Inhalt

VGH München, Urteil v. 10.02.2022 – 12 BV 20.217
Titel:

Örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers bei verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalten

Normenkette:
SGB VIII § 86 Abs. 5 S. 2 Alt. 2, Abs. 6, § 89a
Leitsatz:
Besitzen die nichtsorgeberechtigten Elternteile eines Hilfeempfängers zu Beginn einer Jugendhilfemaßnahme verschiedene gewöhnliche Aufenthalte, bleibt nach § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alt SGB VIII auch nach der Ergänzung der Norm um den Passus „in diesen Fällen“ durch Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Verwaltungsvereinfachung in der Kinder- und Jugendhilfe (KJVVG vom 29.8.2013, BGBl. I S. 3464) die bisherige örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers bestehen, wenn der maßgebliche Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt nach Beginn der Maßnahme in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Jugendhilfeträgers verlegt (im Anschluss an BVerwG, U.v. 14.11.2013 - 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 = BeckRS 2014, 45918). (Rn. 32 – 36)
Schlagworte:
Kostenerstattungsstreit zwischen Jugendhilfeträgern, Statische Zuständigkeit, Nichtsorgeberechtigte Eltern, Verschiedene gewöhnliche Aufenthalte bei Leistungsbeginn, Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts, statische Zuständigkeit, nichtsorgeberechtigte Eltern, verschiedene gewöhnliche Aufenthalte bei Leistungsbeginn
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 26.11.2019 – Au 3 K 17.1675
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2022, 1940

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 26. November 2019 (Az.: Au 3 K 17.1675) wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Der Streitwert wird auf 15.887,16 € festgesetzt.
V. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

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Die beteiligten Landkreise streiten über die Erstattung der Kosten der gegenüber der 1999 geborenen Hilfeempfängerin Laura Madeleine G. im Zeitraum vom 22. März 2014 bis 29. November 2016 erbrachten Jugendhilfeleistung in Form der Vollzeitpflege bei Familie S. nach §§ 27, 33 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII).
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1. Die Mutter der Hilfeempfängerin ließ diese bei Familie S., ihren vormaligen Pflegeeltern, am 30. Januar 2004 allein zurück und war in der Folge unbekannten Aufenthalts. Am 7. April 2004 meldete sie sich im Landkreis Ravensburg an. Am 28. Mai 2004 wurde ihr das Sorgerecht für Laura Madeleine entzogen und dem Jugendamt Biberach als Amtsvormund übertragen. Am gleichen Tag bewilligte das Jugendamt für Laura Madeleine Vollzeitpflege bei Familie S. in Laupheim, Landkreis Biberach. In der Folgezeit meldete sich die Mutter der Hilfeempfängerin rückwirkend zum 1. Januar 2006 im Landkreis Freudenstadt an. Von dort verzog sie am 15. September 2006 nach Heidelberg, am 1. Juni 2008 wiederum in den Bereich des Landkreises Biberach und am 22. März 2014 nach Dietmannsried im Landkreis Oberallgäu, von wo aus sie am 29. November 2016 erneut in den Landkreis Biberach zurückkehrte. Der nicht sorgeberechtigte Vater der Hilfeempfängerin war im Januar 2004 in der JVA Heimsheim inhaftiert, hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Mai 2004 im Landkreis Ulm und verzog ab 1. Mai 2007 in den Bodenseekreis.
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2. Mit Schreiben vom 25. März 2015 machte der Kläger gegenüber dem Beklagten die Erstattung der für Laura Madeleine erbrachten Jugendhilfekosten geltend. Er erbringe seit 1. März 2006 Jugendhilfe in Form der Vollzeitpflege bei Familie S., Laupheim. Die örtliche Zuständigkeit richte sich seit dem 30. Januar 2006 nach § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII und liege beim Kläger. Es werde um Anerkennung der Kostenerstattungsverpflichtung nach § 89a Abs. 1 SGB VIII ab 22. März 2014 gebeten. Nach § 86 Abs. 3, Abs. 2 Satz 2 SGB VIII wäre ohne Anwendung von § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII der Beklagte für die Erbringung der Jugendhilfe örtlich zuständig gewesen.
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Dieser lehnte die Erstattung der Jugendhilfekosten mit Schreiben vom 29. Mai 2015 ab. Nach dem Wiederauftauchen der Kindsmutter 2004 habe sich die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers nach § 86 Abs. 3 in Verbindung mit § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII bestimmt. Örtlich zuständig sei danach der Landkreis Ravensburg gewesen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 86 Abs. 5 Satz 2, 2. Alternative SGB VIII (Urteil vom 14.11.2013 - 5 C 34.12) sei diese Zuständigkeit trotz der weiteren Umzüge der Kindsmutter bestehen geblieben. Zwar sei nach § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII nunmehr der Kläger aufgrund der Fortdauer der Unterbringung in einer Pflegefamilie örtlich zuständig geworden. Ihm sei jedoch nach § 89a Abs. 1 SGB VIII allein der Landkreis Ravensburg zur Kostenerstattung verpflichtet. Erneute Aufforderungen zur Kostenerstattung lehnte der Beklagte mit Schreiben vom 11. September 2015 und 10. August 2017 jeweils ab. Zwischenzeitlich war die Mutter der Hilfeempfängerin am 29. November 2016 erneut in den Zuständigkeitsbereich des Klägers verzogen.
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3. Der daraufhin am 9. November 2017 erhobenen Klage gab das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 26. November 2019 vollumfänglich statt und verurteilte den Beklagten, dem Kläger Jugendhilfekosten in Höhe von 15.877,16 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 9. November 2017 zu erstatten.
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Nachdem sich die Hilfeempfängerin mehr als zwei Jahre bei der Pflegefamilie S. aufgehalten habe, sei der Kläger nach § 86 Abs. 6 SGB VIII örtlich zuständig geworden. Aus § 89a Abs. 1, Abs. 3 SGB VIII resultiere in diesem Fall ein Kostenerstattungsanspruch gegenüber demjenigen Jugendhilfeträger, der ohne die Anwendung von § 86 Abs. 6 SGB VIII örtlich zuständig gewesen wäre.
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In der Vergangenheit sei das Bundesverwaltungsgericht in mehreren Entscheidungen davon ausgegangen, dass § 86 Abs. 5 SGB VIII als umfassende Regelung bei verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalten der Eltern alle Fallgestaltungen betreffe, bei denen die Eltern des Hilfeempfängers oder der Hilfeempfängerin nach Beginn der Leistung verschiedene Aufenthalte besäßen. Die zeitliche Abfolge der zuständigkeitsbegründenden Kriterien habe dagegen keine Rolle gespielt. § 86 Abs. 5 SGB VIII habe daher auch in den Fällen eingegriffen, in denen die Eltern bereits bei Leistungsbeginn verschiedene gewöhnliche Aufenthalte innegehabt hätten.
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Dieser weiten, in der Literatur kritisierten Auslegung sei durch Einfügung der Worte „in diesen Fällen“ in § 85 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII durch das Gesetz zur Verwaltungsvereinfachung in der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz - KJVVG vom 29. August 2013, in Kraft getreten am 1. Januar 2014) die Grundlage entzogen worden. § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alt. SGB VIII sei nunmehr dahingehend zu verstehen, dass die bisherige Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers nur dann bestehen bleibe, wenn die Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte gemäß § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII erst nach Beginn der Leistung begründet hätten.
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Daran ändere auch das nach der Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetzes ergangene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. November 2013 (Az. 5 C 34.12) zur früheren Rechtslage nichts. Zwar beinhalte diese Entscheidung bereits eine grundlegende Änderung der Rechtsprechung dahingehend, dass § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII nicht mehr als umfassende Regelung für verschiedene gewöhnliche Aufenthalte der Elternteile aufgefasst werden könne, sondern nur noch auf Fallgestaltungen Anwendung finde, in denen Elternteile nach Leistungsbeginn erstmals einen unterschiedlichen gewöhnlichen Aufenthalt begründen (Rn. 18). Demgegenüber werde eine „gesonderte Betrachtung“ von § 86 Abs. 2 Satz 2 2. Alt. SGB VIII damit begründet, dass dem Wortlaut von § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII nicht zu entnehmen sei, welche Merkmale des Satzes 1 in Bezug genommen würden und § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alt. SGB VIII sich daher nach Sinn und Zweck allein auf das Merkmal „nach Beginn der Leistung“, nicht hingegen auf das „Begründen“ beziehe (Rn. 23 f.). Eine derart differenzierende Auslegung des Satzes 2 sei durch die Gesetzesänderung nunmehr unmöglich geworden. Das explizit aufgeführte Merkmal „in diesen Fällen“ beziehe sich eindeutig auf beide Alternativen des Satzes 2 und könne deswegen nicht unterschiedlich verstanden werden. Durch die Ergänzung habe der Gesetzgeber klargestellt, dass teleologische Erwägungen nicht mehr entgegen der grammatikalischen und systematischen Auslegung zu einer gesonderten Betrachtung führen könnten, sondern insoweit eine umfassende Bezugnahme habe erfolgen sollen. Die nunmehr einheitlich vorzunehmende Auslegung von § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII ergebe, dass eine Versteinerung der Zuständigkeit nur eintrete, wenn sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen von § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII vorlägen. Nur diese Auslegung entspreche dem Willen des Gesetzgebers, der sich ausdrücklich gegen die Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts gewandt habe.
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4. Mit der vom Verwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Berufung trägt der Beklagte vor, er sei dem Kläger nicht zur Kostenerstattung verpflichtet. Die Kostenerstattungspflicht treffe vielmehr der Landkreis Ravensburg, da zu Beginn der Hilfe die Mutter der Hilfeempfängerin dort ihren Wohnsitz gehabt habe, während der Vater zu diesem Zeitpunkt in der JVA Heimsheim untergebracht war. Zu diesem Zeitpunkt habe sich die Zuständigkeit nach § 86 Abs. 3 in Verbindung mit § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII bestimmt. Mit dem Umzug der Mutter der Hilfeempfängerin in den Landkreis Freudenstadt am 1.1.2006 sei es jedoch nach § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alt. SGB VIII unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 14.11.2013 - 5 C 34.12) bei der Zuständigkeit des Landkreises Ravensburg geblieben. Dem Bundesverwaltungsgericht dürfte die beabsichtigte Einfügung des Passus „in diesen Fällen“ in § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII im Entscheidungszeitpunkt bekannt gewesen sein. Gleichwohl habe es daran festgehalten, dass § 86 Abs. 5 Satz 2. 2. Alt. SGB VIII in allen Fallgestaltungen Anwendung finde, in denen die Eltern des Hilfeempfängers bei fehlendem Sorgerecht nach Beginn der Leistung verschiedene Aufenthalte besitzen. Es werde nicht darauf abgestellt, dass die Eltern erstmalig unterschiedliche gewöhnliche Aufenthalte begründen würden. Es reiche vielmehr aus, wenn die Eltern des Hilfeempfängers bereits bei Hilfebeginn unterschiedliche Aufenthalte innegehabt und während weiterer Umzüge auch beibehalten hätten. Aus Sicht des Beklagten mache es keinen Sinn, die Zuständigkeit wandern zu lassen, da die nichtsorgeberechtigten Eltern nichts zur Hilfe beitragen könnten. Dem Bundesverwaltungsgericht sei daher beizupflichten, dass es bei der Zuständigkeit des Ausgangsjugendamts verbleibe. Der Beklagte beantragt daher,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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5. Demgegenüber verteidigt der Kläger das angefochtene Urteil und beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Zur Begründung verweist er auf das für zutreffend erachtete verwaltungsgerichtliche Urteil. § 86 Abs. 5 SGB VIII als zuständigkeitsbegründende Norm sei im vorliegenden Fall nicht einschlägig.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung des Beklagten, über die im Einverständnis der Beteiligten nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, ist begründet.
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Dem Kläger steht der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch nach § 89a Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 SGB VIII nicht zu, da der Beklagte ohne die Anwendung von § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII für den in Rede stehenden Jugendhilfefall nicht örtlich zuständig geworden wäre. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts folgt aus den Wechseln des gewöhnlichen Aufenthalts der nichtsorgeberechtigten Mutter der Hilfeempfängerin im vorliegenden Fall keine dynamische, gleichsam „mitwandernde“ örtliche Zuständigkeit der Jugendhilfeträger. Der Senat folgt vielmehr der Auslegung von § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alternative SGB VIII im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. November 2013 (5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 = BeckRS 2014, 45918), wonach bei der 2. Fallgruppe in § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII - fehlendes Sorgerecht bei beiden Elternteilen - lediglich auf das „Bestehen“ verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der Elternteile Bezug genommen wird, nicht hingegen auf das „Begründen“ verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte nach Leistungsbeginn (1.). Die an der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts im Schrifttum und in der Rechtsprechung geäußerte Kritik greift nach hiesiger Ansicht nicht durch (2.). Schließlich hat entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts die Ergänzung von § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alternative SGB VIII um den Zusatz „in diesen Fällen“ durch das Gesetz zur Verwaltungsvereinfachung in der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfevereinfachungsgesetz - KJVVG) vom 29.8.2013 (BGBl. I, 3464) eine der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts folgende Gesetzesauslegung nicht ausgeschlossen (3.).
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1. § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alternative SGB VIII ist dahingehend auszulegen, dass die bisherige örtliche Zuständigkeit eines Jugendhilfeträgers dann als „statische“ Zuständigkeit bestehen bleibt, wenn die Personensorge für den Hilfebedürftigen keinem Elternteil zusteht und die Elternteile nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besitzen. Dies wird vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 14. November 2013 (5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 22 ff.) unter Abgrenzung zu § 86 Abs. 5 Satz 2 1. Alternative SGB VIII wie folgt begründet:
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„§ 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII, der die Fälle des fehlenden Sorgerechts beider Elternteile nach Leistungsbeginn regelt, findet auch dann Anwendung, wenn die Elternteile nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besitzen. Anders verhält es sich für die Fälle des gemeinsamen Sorgerechts der Eltern, weil § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII dahin auszulegen ist, dass die Vorschrift auf die Voraussetzungen des § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII in vollem Umfang Bezug nimmt und damit auch ein (erstmaliges) Begründen verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte nach Leistungsbeginn voraussetzt.
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Das Bundesverwaltungsgericht ist bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass sich § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII allein auf das Merkmal „nach Beginn der Leistung“ und nicht auf das Wort „Begründen“ im Sinne des § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII bezieht. Die Regelung über das fehlende Sorgerecht beider Elternteile (§ 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII) erfasst mithin alle Fallgestaltungen, in denen die Eltern nach Leistungsbeginn verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besitzen (…). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
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Dem Wortlaut des Satzes 2 des § 86 Abs. 5 SGB VIII ist bei gesonderter Betrachtung nicht zu entnehmen, welche Merkmale des Satzes 1 der Vorschrift in Bezug genommen werden. Der Gesetzgeber hat darauf verzichtet, die Tatbestandsmerkmale des Satzes 1 ganz oder teilweise in Satz 2 zu wiederholen. Zwar spricht die systematische Stellung des Satzes 2 innerhalb des Absatzes 5 in gewichtiger Weise dafür, dass sich dieser nachfolgende Satz 2 auf sämtliche Tatbestandsmerkmale des vorangehenden Satzes 1 bezieht. Allerdings ist dies nicht zwingend. Vielmehr kann etwa der Sinn und Zweck einer Vorschrift mit noch größerem Gewicht eine Auslegung des nachfolgenden Satzes dahin gebieten, dass dieser nur teilweise an die Voraussetzungen des vorangehenden Satzes anknüpft. So liegt es hier.
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Der § 86 SGB VIII zugrundeliegenden Konzeption liefe es zuwider, den Geltungsbereich des Absatzes 5 Satz 2 Alt. 2 durch eine entsprechende Inbezugnahme nicht nur des Merkmals „nach Beginn der Leistung“ im Sinne des Absatzes 5 Satz 1 Halbs. 1, sondern auch der darin vorgesehenen weiteren Anknüpfungstatsache der erstmaligen Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der Elternteile auf die zuvor allein von Absatz 1 Satz 1 erfassten Fallgestaltungen zu reduzieren. Die Konzeption des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII gründet auf dem Umstand, dass die individuellen Jugendhilfeleistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch, die Eltern in Anerkennung ihrer in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG beruhenden Verantwortung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 1986 - 1 BvR 1542/84 - BVerfGE 72, 155 <172> m.w.N.) gewährt werden, darauf ausgerichtet sind, die Erziehungsfähigkeit der Elternteile zu stärken und ihre erzieherische Kompetenz zu fördern, um auf diese Weise eine eigenständige Wahrnehmung der elterlichen Erziehungsverantwortung zu ermöglichen (vgl. § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Dieser Situation Rechnung tragend verfolgen die Bestimmungen über die örtliche Zuständigkeit das Ziel, durch eine grundsätzliche Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt der Erziehungsverantwortlichen eine effektive Aufgabenwahrnehmung sicherzustellen. Die regelmäßig erforderliche enge und kontinuierliche Zusammenarbeit des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe mit den Eltern wird gerade durch dessen räumliche Nähe zu ihrem Aufenthaltsort ermöglicht und begünstigt. Hingegen bedarf es eben dieser räumlichen Nähe im Falle, dass kein Elternteil (mehr) das Sorgerecht hat (§ 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII), regelmäßig nicht. Diese Fallkonstellation ist vielfach dadurch geprägt, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Einrichtungen oder Pflegestellen haben und nicht selten das Jugendamt am Ort der bisherigen Zuständigkeit zum Vormund bestellt wurde (vgl. auch BT-Drucks 12/2866 S. 22). Gerade in Fällen, in denen die Erziehungsverantwortung (vgl. § 1626 Abs. 1, § 1631 Abs. 1 BGB) infolge des Entzugs der elterlichen Sorge nicht bei den Eltern liegt und sich das Kind oder der Jugendliche regelmäßig auch nicht bei einem Elternteil aufhält, besteht keine Notwendigkeit mehr, die örtliche Zuständigkeit weiterhin an den (künftigen) gewöhnlichen Aufenthalt eines Elternteils zu binden und sie mit diesem „mitwandern“ zu lassen (Urteil vom 19. Oktober 2011 - BVerwG 5 C 25.10 - BVerwGE 141, 77 = Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII/KJHG Nr. 15 jeweils Rn. 38).
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Demgegenüber nimmt die Regelung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII, die an das gemeinsame Sorgerecht der Eltern anknüpft, die Tatbestandsvoraussetzungen des Satzes 1 Halbs. 1 umfänglich in Bezug. Soweit aus der bisherigen Rechtsprechung des Senats zu § 86 Abs. 5 SGB VIII etwas anderes gefolgert werden konnte, hält der Senat daran nicht mehr fest.
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Infolgedessen beschränkt sich der Anwendungsbereich des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII auf die Fälle der erstmaligen Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der Elternteile nach Beginn der Leistung sowie gegebenenfalls auf die Verlagerung dieser verschiedenen gewöhnlichen Aufenthalte in der Folgezeit. Für dieses Verständnis einer umfassenden Inbezugnahme der Voraussetzungen des § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII durch den in seinem Wortlaut neutralen § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII streiten neben der Gesetzessystematik auch der Sinn und Zweck und die Entstehungsgeschichte der Norm.
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In den Fällen des gemeinsamen Sorgerechts gebietet es der oben näher dargelegte Zweck der Vorschrift, möglichst ein Näheverhältnis des Jugendamtes zu einem sorgeberechtigten Elternteil beizubehalten und zu bewirken, dass im Falle des Umzugs dieses Elternteils, bei dem das Kind regelmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt haben wird, auch die örtliche Zuständigkeit mit diesem „mitwandert“ (vgl. Eschelbach, JAmt 2011, 233 <234>; Jung, JAmt 2011, 383 <383, 385>).
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Auch die historisch-genetische Auslegung des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII spricht für eine entsprechende umfängliche Inbezugnahme der Voraussetzungen des § 86 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 SGB VIII. Die Rechtsfolge des § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 1 SGB VIII, also die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit nach der bisherigen Zuständigkeit, ist Ausdruck der Einschätzung des Gesetzgebers, die örtliche Zuständigkeit könne in den Fällen gemeinsam personensorgeberechtigter Eltern, die vor Beginn der Leistung einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt hatten und nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen, nicht verlässlich dynamisch an den gewöhnlichen Aufenthalt eines der beiden Elternteile geknüpft werden, da sich insoweit nicht abstrakt-generell feststellen lasse, welcher Elternteil künftig der Unterstützung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe bei der Wahrnehmung der Erziehungsverantwortung bedürfe (BT-Drucks. 12/2866 S. 21). Anders als in den von § 86 Abs. 2 und 3 SGB VIII geregelten Fällen, bei denen die Zuständigkeitsbestimmung an vorgefundene Aufenthalte angelehnt werden kann und in denen es dem gesetzgeberischen Regelungskonzept regelmäßig zuwiderliefe, die räumliche Nähe des Jugendhilfeträgers zu dem Elternteil, bei dem das Kind oder der Jugendliche seinen gewöhnlichen Aufenthalt bereits in der Vergangenheit genommen hat, durch eine Anknüpfung an die bisherige Zuständigkeit zu beenden, ist eine solche räumliche Nähe in der Konstellation einer erstmaligen Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte beider Elternteile nicht abstrakt-generell herzustellen, ohne besorgen zu müssen, dass die betreffende Anknüpfung nur einen Teil der denkbaren Fallgestaltungen sachgerecht erfasst.“
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Die vorstehend wiedergegebene Begründung des Bundesverwaltungsgerichts für die Bezugnahme von § 86 Abs. 5 Satz 2. 2. Alternative SGB VIII ausschließlich auf das Bestehen verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der nichtsorgeberechtigten Eltern bei Beginn der Jugendhilfeleistung kommt erst recht in der vorliegenden Fallkonstellation zum Tragen, bei der die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII an den Wohnsitz der Pflegeeltern anknüpft und lediglich aus Gründen des finanziellen Schutzes der Pflegestellenorte im Rahmen des Kostenerstattungsanspruchs nach § 89a Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 SGB VIII die örtliche Zuständigkeit der jeweiligen Jugendhilfeträger hypothetisch nachgezeichnet wird.
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2. Soweit in der Kommentarliteratur die vorstehend wiedergegebene Auslegung von § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alternative SGB VIII durch das Bundesverwaltungsgericht nach dem „allgemeinen Sprachverständnis“ und „grammatikalischen Grundregeln“ als mit dem Gesetzeswortlaut in der alten wie auch in der geänderten Fassung unvereinbar kritisiert wird (so insb. Lange in jurisPK-SGB VIII, Stand 30.7.2021 § 86 Rn. 128), erachtet der Senat dies nicht für durchgreifend. § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII a.F. - „Solange die Personensorge beiden Elternteilen gemeinsam oder keinem Elternteil zusteht, bleibt die bisherige Zuständigkeit bestehen.“ - bezieht sich durch seine systematische Stellung zwar ersichtlich auf § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII, aber ein konkreter sprachlicher Bezug zu den einzelnen Tatbestandsmerkmalen des Satzes 1 wird nicht hergestellt (im Übrigen auch nicht durch die Einfügung des Passus „in diesen Fällen“, vgl. hierzu nachfolgend 3.). Ist der sprachlich, grammatikalische Befund hingegen nicht eindeutig, bedarf es - wie vom Bundesverwaltungsgericht praktiziert - der systematischen und teleologischen Auslegung, um den Gehalt der Norm adäquat zu erfassen.
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Ebenso wenig greift der Einwand gegen die Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts durch, die differenzierte Auslegung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII entleere § 86 Abs. 3 SGB VIII seines Regelungsgehalts (so Lange in jurisPK-SGB VIII, Stand 30.7.2021 § 86 Rn. 129). Dies ist, wie gerade die vorliegende Fallkonstellation zeigt, nicht der Fall, denn die ursprüngliche örtliche Zuständigkeitsbestimmung bei Maßnahmebeginn knüpft gerade an § 86 Abs. 3 SGB VIII an.
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Schließlich negiert die Gesetzesinterpretation des Bundesverwaltungsgerichts nicht die Intension des Gesetzgebers. Denn liegt der Grund für die Annahme einer dynamischen, „wandernden“ örtlichen Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers in der Einbeziehung der Eltern des Hilfeempfängers in die Jugendhilfemaßnahme und in der Stärkung von deren Erziehungskompetenz, vermag dieser Gesichtspunkt bei fehlendem bzw. entzogenem Personensorgerecht der Eltern nicht mehr durchzugreifen (so auch VG Koblenz, U.v. 23.2.l2015 - 3 K 1243/13.KO - BeckRS 2015, 50499). Dies gilt erst recht dann, wenn nach der Zuständigkeitsregel des § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII bei der Unterbringung des Hilfeempfängers in einer Pflegefamilie die örtliche Nähe des Jugendhilfeträgers zum Aufenthaltsort der Pflegefamilie für die Zuständigkeitsbestimmung herangezogen wird (was auch die Kritik an der Rechtsprechung des BVerwG konzediert, vgl. Lange in jurisPK-SGB VIII, Stand 30.7.2021 § 86 Rn. 131).
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Soweit die Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts den von „§ 86 SGB VIII ebenfalls verfolgten Regelungszweck einer ausgewogenen Lastenverteilung zwischen den Jugendhilfeträgern“ (so Lange in jurisPK-SGB VIII, Stand 30.7.2021 § 86 Rn. 129) nicht berücksichtigen soll, vermag der Senat dem ebenfalls nicht zu folgen. Die Annahme einer dynamischen anstelle einer statischen örtlichen Zuständigkeit würde im Rahmen der Kostenerstattungsregelung des § 89a Abs. 1, Abs. 3 SGB VIII dazu führen, dass Jugendhilfeträger allein deshalb mit den Kosten einer Jugendhilfemaßnahme belastet würden, weil ein nichtsorgeberechtigter, in die Hilfemaßnahme nicht eingebundener Elternteil eines Hilfeempfängers in dessen Gebiet seinen Wohnsitz nimmt. Dies erscheint ohne jeglichen Anknüpfungspunkt an den in Rede stehenden Jugendhilfefall gegenüber einer Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt des maßgeblichen Elternteils bei Maßnahmebeginn nach § 86 Abs. 3, Abs. 2 Satz 2 SGB VIII nicht sachgerecht und keinesfalls im Sinne einer „ausgewogenen Lastenverteilung“ vorzugswürdig (a.A. ohne nähere Begründung OVG Münster, U.v. 4.2.2020 - 12 A 2644/16 - BeckRS 2020, 25329 Rn. 53: „Es soll (…) auch eine gerechte Lastenverteilung zwischen den Jugendämtern erreicht werden. Dies ist nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers eher der Fall, wenn man Fälle einer statischen Zuständigkeit möglichst begrenzt.“; vgl. ferner OVG Schleswig, U.v. 17.9.2020 - 3 LB 6/19 - BeckRS 2020, 49409 Rn. 54, das es dem Gesetzeszweck zuwiderlaufend ansieht, die Zuständigkeit eines Trägers anzunehmen, „der keine Verbindung zu dem Hilfefall hat.“).
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3. Die Änderung von § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII durch Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Verwaltungsvereinfachung in der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfevereinfachungsgesetz - KJVVG) vom 29.8.2013 (BGBl. I 2013, 3464) durch die Einfügung des Passus „in diesen Fällen“ steht der vom Bundesverwaltungsgericht vertretenen Auslegung der Zuständigkeitsregelung nicht entgegen.
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3.1 Ausgehend vom Wortlaut der Gesetzesänderung lässt sich keine gegenüber der bisherigen Rechtssituation erfolgende Konkretisierung feststellen. Dass sich § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII auf § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII bezieht, war auch ohne „Klarstellung“ (vgl. BT-Drucks. 17/13531, S. 8) in der Systematik der Norm angelegt. Welche Tatbestandselemente des Satzes 1 dabei von Satz 2 in den beiden dort behandelten Alternativen jeweils in Bezug genommen werden, wird durch die Einfügung der Formulierung „in diesen Fällen“ jedoch in keiner Weise näher erklärt oder präziser gefasst (vgl. hierzu Eschelbach, JAmt 2013, 439, 440 f.: „Denn welche ‚diese‘ Fälle gemeint sind, ist nicht explizit geregelt“; Tepe, JAmt 2013, 614, 615). Die Formulierung erweist sich daher ihrem Wortlaut nach als so unbestimmt (die Unbestimmtheit der Neuregelung konzediert auch Bohnert in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand 4. Ergänzungslieferung 2021, § 86 Rn. 80c), dass sie vom Normtext her weiterhin Raum für die vom Bundesverwaltungsgericht vertretene Interpretation von § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alternative SGB VIII lässt (a.A OVG Münster, U.v. 4.2.2020 - 12 A 2644/16 - BeckRS 25329 Rn. 46 ff.).
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3.2 Auch unter Heranziehung der Gesetzesmaterialien ergibt sich keine Sichtweise von § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alternative SGB VIII, die der - differenzierten - Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Grundlage entzöge, wie das Verwaltungsgericht meint. Hierbei gilt es insbesondere zu berücksichtigen, dass die zwischen den beiden Alternativkonstellationen des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII differenzierende Rechtsprechung erst zeitlich nach dem Gesetzesbeschluss, aber vor dem Inkrafttreten der Ergänzung der Bestimmung ergangen ist. Bereits aus dieser zeitlichen Abfolge lässt sich eine Absicht des Gesetzgebers, mit der Einfügung der Formulierung „in diesen Fällen“ gerade dieser differenzierten Norminterpretation entgegenwirken zu wollen, nicht ableiten. Der hier in Rede stehende Fall des fehlenden Personensorgerechts auf Seiten beider Elternteile ist daher in der Beschlussbegründung (BT-Drucks. 17/13531, S. 8) auch nicht als eigenständige, separat zu beurteilende Fallkonstellation behandelt worden.
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Der vorliegend maßgebliche Art. 1 Nr. 5 KJVVG wurde erst im Rahmen der Ausschussberatungen in den Gesetzentwurf des Kinder- und Jugendhilfevereinfachungsgesetzes (BT-Drucks. 17/13023) eingefügt. Aus der hierzu abgegebenen Begründung (BT-Drucks. 17/13531, S. 8) lässt sich entnehmen, dass es Ziel einer dynamischen Zuständigkeitsregelung sei, die räumliche Nähe zwischen Elternteil und örtlichem Träger (Jugendamt) sicherzustellen. „Erst räumliche Nähe ermöglicht das Eingehen einer Hilfebeziehung und einen kontinuierlichen, möglichst engen Kontakt. Für eine wirksame Unterstützung von Familien ist diese Nähe zum leistungsgewährenden örtlichen Träger somit unbedingt erforderlich“. Demgegenüber regle das Gesetz eine statische Zuständigkeit nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen. Ein derartiger gesetzlich geregelter Ausnahmefall liege nach § 86 Abs. 5 SGB VIII vor, „wenn die Eltern nach Beginn einer Leistung verschiedene Aufenthalte begründen und beiden Elternteilen gemeinsam oder keinem Elternteil die Personensorge zusteht“. Bezugnehmend auf die - bis zu diesem Zeitpunkt ergangene - Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 86 Abs. 5 SGB VIII, wonach diese Bestimmung auch in den Fällen anwendbar sei, in denen die Eltern bereits vor bzw. bei Leistungsbeginn verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben und diese während des Leistungsbezugs beibehalten, wird festgehalten, dass dieses Verständnis der Zuständigkeitsregel zu „unbefriedigenden Ergebnissen“ führe, „weil es die Unterstützungsleistungen für die Elternteile erschwert. Bedarfsgerechte Hilfen für die Eltern erfordern eine enge und kontinuierliche Zusammenarbeit des örtlichen Trägers, die durch eine räumliche Nähe zum Aufenthaltsort der Eltern (bzw. des maßgeblichen Elternteils) ermöglicht und begünstigt wird. Eine Ausweitung der eng begrenzten Ausnahmefälle läuft daher unmittelbar den Absichten zuwider, die der Gesetzgeber mit der Zuständigkeitsregel des § 86 Abs. 5 verfolgt hat.“ Mit der Ergänzung von § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII solle „der Bezug und damit die zeitliche Abfolge klargestellt werden: Die Anwendung ist beschränkt auf die Fälle, in denen nach Beginn der Leistung zum Zeitpunkt der Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte die Personensorge beiden gemeinsam oder keinem Elternteil zugestanden hat. Ziel der Änderung ist es, den mit der Zuständigkeitsregel des Absatzes 5 verfolgten Gesetzeszweck zu wahren und zugleich unerwünschte Auswirkungen der Neuberechnung von Kostenerstattungen der örtlichen Träger zu vermeiden“.
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Soweit in der zitierten Gesetzesbegründung zum Ausdruck gebracht wird, es gehe im Kern darum, den mit der Zuständigkeitsregelung verfolgten Gesetzeszweck zu wahren und unerwünschte Neuberechnungen der Kostenerstattung zu vermeiden, den man insbesondere durch die weite Auslegung von § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII durch das Bundesverwaltungsgericht beeinträchtigt sah, steht dies zur differenzierten Sichtweise des Bundesverwaltungsgerichts hinsichtlich § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alternative SGB VIII, die das Gericht im Übrigen in Kenntnis der bereits verabschiedeten, aber noch nicht in Kraft getretenen Neuregelung eingenommen hat, nicht in Widerspruch (so auch VG Koblenz, U.v. 23.3.2015 - 3 K 1243/13.KO = BeckRS 2015, 50499). Denn wenn die dynamische Zuständigkeitsanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt des maßgeblichen Elternteils ihren Grund in der Stärkung der Erziehungsverantwortung der Eltern des Hilfeempfängers und in der deshalb erforderlichen engen Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfeträger und Eltern hat, besteht dieser Grund im Falle der Entziehung des Sorgerechts bei beiden Elternteilen und der Unterbringung des Hilfeempfängers in einer Pflegefamilie, wo die für die Zusammenarbeit zwischen Pflegefamilie und Jugendamt erforderliche Nähe durch die Zuständigkeitsregelung des § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII hergestellt wird, gerade nicht mehr (vgl. Bohnert in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand 4. Ergänzungslieferung 2021, § 86 Rn. 80: „Sind die Eltern nicht vertretungs- oder sorgeberechtigt, gibt es keinen sachlichen Grund die Zuständigkeit von einem Aufenthaltswechsel eines Elternteils oder beider Eltern abhängig zu machen, da eine Rückkehr des Kindes oder Jugendlichen zumindest mittelfristig nicht seinem Wohl entspricht.“). Außerdem führt die Annahme einer dynamischen Zuständigkeit im Falle des Umzugs des maßgeblichen Elternteils zu einer Mehrung von Kostenerstattungsverfahren gegenüber einer statischen Zuständigkeitsregelung, die die gesetzliche Neuregelung vermeiden will. Eine statische Zuständigkeit vermittelt gerade im Hinblick auf die Kostenerstattung zwischen Jugendhilfeträgern eine „gewisse Stabilität“ (Bohnert in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand 4. Ergänzungslieferung 2021, § 86 Rn. 80a). Schließlich erweist es sich auch nicht als (sach) gerechter, einen Jugendhilfeträger mit den Kosten einer Hilfemaßnahme zu belasten, bloß, weil ein nicht sorgeberechtigter Elternteil in seinem Gebiet seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat. Ein wie auch immer gearteter Bezug des Jugendhilfeträgers zu dem Jugendhilfefall, für den er Kostenerstattung leisten soll, ist in diesem Fall nicht erkennbar. Soweit das Bundesverwaltungsgericht daher die Auslegung von § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alternative SGB VIII teleologisch begründet hat, steht dies gerade in der vorliegenden Fallkonstellation nicht in Widerspruch zur gesetzgeberischen Intension des Kinder- und Jugendhilfevereinfachungsgesetzes.
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3.3 Soweit in der Kommentarliteratur im Kontext mit der Änderung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB ferner das Fehlen einer „Übergangsregelung“ bzw. der Behandlung von „Altfällen“, d.h. von Jugendhilfemaßnahmen, die bereits vor Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfevereinfachungsgesetz am 1. Januar 2014 begonnen hatten (vgl. beispielsweise Bohnert in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand 4. Ergänzungslieferung 2021, § 86 Rn. 80c; Eschelbach, JAmt 2013, 439, 441; Kunkel/Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 86 Rn. 39; Lange in jurisPK-SGB VIII, Stand 30.7.2021 § 86 Rn. 133 ff.; Tepe, JAmt 2013, 614, 615 f.), thematisiert wird, stellt sich diese Problematik bei dem vom Senat vertretenen Fortbestand einer statischen Zuständigkeit nach § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alt. SGB VIII nicht, weil dieses Normverständnis weder eine Übergangsregelung noch eine gesonderte Regelung von Altfällen erfordert und sich so als vorzugswürdig erweist.
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Im vorliegenden Fall führte daher § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alt. SGB VIII zu einer fortbestehenden örtlichen Zuständigkeit des Landkreises Ravensburg, sodass nach § 89a Abs. 1 SGB VIII dieser, nicht hingegen der Beklagte dem Kläger zur Kostenerstattung nach § 89a Abs. 1 SGB VIII verpflichtet ist. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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4. Der Kläger trägt nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung bestimmt sich nach § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit §§ 704, 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO. Als Erstattungsstreit zwischen Sozialleistungsträgern ist das Verfahren nach § 188 Satz 2, 2. Halbsatz VwGO nicht gerichtskostenfrei. Der Streitwert bestimmt sich nach § 52 Abs. 3 Satz 1, § 47 Abs. 1 Satz 1 GKG.
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5. Die Revision wird nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (vgl. hierzu OVG Münster, Urteil vom 4.2.2020 - 12 A 2644/16 - BeckRS 2020, 25329 Rn. 61; nach Lange in jurisPK-SGB VIII, Stand 30.7.2021 § 86 Rn. 136.3 ist die in der genannten Entscheidung zugelassene Revision nicht eingelegt worden).