Inhalt

VGH München, Beschluss v. 08.07.2022 – 10 ZB 22.1379
Titel:

Erlöschen eines Aufenthaltstitels wegen Ausreise in die Türkei aus einem nicht nur vorübergehenden Grund

Normenketten:
AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 6
EWG-Türkei Art. 7 S. 1
Daueraufenthalts-RL Art. 9
Leitsätze:
1. Bei der Beurteilung, ob ein Ausländer iSv § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund aus der Bundesrepublik ausgereist ist, sind neben der Dauer und dem Zweck des Aufenthalts alle objektiven Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, während es auf den inneren Willen des Ausländers, später wieder nach Deutschland zurückzukehren, nicht allein ankommen kann. (Rn. 8) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Unschädlich im Hinblick auf das Erlöschen eines Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG sind Auslandsaufenthalte, die nach ihrem Zweck typischerweise zeitlich begrenzt sind und die keine wesentliche Änderung der gewöhnlichen Lebensumstände in Deutschland mit sich bringen, wie etwa Urlaubsreisen, beruflich veranlasste Aufenthalte von ähnlicher Dauer, Aufenthalte zur vorübergehenden Pflege von Angehörigen, zur Ableistung der Wehrpflicht oder Aufenthalte während der Schul- oder Berufsausbildung für zeitlich begrenzte Ausbildungsabschnitte (VGH München BeckRS 2021, 26075). (Rn. 8) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Allein die Heirat in der Türkei und ein damit zusammenhängender Aufenthalt führen noch nicht zum Erlöschen des Aufenthaltstitels, wenn der Aufenthalt dort eine gewisse Zeit andauert und dazu dient, die Einreise des Ehegatten nach Deutschland vorzubereiten (VGH München BeckRS 2014, 52059). (Rn. 9) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht erlischt, wenn der Betroffene das Hoheitsgebiets des jeweiligen Staats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt (EuGH BeckRS 2010, 91494 – Bozkurt). Dabei ist maßgeblich auf die Verlagerung des Lebensmittelpunkts abzustellen; je länger der Betroffene sich im Ausland aufhält, desto eher spricht dies dafür, dass er seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland aufgegeben hat (BVerwGE 151, 377 = BeckRS 2015, 44470). (Rn. 12) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Die Zwölfmonatsfrist des Art. 9 Abs. 1 lit. c Daueraufenthalts-RL stellt ein gewichtiges Indiz dafür dar, ab wann ein Assoziationsberechtigter, wenn keine berechtigten Gründe vorliegen, seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland aufgegeben und dadurch seine assoziationsrechtliche Stellung verloren hat (BVerwGE 151, 377 = BeckRS 2015, 44470). Daraus folgt jedoch nicht, dass ein erheblicher Zeitraum, der zum Verlust des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts führt, nur dann vorliegt, wenn der betreffende Ausländer sich länger als zwölf aufeinanderfolgende Monate im Ausland aufgehalten hat; maßgeblich ist die Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls (VGH München BeckRS 2017, 102520). (Rn. 14) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Erlöschen der Niederlassungserlaubnis, Ausreise aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grund, Erlöschen des Aufenthaltsrechts aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80, Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe, Verlagerung des Lebensmittelpunktes in die Türkei, Bedeutung von Art. 9 RL 2003/119/EG für die Feststellung des nicht unerheblichen Zeitraums, türkische Staatsangehörige, assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht, Niederlassungserlaubnis, Ausreise aus nicht nur vorübergehendem Grund, Verlagerung des Lebensmittelpunkts, deutsches Kind, Eheschließung in der Türkei, langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige, RL 2003/109/EG
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 30.03.2022 – Au 6 K 20.2125
Fundstelle:
BeckRS 2022, 19883

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt die Klägerin, eine türkische Staatsangehörige, die sich seit ihrer letzten Ausreise im November 2019 in der Türkei aufhält, ihre in erster Instanz erfolglose Klage auf Feststellung, dass ihre Niederlassungserlaubnis und ihr Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nicht erloschen sind, weiter.
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Der zulässige Antrag ist unbegründet, weil sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.), noch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (2.), noch ein Verfahrensmangel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (3.) ergeben.
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1. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Solche Zweifel bestünden dann, wenn die Klägerin im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
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Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung der Klageabweisung ausgeführt, die Niederlassungserlaubnis der Klägerin sei erloschen, weil die Klägerin im Mai 2019 und im November 2019 aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grund das Bundesgebiet verlassen habe. Die Klägerin habe gegenüber der Ausländerbehörde den eigentlichen Grund ihrer Ausreise verschwiegen. Sie habe in der Türkei erneut geheiratet, was sie mit der Anerkennung ihrer Scheidung (nach deutschem Recht) in der Türkei im Jahr 2018 bereits vorbereitet habe. In diesem Zusammenhang habe sie ihren Lebensmittelpunkt in die Türkei verlagert. Anhaltspunkte gegen diese Annahme seien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Weder habe der Ehemann zeitnah ein Visum zum Ehegattennachzug beantragt, noch habe die Klägerin die Voraussetzungen für einen Ehegattennachzug als erfüllt angesehen. Auch habe die Klägerin keine beruflichen Bindungen im Bundesgebiet zurückgelassen. Dass die Klägerin im Bundesgebiet noch ein minderjähriges, beim sorgeberechtigten Vater lebendes Kind habe, rechtfertige kein anderes Ergebnis. Damit seien die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erfüllt. Die Klägerin könne sich auch nicht auf § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG berufen, da ihr Lebensunterhalt zum Zeitpunkt der Ausreise nicht gesichert gewesen sei. Die Stillhalteklausel des Art. 14 ARB 1/80 stehe der Anwendung des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG nicht entgegen. Die Klägerin habe das Bundesgebiet für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen, weshalb auch ihr Aufenthaltsrechts nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erloschen sei. Etwas Anderes folge auch nicht aus Art. 9 RL 2003/109/EG. Zwar habe der Europäische Gerichtshof entschieden, dass jede physische Anwesenheit eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Gebiet der Europäischen Union während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten ausreiche, um zu verhindern, dass der Aufenthaltsberechtigte seine Rechtsstellung verliert, auch wenn eine solche Anwesenheit während dieses Zeitraums eine Gesamtdauer von nur wenigen Tagen nicht überschreite. Gemäß Art. 7 Abs. 1 RL 2003/109/EG habe jedoch der betroffene Drittstaatsangehörige bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem er sich aufhalte, einen Antrag einzureichen, dem Unterlagen beizufügen seien, aus denen hervorgehe, dass er die Voraussetzungen der Art. 4 und 5 der Richtlinie erfülle. Dass dies im vorliegenden Fall geschehen sei, sei weder substantiiert vorgetragen, noch sonst ersichtlich. Darauf komme es letztlich aber nicht an, da die Klägerin aus von ihr zu vertretenen Gründen innerhalb eines Jahres nicht wieder in das Bundesgebiet eingereist sei. Die Klägerin habe die Verzögerungen im Visumverfahren zu vertreten, weil sie im Visumantrag unrichtige Angaben zu ihrem Familienstand gemacht habe. Ob dies bewusst oder versehentlich geschehen sei, könne dahinstehen. Es sei nicht ersichtlich, dass die Klägerin einstweiligen Rechtsschutz in Anspruch genommen habe, um eine rechtzeitige Einreise in das Bundesgebiet zu ermöglichen.
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Dem hält das Zulassungsvorbringen entgegen, das Verwaltungsgericht habe den Sachverhalt unzutreffend ermittelt und festgestellt. Das Verwaltungsgericht gehe zu Unrecht davon aus, dass die Klägerin nach Erlass des streitgegenständlichen Bescheids keine ausreichenden Bemühungen für eine Rückkehr ins Bundesgebiet unternommen habe. Zu diesen Bemühungen sei aber umfänglich vorgetragen worden, worauf das Gericht in den Urteilsgründen jedoch nicht eingegangen sei. In der Klageschrift sei auch ausgeführt worden, dass die Klägerin gar nicht vorgehabt habe, langfristig in der Türkei zu leben. Ihre Verwurzelung in Deutschland komme schon darin zum Ausdruck, dass sie ein minderjähriges deutsches Kind habe, das zwar beim sorgeberechtigten Vater lebe, zu dem sie aber regelmäßig „Umgang“ per Smartphone und Messangerdiensten halte. Die Abmeldungen nach unbekannt im März 2018 und im Oktober 2019 seien nicht von ihr veranlasst gewesen, sondern von Amts wegen erfolgt. Das Verwaltungsgericht stelle dagegen nur auf die Eheschließung ab und unterstelle der Klägerin zu Unrecht, diese verheimlicht zu haben. Dass sie im Visumantrag zuerst angegeben habe, ledig zu sein und erst auf Nachfrage die Eheschließung angegeben habe, sei auf einen Irrtum hinsichtlich der Wirksamkeit der Eheschließung nach deutschem Recht zurückzuführen. Die Eheschließung mit einem türkischen Staatsangehörigen könne ein berechtigter Grund sein. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 sei erloschen, lasse die neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (U.v. 20.1.2022 - C-432/20) zu Art. 9 der RL 2003/109/EG unberücksichtigt. Danach verhindere jede physische Anwesenheit eines Drittstaatsangehörigen im Unionsgebiet im Zeitraum von zwölf Monaten das Erlöschen seines Daueraufenthaltsrecht. Es sei davon auszugehen, dass dieser Maßstab auch auf das Erlöschen des Aufenthaltsrechts nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 Anwendung finde. Die Klägerin habe Deutschland zudem aus berechtigten Gründen verlassen, um ihren Vater zu pflegen. Auch habe sie in Deutschland ein minderjähriges Kind. Dass sie unbedingt nach Deutschland zurückgewollt habe, habe sie durch ihre E-Mails ab März 2020 zum Ausdruck gebracht. Dass sie danach noch länger in der Türkei gewesen sei, habe sie aufgrund der pandemiebedingten Reisebeschränkungen und der Verzögerungen im Visumverfahren nicht zu vertreten. Gegen die Verweigerung des Einreisevisums habe sie sogar remonstriert. Der Anwendung von § 51 Abs. 1 Nr. 7 (sic) AufenthG stehe die Stillhalteklausel des Art. 14 ARB 1/80 entgegen.
6
Diese Einwände begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts.
7
a) Soweit sich das Zulassungsvorbringen im Hinblick auf das vom Verwaltungsgericht angenommene Erlöschen der Niederlassungserlaubnis auf § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG (Erlöschen des Aufenthaltstitels, wenn der Ausländer ausgereist und nicht innerhalb von sechs Monaten oder einer von der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist wieder eingereist ist) abstellt und hierzu in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vorträgt, zeigt dies schon deswegen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils auf, weil das Verwaltungsgericht seine Entscheidung auf § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG (Erlöschen aufgrund der Ausreise aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund) gestützt hat. Soweit sich die Klägerin hiergegen wendet, zeigt sie keine ernstlichen Richtigkeitszweifel auf.
8
Nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erlischt der Aufenthaltstitel, wenn der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde ausreist. Bei der Beurteilung, ob er aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde ausgereist ist, sind nach ständiger Rechtsprechung neben der Dauer und dem Zweck des Aufenthalts alle objektiven Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, während es auf den inneren Willen des Ausländers - insbesondere auf seine Planung der späteren Rückkehr nach Deutschland - nicht allein ankommen kann. Unschädlich im Hinblick auf diese Vorschrift sind danach lediglich Auslandsaufenthalte, die nach ihrem Zweck typischerweise zeitlich begrenzt sind und die keine wesentliche Änderung der gewöhnlichen Lebensumstände in Deutschland mit sich bringen wie etwa Urlaubsreisen, beruflich veranlasste Aufenthalte von ähnlicher Dauer, Aufenthalte zur vorübergehenden Pflege von Angehörigen, zur Ableistung der Wehrpflicht oder Aufenthalte während der Schul- oder Berufsausbildung für zeitlich begrenzte Ausbildungsabschnitte (vgl. BVerwG, U.v. 11.12.2012 - 1 C 15.11 - juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 25.8.2021 - 10 ZB 21.1582 - juris Rn. 16; U.v. 5.4.2016 - 10 B 16.165 - juris Rn. 22; B.v. 18.2.2015 - 10 ZB 14.345 - juris Rn. 9 sowie B.v. 4.1.2016 - 10 ZB 13.2431 - juris Rn. 6; VGH BW, U.v. 9.11.2015 - 11 S 714/15 - juris Rn. 43 jeweils m.w.N.).
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Ausgehend hiervon zieht das Zulassungsvorbringen die auf objektive Umstände gestützte Annahme des Verwaltungsgerichts, die Klägerin habe bei ihrer Ausreise heiraten und ein neues Leben in der Türkei beginnen wollen, nicht ernsthaft in Zweifel. Der Vortrag beschränkt sich auf subjektive Absichten der Klägerin zum Zeitpunkt der Ausreise und ihr Verhalten ein knappes halbes Jahr nach der Ausreise ab März 2020. Die Klägerin hielt sich seit Mai 2019 nur noch für fünf Tage im Bundesgebiet auf, bevor sie am 26. November 2019 letztmals das Bundesgebiet verließ, um eine bereits vorbereitete Eheschließung zu vollziehen. Eine Wohnung hatte sie zu diesem Zeitpunkt in Deutschland offenbar nicht mehr, da sie bereits im Oktober 2019 unstreitig von Amts wegen nach unbekannt abgemeldet wurde. Auch einen Arbeitsplatz hatte sie nicht. Den einzigen objektiven Anhaltspunkt für eine mögliche Rückkehr, die Beziehung zu ihrem minderjährigen deutschen Kind, hat das Verwaltungsgericht erkannt und gewürdigt. Das Zulassungsvorbringen, wonach die Klägerin ihren Umgang „per Smartphone und Messangerdiensten“ wahrnehme, legt angesichts der vom Verwaltungsgericht festgestellten langen Abwesenheitszeiten der Klägerin auch in den Vorjahren gerade nicht dar, dass die Beziehung zu dem Kind für eine von vornherein beabsichtigte Rückkehr der Klägerin nach Deutschland spräche. Im Ausgangspunkt zutreffend ist zwar die Annahme der Klägerin, dass allein die Heirat in der Türkei und ein damit zusammenhängender Aufenthalt in der Türkei noch nicht zum Erlöschen des Aufenthaltstitels führt, wenn der Aufenthalt in der Türkei eine gewisse Zeit andauert und dazu dient, die Einreise des Ehegatten nach Deutschland vorzubereiten (BayVGH, U.v. 13.5.2014 - 10 BV 12.2382 - juris Rn. 35 zum Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80). Vorliegend sind Bemühungen, eine gemeinsame Rückkehr nach Deutschland vorzubereiten aber weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Zur naheliegenden Annahme des Verwaltungsgerichts, der Umstand, dass der neue Ehemann der Klägerin keinen Ehegattennachzug nach Deutschland angestrebt habe, spreche gegen einen beabsichtigten Lebensmittelpunkt in Deutschland, verhält sich das Zulassungsvorbringen nicht. Dem gesamten Vortrag der Klägerin in beiden Instanzen ist nicht Konkretes zu der Frage zu entnehmen, welche objektiven Umstände für die Annahme sprechen sollten, dass die Klägerin ohne Wohnsitz, Arbeitsstelle und Vorbereitungen für einen Ehegattennachzug ihren Lebensmittelpunkt noch in Deutschland hatte. Er beschränkt sich vielmehr auf die unsubstantiierte Schilderung ihrer subjektiven Vorstellungen bei der Ausreise (vorübergehende Pflege des Großvaters in der Türkei) sowie des ab März 2020 geäußerten Willens, nach Deutschland zurückkehren zu wollen, und entsprechender Anträge bei deutschen Behörden. Damit begegnet die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Klägerin habe Deutschland für ein Eheleben in der Türkei und damit aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund verlassen, auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens keinen ernstlichen Richtigkeitszweifeln.
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Gegen die Annahmen des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin sich nicht auf die Ausnahme in § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG berufen könne, weil ihr Lebensunterhalt im Zeitpunkt der letzten Ausreise nicht gesichert gewesen sei und die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 der Anwendung von § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG (im Gegensatz zur Anwendung von § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG) nicht entgegenstehe, wendet sich das Zulassungsvorbringen nicht.
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b) Auch die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Klägerin habe das Bundesgebiet für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen, sodass ihre Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erloschen sei, zieht das Zulassungsvorbringen nicht ernstlich in Zweifel.
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Ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht erlischt, wenn die Betroffene - wie hier - das Hoheitsgebiet des jeweiligen Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt (EuGH, U.v. 22.12.2010 - Bozkurt, C-303/08 - juris Rn. 42; U.v. 18.7.2007 - Derin, C-325/05 - juris Rn. 49 f.; BayVGH, B.v. 25.8.2021 - 10 ZB 21.1582 - juris Rn. 16; B.v. 4.1.2016 - 10 ZB 13.2431 - juris Rn. 9). Mit Blick auf das Regelungsziel des Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80, das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht nach seiner Entstehung aus der Abhängigkeit von der beschäftigungsbezogenen Rechtsstellung des Stammberechtigten zu lösen und dem Familienangehörigen zum Zweck der Integration im Mitgliedstaat eine autonome Rechtsposition zu verschaffen, kommt es im Falle eines längeren Auslandsaufenthalts der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen bei der Bewertung aller Umstände des Einzelfalles, ob sie das Bundesgebiet für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen haben, maßgeblich darauf an, ob sie ihren Lebensmittelpunkt aus Deutschland wegverlagert hat. Dabei stehen das zeitliche Moment und die Gründe für das Verlassen des Bundesgebiets nicht isoliert nebeneinander; vielmehr besteht zwischen ihnen ein Zusammenhang: Je länger der Betroffene sich im Ausland aufhält, desto eher spricht dies dafür, dass er seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland aufgegeben hat (BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 19.14 - BVerwGE 151, 377 - juris Rn. 18).
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Das Zulassungsvorbringen beschränkt sich - neben dem bereits im Rahmen § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG gewürdigten Vorbringen zu den subjektiven Vorstellungen der Klägerin bei ihrer Ausreise im November 2019 und zu ihrem Verhalten ab März 2020 - im Wesentlichen auf das Argument, Art. 9 Abs. 1 Buchst c RL 2003/109/EG in seiner Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union sei auf das Erlöschen der Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 entsprechend anwendbar, sodass erst ab einem Verlassenszeitraum von mindestens zwölf aufeinanderfolgenden Monaten von einem nicht unerheblichen Zeitraum und damit von einem Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts ausgegangen werden könne.
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In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist allerdings geklärt, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst c RL 2003/109/EG nicht ohne Weiteres entsprechend anzuwenden ist, um den nicht unerheblichen Zeitraum exakt zu definieren. Der Zwölfmonatsfrist des Art. 9 Abs. 1 Buchst c RL 2003/109/EG ist zwar eine gewichtige Indizwirkung dafür zu entnehmen, ab wann ein Assoziationsberechtigter, wenn keine berechtigten Gründe vorliegen, seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland aufgegeben und dadurch seine assoziationsrechtliche Stellung verloren hat (BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 19.14 - juris Rn. 21). Daraus folgt jedoch nicht, dass ein erheblicher Zeitraum, der zum Verlust des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts führt, immer nur dann vorliegt, wenn sich der betreffende Ausländer länger als zwölf aufeinanderfolgende Monate im Ausland aufgehalten hat (BayVGH, B.v. 17.1.2017 - 10 ZB 15.1706 - juris Rn. 13). Ausschlaggebend ist daher eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls.
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Eine solche Gesamtbetrachtung hat das Verwaltungsgericht vorgenommen. Es ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Klägerin Deutschland ohne berechtigten Grund für einen nicht unerheblichen Zeitraum verlassen hat, als sie letztmals im November 2019 das Bundesgebiet verlassen hat, um in der Türkei zu heiraten. Das Zulassungsverbringen zeigt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit dieser tatrichterlichen Würdigung auf. Insofern kann vollumfänglich auf die Ausführungen (unter 1.a)) zu § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG Bezug genommen werden.
16
Damit kann letztlich dahinstehen, ob die Klägerin den unstreitigen Umstand, dass sie sich mittlerweile für (wesentlich) länger als ein Jahr in der Türkei aufhält, zu vertreten hat. Gleiches gilt für Frage, ob die selbständig tragenden Erwägungen des Verwaltungsgerichts zu Art. 7 RL 2003/109/EG, zu denen sich das Zulassungsvorbringen nicht verhält, zutreffend waren.
17
b) Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegt ebenfalls nicht vor.
18
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2020 - 10 ZB 19.2235 - Rn. 4; B.v. 14.2.2019 - 10 ZB 18.1967 - juris Rn. 10). Gemessen daran kommt den von der Klägerin aufgeworfenen Fragen keine grundsätzliche Bedeutung zu.
19
Die vom Zulassungsantrag aufgeworfenen Fragen, „ob die Rechtsstellung aus Art. 7 S. 1 ARB 1/80 bei türkischen Staatsangehörigen nur unter denselben Bedingungen erlöschen kann wie die eines Drittstaatsangehörigen, der im Besitz eines langfristigen Aufenthaltsrechts gem. der RL 2003/119/EG des Rates vom 25.11.2003 ist, welches in § 9a AufenthG im deutschen Recht umgesetzt wurde“ bzw. „ob (die) aktuelle Rechtsprechung des EuGH vom 20.01.2022, Rs. C-432/20 auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige, die ein Daueraufenthaltsrecht gem. Art. 7 S. 1 ARB 1/80 erworben haben, entsprechend anzuwenden ist“, sind entgegen der Auffassung der Klägerin im in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (oben unter 1. b)) dargelegten Sinne geklärt (BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 19.14 - juris Rn. 21). Mit dieser Entscheidung setzt sich die Klägerin nicht auseinander. Das Zulassungsvorbringen zeigt insofern nicht auf, dass die Frage(n) durch die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 20. Januar 2022 (C-432/20), die lediglich die Auslegung von Art. 9 der RL 2003/119/EG im Falle eines Drittstaatsangehörigen betraf und keine Aussagen zur Rechtsstellung nach ARB 1/80 enthielt, oder aus anderen Gründen erneut klärungsbedürftig geworden wäre(n).
20
Hinsichtlich der von der Klägerin weiter als grundsätzlich klärungsbedürftig angesehenen, tatsächlich aber offensichtlich mit Blick auf die konkrete Situation der Klägerin zugeschnittenen Fragen, „ob die Klageerhebung gegen einen Bescheid der Behörde, in de(m) festgestellt wird, dass der/die Aufenthaltstitel erloschen sind, einen berechtigten Grund darstellt, das Gerichtsverfahren über diese Frage im abzuwarten“ und (wenn diese Frage verneint werden sollte), „ob eine Antragstellung eines Visums zur Wiedereinreise ausreicht, wenn dieser Antrag von der deutschen Auslandsvertretung abgelehnt wird und hiergegen remonstriert wurde“, werden weder deren grundsätzliche Bedeutung, noch deren Entscheidungserheblichkeit dargelegt.
21
c) Verfahrensfehler im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO liegen ebenfalls nicht vor bzw. sind schon nicht hinreichend dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
22
Die Aufklärungsrüge nach § 86 Abs. 1 VwGO, wie sie die Klägerin im Hinblick auf ihre subjektiven Absichten bei der Ausreise aus dem Bundesgebiet erhoben hat, greift schon deswegen nicht durch, weil ein Tatsachengericht seine Aufklärungspflicht grundsätzlich dann nicht verletzt, wenn es von einer Beweiserhebung absieht, die ein anwaltlich vertretener Kläger in der mündlichen Verhandlung zu beantragen unterlassen hat (vgl. etwa BVerwG, B.v. 20.12.2012 - 4 B 20.12 - juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 11.10.2017 - 1 ZB 15.1773 - juris Rn. 3), es sei denn, eine Beweiserhebung hätte sich auch ohne Beweisantrag aufgedrängt. Im vorliegenden Fall wurde ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung kein Beweisantrag gestellt. Das Verwaltungsgericht konnte sich bei der Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts auf die objektiv feststellbaren Tatsachen zum Zeitpunkt der Ausreise sowie auf die telefonischen Angaben der Klägerin, zu der im Rahmen der mündlichen Verhandlung telefonischer Kontakt aufgenommen wurde, stützen. Dass sich dem Verwaltungsgericht angesichts dessen unabhängig von einem Beweisantrag eine weitere Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen, wird mit dem Zulassungsantrag nicht dargelegt.
23
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
24
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
25
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).