Inhalt

VGH München, Beschluss v. 28.07.2022 – 10 ZB 21.1095
Titel:

Ausweisung eines Sexualstraftäters in die Türkei

Normenketten:
VwGO § 108 Abs. 1, Abs. 2, § 124 Abs. 2, § 138 Nr. 3
AufenthG § 53
Leitsätze:
1. Dass Straftaten, welche der Anlassverurteilung zugrunde liegen, dem Ausländer aufgrund fehlender oder verminderter Einsichts- und Steuerungsfähigkeit subjektiv nicht vorwerfbar sein mögen, wirkt bei der Gefahrenprognose, bei der es ausschließlich darauf ankommt, ob der Ausländer auch künftig straffällig werden wird, nicht zu seinen Gunsten. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Gehörsverstoß ist allein dann anzunehmen, wenn der Betroffene alle ihm gegebenen prozessualen Möglichkeiten ergriffen hat, sich Gehör zu verschaffen. Nach Ablehnung eines Beweisantrags kann zu den prozessualen Möglichkeiten eines anwaltlich vertretenen Prozessbeteiligten eine Gegenvorstellung bzw. ein erneuter Beweisantrag zählen. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ergibt sich aus dem Zulassungsvorbringen der Beklagten in Bezug auf das von der Vorinstanz angenommene Bestehen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots und dessen Relevanz iRd Abschiebungsandrohung der geltend gemachte Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten, ist die Berufung gegen das Urteil in dem der Klage stattgebenden Teil zuzulassen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Wechselseitige Anträge auf Zulassung der Berufung, Ausweisung, Türkei, Besonders schwere Vergewaltigung, Richtigkeitszweifel, Verfahrensmangel, Ablehnung eines Beweisantrags, Obliegenheit zur Wahrnehmung aller prozessualen Möglichkeiten, Gegenvorstellung, Erneuter Beweisantrag, Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten, Abschiebungsverbot, Abschiebungsandrohung, Berufungszulassung, Ausländerrecht, Abschiebungsanordnung, Gewaltbereitschaft, Sexualdelikt, Wiederholungsgefahr, Gefahrenprognose, Beweisantrag, rechtliches Gehör, Darlegungsgebot
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 25.02.2021 – M 10 K 18.2153
Fundstelle:
BeckRS 2022, 19882

Tenor

I. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 25. Februar 2021− M 10 K 18.2153 - in dessen klageabweisendem Teil wird abgelehnt.
II. Auf den Antrag der Beklagten hin wird die Berufung gegen das vorgenannte Urteil in dessen der Klage stattgebendem Teil zugelassen.
III. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens bezüglich seines Zulassungsantrags zu tragen.
IV. Der Streitwert bezüglich des Zulassungsantrags des Klägers wird auf 5.000,-- Euro festgesetzt, der Streitwert bezüglich der zugelassenen Berufung der Beklagten wird vorsorglich auf 2.500,-- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine Klage gerichtet auf Aufhebung der mit Bescheid der Beklagten vom 6. April 2018 verfügten Ausweisung samt Nebenentscheidungen aus dem Bundesgebiet weiter, die vor dem Verwaltungsgericht im Wesentlichen − bis auf die in Nr. 3 des streitbefangenen Bescheides verfügte Abschiebungsanordnung beziehungsweise Abschiebungsandrohung, die das Verwaltungsgericht wegen eines angenommenen Abschiebungsverbots aufgehoben hat − erfolglos war. Im Gegensatz dazu wendet sich die Beklagte mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung gegen die vorgenannte Aufhebung der Nr. 3 des streitbefangenen Bescheides.
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1. Der zulässige Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem Zulassungsvorbringen, das allein der rechtlichen Überprüfung durch den Senat unterliegt, ergeben sich die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht.
3
a) Dies betrifft insbesondere den geltend gemachten Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
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aa) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (vgl. BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16).
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bb) Die Klägerseite macht geltend, weder die Beklagte noch das Verwaltungsgericht hätten berücksichtigt, dass der Kläger nach dem verwerteten Sachverständigengutachten kein dissozialer Mensch und auch nicht primär gewaltbereit sei und keinerlei kriminelle Identität habe, sondern ein intelligenter im Bildungsbereich ehrgeiziger Mensch sei, der sein FH-Studium erfolgreich absolviert habe und keine kriminalitätsförderliche Persönlichkeitsstörung aufweise. Das Verwaltungsgericht habe auch zu Unrecht angenommen, dass der Kläger bei seinen Taten einen ausgeklügelten Tatplan gefasst und perfide vorgegangen sei, weil die Opfer von dem Kläger nicht von langer Hand ausgekundschaftet worden seien. Dass der Kläger seine Taten an öffentlichen Orten begangen habe, zeuge entgegen dem Verwaltungsgericht nicht von Gleichgültigkeit gegenüber der Werteordnung, sondern davon, dass es sich um die Taten eines psychisch kranken und damit behandlungsbedürftigen Mannes handele. Soweit das Verwaltungsgericht mutmaße, dass die Steuerungsfähigkeit des Klägers noch auf absehbare Zeit gemindert sein werde, wäre es gehalten gewesen, ein weiteres psychiatrisches Sachverständigengutachten einzuholen, da ihm dazu die eigene Sachkunde fehlen dürfte, zumal es auf diverse Arztberichte, Gutachten und den persönlichen Eindruck abgestellt habe, ohne diese Quellen genau zu benennen oder seinen Eindruck und die Anknüpfungspunkte hierfür zu schildern.
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Außerdem könne nicht allein auf die Schwere der Taten und auf die Tatfolgen abgestellt werden. Zu berücksichtigen seien auch die aufgehobene beziehungsweise verminderte Einsichts- und oder Steuerungsfähigkeit des Klägers, was das Verwaltungsgericht und auch die Strafvollstreckungskammer unterlassen hätten. Ein Verweis auf die Strafzumessungserwägungen des Strafurteils genüge nicht, weil das Verwaltungsgericht insofern eine eigene Beurteilung hätte vornehmen müssen. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Eltern des Klägers hätten noch Angehörige oder Bekannte in der Türkei und könnten ihm Kontakte vermitteln, die ihm bei der Integration behilflich sein könnten, sei eine Mutmaßung und berücksichtige nicht die psychische Situation des Klägers, die ihn auf seinen engen Familienkreis angewiesen sein lasse. Der Kläger benötige Betreuungsleistungen durch nahe Familienangehörige, wie Vater, Mutter, Schwester und Bruder, die in der Türkei nicht gewährleistet werden könne. Der Grad seiner Schwerbehinderung liege bei 100 Prozent. Ergänzend werde auf die Ausführungen in erster Instanz Bezug genommen.
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cc) Damit sind keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils aufgezeigt. Eine substantiierte Auseinandersetzung mit den Feststellungen und Erwägungen des Verwaltungsgerichts ist dem Zulassungsvorbringen nicht zu entnehmen.
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Das Verwaltungsgericht hat im vorliegenden Fall eine von dem Kläger weiterhin ausgehenden Wiederholungsgefahr für die Schutzgüter der sexuellen Selbstbestimmung und der körperlichen und physischen Integrität bejaht (vgl. UA S. 13 ff.). Bei dieser Gefahrenprognose hat es darauf abgestellt, dass nach dem von der zuständigen Strafvollstreckungskammer in Auftrag gegebenen fachärztlichen Sachverständigengutachten von dem Kläger „weiterhin erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten“ wären und dass er zudem nach Auffassung des I.-A.-Klinikums „weiterhin zu der Anlassverurteilung vergleichbaren Straftaten in der Lage“ wäre. Daneben hat es − unter anderem − verwertet, dass der Kläger bewusst eine Situation ausgenutzt habe, in der sein Opfer besonders hilflos gewesen und keine Ausweichmöglichkeit besessen habe, dass er innerhalb kürzester Zeit mehrere Taten an demselben Tatort begangen habe beziehungsweise habe begehen wollen, was auf eine ausgeprägte Neigung zur Begehung von Sexualdelikten schließen lasse, und dass die Taten von der beginnenden Symptomatik der Schizophrenie begünstigt gewesen wären, die mittlerweile voll ausgebrochen wäre. Schließlich hat es darauf hingewiesen, dass angesichts der betroffenen Schutzgüter die Schwelle für eine konkrete Rückfallgefahr nicht zu hoch angesetzt werden dürfte und dass es an einem positiven Empfangsraum für den Kläger fehle. All dem setzt die Klägerseite keine substantiierten Einwände entgegen.
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Insbesondere die Schilderungen der Klägerseite bezüglich der Persönlichkeit und der Eigenschaften des Klägers sind nicht dazu angetan, die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts in Frage zu stellen. So bezieht sich die Klägerseite zwar auf das verwertete Sachverständigengutachten, spart dabei aber die dort getroffene Feststellung in der von ihr zitierten Passage aus, wonach die spezifischen kriminologischen Eigenschaften der beiden Übergriffe gerade für eine leichte Wiederholbarkeit sprechen würden. Auch blendet die Klägerseite aus, dass das Verwaltungsgericht bei der Beurteilung des Tatplans und der Vorgehensweise den Umstand verwertet hat, dass er − unabhängig von der individuellen Person der Benutzerin der Toilettenkabine − in der Damentoilette gelauert habe. Die Wertung des Verwaltungsgerichts, dass die Steuerungsfähigkeit des Klägers auf absehbare Zeit als gemindert anzusehen ist, ist ohne Weiteres den von dem Verwaltungsgericht zitierten Quellen zu entnehmen (vgl. Sachverständigengutachten v. 30.5.2020, S. 57: „absehen, wie lange … noch in der Klinik sein muss“ u. „für die kommenden 2 bis 3 Jahre“). Der Eindruck, den der Kläger nach außen hin erweckt, ergibt sich aus den Urteilsgründen (vgl. UA S. 21: lethargisch, teilnahmslos und abwesend“) sowie aus den in Bezug genommenen Unterlagen (vgl. Sachverständigengutachten v. 24.5.2020, S. 21: „stark übergewichtiger … Mann“ „Konzentration im Gespräch ließ insgesamt sehr rasch nach“, „erschöpft“, „wurden die Antworten insgesamt noch einsilbiger als ohnehin schon“, „beträchtliche thematische Verarmung“, „Gespräch gestaltete sich schleppend“, „eher eine innere gedankliche Leere im Kopf vorherrscht“ u. S. 22: „eigentümlich in sich zurückgezogen“ „Antriebsreduktion, beträchtliche Reduktion der alltäglichen Belastbarkeit, affektive Nivellierung und gedankliche Verarmung“ sowie Sachverständigengutachten v. 23.5.2019, S. 4: „passiv“, „wortkarg“, „einsilbig“, „Affektverflachung“. „formalgedankliche und psychomotorische Verlangsamung“ sowie Behördenakte, Bl. 236 f.). Weiterer Ausführungen des Verwaltungsgerichts hierzu bedurfte es nicht.
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Das Verwaltungsgericht hat auch nicht, wie die Klägerseite nahelegt, allein die Strafzumessungserwägungen des Strafurteils wiederholt, sondern eine eigene Gefahrenprognose vorgenommen, die sich nicht allein an der Schwere der Taten und der Tatfolgen orientiert (s.o.). Dass Straftaten, welche der Anlassverurteilung zugrunde liegen, dem Kläger aufgrund fehlender oder verminderter Einsichts- und Steuerungsfähigkeit subjektiv nicht vorwerfbar sein mögen, wirkt bei der Gefahrenprognose nicht zu seinen Gunsten. Nach § 53 AufenthG ist nicht maßgeblich, ob der betroffene Ausländer die öffentliche Sicherheit schuldhaft gefährdet hat, sondern es kommt ausschließlich darauf an, ob er auch künftig weiterhin straffällig werden wird (vgl. BayVGH, B.v 16.4.2020 − 10 ZB 20.536 - juris Rn. 9; B.v. 1.2.2019 − 10 ZB 18.2455 - juris Rn. 7).
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Nicht durchdringen kann die Klägerseite mit dem gegen die Interessenabwägung des Verwaltungsgerichts gerichteten Einwand, dass die Annahme, die Eltern des Klägers könnten ihm in der Türkei Kontakte vermitteln, die ihm bei der Integration behilflich sein könnten, eine Mutmaßung sei. Die Klägerseite hätte angesichts der in dem streitbefangenen Bescheid unwidersprochen angeführten konkreten Umstände, darunter der mehrfachen Aufenthalte des Klägers in der Türkei in den letzten Jahren vor Erlass des Bescheides sowie der von Klägerseite signalisierten Bereitschaft des Vaters des Klägers, zusammen mit diesem wieder in die Türkei umzusiedeln (vgl. Behördenakte, Bescheid v.6.4.2018, Bl. 249), und auch des klägerischen Vorbringens selbst (vgl. VG München, Gerichtsakte, Klagebegründung v. 2.5.2018, Bl. 2: „Das gesamte nahe Verwandtenumfeld lebt in … in der Bundesrepublik“ - Unterstreichung d. Senats), dartun müssen, aus welchen Gründen die Möglichkeit einer Kontaktvermittlung und Integrationsunterstützung im vorliegenden Fall nicht bestehen soll. Eine solche Annahme entspricht im Übrigen bei Eltern, die aus der Türkei stammen und nach Deutschland eingewandert sind, sowie bei Fehlen entgegenstehender objektiver Anhaltspunkte grundsätzlich der allgemeinen Lebenserfahrung.
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Ins Leere geht die Bezugnahme der Klägerseite auf ihre Ausführungen in erster Instanz. Es ist die Obliegenheit der Klägerseite, nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Umgekehrt ist es nicht Aufgabe des Senats, aufgrund pauschaler Bezugnahmen auf Entscheidungs- und Aktenbestandteile in anderen Verfahren als dem Zulassungsverfahren die dort enthaltenen, gegebenenfalls für das Zulassungsverfahren relevanten Teile herauszufiltern und in eine konkrete Beziehung zu den tragenden Gründen der angegriffenen Entscheidung zu setzen
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b) Nicht durchdringen kann die Klägerseite mit dem ebenfalls − der Sache nach geltend − gemachtem Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO in Form der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör.
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aa) Das prozessuale Grundrecht des Anspruchs auf rechtliches Gehör, das verfassungsrechtlich in Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 91 Abs. 1 BV sowie einfachgesetzlich in § 108 Abs. 2 VwGO garantiert ist, sichert den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung, so dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (vgl. BVerfG, B.v. 30.4.2003 - 1 PBvU 1/02 - BVerfGE 107, 395 <409> = juris Rn. 42). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das Vorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Die Nichtberücksichtigung oder Ablehnung eines als sachdienlich und erheblich anzusehenden Beweisantrages kann einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör und damit einen absoluten Revisionsgrund im Sinne von § 138 Nr. 3 VwGO darstellen. Dies ist indes nur dann der Fall, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (vgl. BVerwG, B.v. 20.12.2010 - 5 B 38/10 - juris Rn. 18 m.w.N.). Über einen in der mündlichen Verhandlung unbedingt gestellten Beweisantrag muss in der mündlichen Verhandlung entschieden werden. Ein Gehörsverstoß ist allerdings allein dann anzunehmen, wenn der Betroffene alle ihm gegebenen prozessualen Möglichkeiten ergriffen hat, sich Gehör zu verschaffen. Es muss substantiiert und nachvollziehbar aufgezeigt werden, dass diesem Gebot Rechnung getragen wurde beziehungsweise dass insoweit keine zumutbare Möglichkeit bestand (vgl. BVerfG, B.v. 10.2.1987 − 2 BvR 314/86 - BVerfGE 74, 220 <225> = juris Rn. 14 m.w.N.; BVerwG, B.v. 13.1.2022 - 5 PB 9/21 - juris Rn. 2; B.v. 30.1.2020 - 5 PB 2.19 − juris Rn. 3; B.v. 23.5.2019 - 5 PB 7.18 − juris Rn. 3 m.w.N.). Nach Ablehnung eines Beweisantrages können zu den prozessualen Möglichkeiten, einen derartigen Gehörsverstoß abzuwenden, im Fall eines anwaltlich vertretenen Prozessbeteiligten auch eine Gegenvorstellung beziehungsweise ein erneuter Beweisantrag zählen (vgl. VGH BW, B.v. 8.4.2022 - A 12 S 3565/21 - juris Rn. 33 ff. m.w.N.).
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bb) Der Bevollmächtigte des Klägers hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 3. September 2020 erstmals einen Schriftsatz vom 2. September 2020 mit Beweisankündigungen vorgelegt und dann − unter anderem - folgende unbedingte Beweisanträge gestellt:
„…
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3. Zum Beweis der Tatsache, dass eine hinreichende psychotherapeutische oder ärztliche Weiterbehandlung in der Türkei nicht möglich ist, ist eine Stellungnahme des Auswärtigen Amts einzuholen.
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4. Zum Beweis der Tatsache, dass eine hinreichende psychotherapeutische Behandlung in der Türkei auch deshalb für den Kläger nicht erfolgreich durchgeführt werden kann, weil ihm dort das für die Therapie erforderliche Sprachgefühl fehlt, ist ein fachärztliches Gutachten einzuholen.“
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Das Verwaltungsgericht hat laut dem Sitzungsprotokoll über die mündliche Verhandlung nach einer Unterbrechung zur Zwischenberatung in der mündlichen Verhandlung im Beschlusswege dem Beweisantrag Nr. 3 stattgegeben, dagegen die übrigen Beweisanträge, darunter auch den Beweisantrag Nr. 4, abgelehnt. Zur Begründung der Ablehnung des Beweisantrags Nr. 4 hat es angeführt, dass die Frage nach einem fehlenden Sprachgefühl des Klägers dem Beweis nicht zugänglich wäre. Im Übrigen sei die Frage der Behandelbarkeit im Beweisantrag Nr. 3 mit umfasst. Die Sitzungsniederschrift wurde an den Bevollmächtigten versandt (vgl. VG München, Gerichtsakte, Sitzungsprotokoll u. richterliche Verfügung v. 3.9.2020). Mit Auskunft vom 22. September 2020 hat das Auswärtige Amt die aufgrund des Beweisbeschlusses des Verwaltungsgerichts angeordnete Stellungnahme zum Beweisantrag Nr. 3 übermittelt. Hierzu hat die Klägerseite mit Schriftsätzen vom 5. Oktober 2020 sowie vom 21. Oktober 2020 Stellung genommen. Mit Schriftsatz vom 23. November 2020 hat die Klägerseite dem Verwaltungsgericht mitgeteilt, dass sie auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung verzichten würde (vgl. VG München, Gerichtsakte, Kläger, Schriftsatz v. 23.11.2020).
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cc) Die Klägerseite rügt in der Zulassungsschrift im Wesentlichen, dass entgegen dem Verwaltungsgericht die Frage des fehlenden Sprachgefühls dem Beweis zugänglich sei (unter Verweis auf d. Nr. 4 d. Beweisanträge i.d. Schriftsatz v. 2.9.2020). Das Verwaltungsgericht hätte Beweise erheben müssen, dass der Kläger aufgrund seiner psychischen Erkrankung nicht in der Lage wäre, das für eine Weiterbehandlung erforderliche Sprachgefühl für die türkische Sprache zu entwickeln, anstatt (erg.: in den Urteilsgründen - Anm. d. Senats) darauf abzustellen, dass er noch jung sei und deshalb in der Lage sein dürfte, die türkische Sprache zu erlernen. Nach Auffassung der Klägerseite wäre darüber hinaus zudem ein erneutes psychiatrisches Sachverständigengutachten einzuholen gewesen, was hiermit vorsorglich beantragt werde. Das Sachverständigengutachten vom 24. Mai 2020 befasse sich lediglich mit der Frage der Fortdauer der Unterbringung und der Entlassfähigkeit zum Begutachtungszeitpunkt, aber nicht mit der Frage, ob er in der Türkei überhaupt überlebensfähig sein werde. Die von dem Verwaltungsgericht eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 22. September 2020 möge zwar darüber Auskunft geben, welche Behandlungsmöglichkeiten allgemein in der Türkei bestünden, allerdings fehle der konkrete Bezug zu den Bedürfnissen des Klägers.
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dd) Gemessen an den vorgenannten Maßstäben genügen die Darlegungen der Klägerseite den Anforderungen des Darlegungsgebots für einen Verfahrensfehler nicht.
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Dabei ist der Klägerseite zuzugeben, dass der zweite Teil der für die Ablehnung des Beweisantrags Nr. 4 herangezogenen Gründe nicht greift. Der Beweisantrag Nr. 4 ist, wie die Klägerseite in der Zulassungsschrift rügt, der Sache nach nicht von Beweisantrag Nr. 3 umfasst. Allerdings ist der erste Teil der für die Ablehnung des Beweisantrags tragenden Gründe bei Auslegung des dort verwendeten Begriffs des Sprachgefühls als einem subjektiven Empfinden des Klägers nicht zu beanstanden und von der Klägerseite auch nicht substantiiert angegriffen. Die Klägerseite hat bei Stellung des Beweisantrags und auch zuletzt in der Zulassungsschrift nicht erläutert, was sie unter dem Begriff „Sprachgefühl“ versteht. Dabei wird Sprachgefühl teils definiert als das intuitive, unreflektierte und unbewusste Erkennen dessen, was sprachlich als korrekt (in Wortwahl und Grammatik) beziehungsweise als (situativ und kontextuell) angemessen oder aber als falsch beziehungsweise als unangemessen empfunden wird (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Sprachgef%C3%BChl). Teils wird es zusammengefasst als das Gefühl, der Sinn, für den richtigen und (im Sinne einer gültigen Norm) angemessenen Sprachgebrauch (vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/Sprachgefuehl). Ein derartiges subjektives Empfinden als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des Betroffenen selbst sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung schließen. Das Verwaltungsgericht unterliegt insoweit der freien Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Es ist weder dargetan noch anderweitig ersichtlich, dass und inwieweit das Beweismittel eines Sachverständigengutachtens hierüber Aufschluss geben könnte.
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Nicht durchdringen kann die Klägerseite mit der Verfahrensrüge auch, soweit man den Begriff des Sprachgefühls als eine objektive Fähigkeit im Sinne der Sprachkompetenz beziehungsweise der Lernfähigkeit auslegt. So ist eine derartige objektive Fähigkeit zwar grundsätzlich dem Beweis durch ein Sachverständigengutachten zugänglich. Allerdings führt die unter dieser Prämisse fehlende Tragfähigkeit der vom Verwaltungsgericht herangezogenen Begründung für die gerügte Ablehnung des Beweisantrags Nr. 4 ebenfalls nicht zu der Zulassung nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO, weil die Zulassungsschrift nicht substantiiert und nachvollziehbar aufzeigt, dass der Kläger insofern alle möglichen und zumutbaren prozessualen Möglichkeiten genutzt hat, sich Gehör zu verschaffen, beziehungsweise dass bereits keine derartigen Möglichkeiten bestanden. Tatsächlich offenbart die Zulassungsschrift, dass das Gegenteil der Fall ist und der Kläger seinen prozessualen Obliegenheiten insofern nicht nachgekommen ist.
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Dabei kommt es nicht darauf an, dass der Beweisantrag wegen fehlenden Sprachgefühls des Klägers, welcher der Sohn von E. ist, die aus der Türkei stammen und nach Deutschland eingewandert sind, sich selbst nach den unwidersprochenen Feststellungen in dem streitbefangenen Bescheid in den letzten Jahren mehrfach vor dem Erlass des streitbefangenen Bescheides in der Türkei aufgehalten hat und im Übrigen im Bundesgebiet in der Lage war, ein Fachhochschulstudium zu absolvieren (s.o.), erkennbar unsubstantiiert ist. Gleiches gilt bei dieser Auslegung auch unter dem Gesichtspunkt, dass die Klägerseite nicht dargelegt hat, dass und inwieweit - unter Berücksichtigung internationaler Standards für die Diagnose und die Therapie von Krankheiten - die Weiterbehandlung von der Entwicklung zusätzlichen türkischen Sprachgefühls abhängt, wie in dem Beweisantrag vorausgesetzt.
24
Die Verfahrensrüge in Form der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in Bezug auf Beweisantrag Nr. 4 scheitert jedenfalls daran, dass die Klägerseite nicht von der Möglichkeit der Gegenvorstellung Gebrauch gemacht und bezogen auf die mitgeteilte Ablehnungsbegründung unter Berücksichtigung des Beweisergebnisses zum Beweisantrag Nr. 3 die aus seiner Sicht maßgeblichen Einwände konkret aufgezeigt hat und außerdem auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung verzichtet und sich damit der Möglichkeit begeben hat, nach Erläuterung ihrer Einwände einen erneuten Beweisantrag zu stellen.
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Dass eine Gegenvorstellung oder ein erneuter Beweisantrag im vorliegenden Fall unmöglich oder unzumutbar, mithin entbehrlich, gewesen wäre, ist weder dargelegt noch ersichtlich. Der anwaltlich vertretene Kläger hatte mündlich und schriftlich Kenntnis von der Ablehnungsbegründung und der dort getroffenen subjektiven Auslegung des Begriffs des Sprachgefühls (s.o.), er hat mit Schriftsätzen vom 5. Oktober 2020 sowie vom 21. Oktober 2021 zu der Auskunft des Auswärtigen Amtes Stellung genommen und dann mit eigenem Schriftsatz vom 23. November 2020 auf eine nochmalige mündliche Verhandlung verzichtet (s.o.). Insbesondere ist auch nicht davon auszugehen, dass sich das Verwaltungsgericht unumstößlich festgelegt hatte, so dass jede weitere Überzeugungsarbeit der Klägerseite ex ante vergebens gewesen wäre. Das Verwaltungsgericht hat einem der vier kurzfristig in der mündlichen Verhandlung gestellten und nicht im Vorhinein angekündigten Beweisanträge stattgegeben.
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Nicht durchdringen kann die Klägerseite schließlich mit der Rüge, das Verwaltungsgericht hätte erneut ein Sachverständigengutachten „zu der Überlebensfähigkeit des Klägers“ einholen müssen, was vorsorglich beantragt werde. Dies hat sie indes nicht, insbesondere nicht in Beweisantrag Nr. 4 - unabhängig von den Erfolgsaussichten eines solchen Antrags - beantragt. Das Zulassungsverfahren dient der Prüfung der geltend gemachten Zulassungsgründe, nicht der Nachholung von nicht gestellten Beweisanträgen.
27
2. Der zulässige Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung, soweit das Verwaltungsgericht in dem angegriffenen Urteil den streitbefangenen Bescheid der Beklagten aufgehoben hat, ist dagegen begründet. Aus dem Zulassungsvorbringen, das allein der rechtlichen Überprüfung durch den Senat unterliegt, ergibt sich in Bezug auf das angenommene Bestehen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots sowie dessen Relevanz im Rahmen der Abschiebungsandrohung jedenfalls der geltend gemachte Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, wonach die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels demjenigen zur Last fallen, der das Rechtsmittel eingelegt hat. Rechtsmittel in diesem Sinne ist auch der Berufungszulassungsantrag.
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4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und § 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit Nr. 8.2 des Streitwertkatalogs beziehungsweise § 6 Abs. 1 Satz 2 GKG in Verbindung mit Nr. 8.3. des Streitwertkatalogs entsprechend.
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5. Soweit der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt wird, ist dieser Beschluss nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar. Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts in dem klageabweisenden Teil nach § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO rechtskräftig.
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In Bezug auf die Zulassung der Berufung der Beklagten gilt folgende