dem Sachantrag des Klägers entschieden wird. Eine Beschwer läge dementsprechend nur vor, wenn die Entscheidung des Verwaltungsgerichts für die Beklagte nach ihrem Inhalt nachteilig wäre, also dem Kläger etwas zu ihren Lasten zusprechen, zu ihren Lasten rechtsgestaltend wirken oder einen Streit um ein Rechtsverhältnis zu ihren Ungunsten entscheiden würde (Happ in Eyermann, a. a. O., vor § 124 Rn. 29; BayVGH, B.v. 29.7.2015 - 13a ZB 15.50096 - juris Rn. 6 ff.)
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Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Antrag auf Zulassung der Berufung unzulässig. Zwar hat die Beklagte gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG die Zulassungsgründe dargelegt, jedoch ist sie durch das angegriffene Urteil nicht beschwert. Der nach § 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erforderliche Hinweis, dass der Ausländer auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, stellt eine schlichte Information dar, besitzt also keinen Regelungsgehalt. Daran wird - auch für den Adressaten der Androhung - deutlich, dass die Angabe eines oder mehrerer Zielstaaten die Behörde nicht daran hindert, in einen anderen Staat abzuschieben, wenn die Abschiebung in die genannten Staaten aus rechtlichen Gründen nicht möglich ist (BeckOK, Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.4.2022 Rn. 32). Die Aufhebung des Hinweises verletzt die Beklagte deshalb nicht in ihren Rechten.
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Die Aufhebung des Hinweises verletzt die Beklagte zudem auch nicht in ihren Rechten, da die Abschiebungsandrohung rechtskräftig aufgehoben worden ist und damit ohnehin keine Grundlage für diesen Satz mehr besteht. Die erforderliche Konkretisierung des Zielstaats wäre daher ohnehin nicht möglich (Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 59 AufenthG Rn. 45 und Nr. 59.2.2 AVwV AufenthG).
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).