Titel:
Herkunftsland: Sierra Leone, Existenzminimumsicherung (bejaht), Abschiebungsverbote (verneint), Female Genital, Mutilation (FGM), Weibliche Genitalverstümmelung, Fortführung der Rechtsprechung zur weiblichen Genitalverstümmelung, Atypische Sonderkonstellation (bejaht), Vortrag zum Verfolgungsschicksal betreffend schutzunwillige Großfamilie nicht glaubhaft, Materielle Beweislast
Normenketten:
EMRK Art. 3
AsylG § 3
AsylG § 4
AufenthG § 60
AufenthG § 11
Schlagworte:
Herkunftsland: Sierra Leone, Existenzminimumsicherung (bejaht), Abschiebungsverbote (verneint), Female Genital, Mutilation (FGM), Weibliche Genitalverstümmelung, Fortführung der Rechtsprechung zur weiblichen Genitalverstümmelung, Atypische Sonderkonstellation (bejaht), Vortrag zum Verfolgungsschicksal betreffend schutzunwillige Großfamilie nicht glaubhaft, Materielle Beweislast
Fundstelle:
BeckRS 2022, 19346
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Eltern der am … … … geborenen sierra-leonischen Klägerin zeigten am ... Oktober 2015 ihre Geburt beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (fortan: Bundesamt) an, um einen Asylantrag zu stellen.
2
Der klägerische Vater wurde von der Regierung von Oberbayern am … Juni 2015 u.a. zu seinen familiären Verhältnissen in Sierra Leone befragt. Die Eltern der Klägerin sind am ... März 2017 von dem Bundesamt im Rahmen ihres eigenen Asylverfahrens angehört worden.
3
Das Bundesamt lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom ... November 2017 Gesch.-Z.: …, am 8. November 2017 zur Post gegeben, ab. Eine Flüchtlingseigenschaft wurde nicht zuerkannt (Nr. 1), der Antrag auf Asylanerkennung wurde abgelehnt (Nr. 2), der subsidiäre Schutzstatus wurde ebenfalls nicht zuerkannt (Nr. 3). Des Weiteren wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Nr. 4). Im Übrigen wurde die Abschiebung angedroht (Nr. 5) und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung führt das Bundesamt aus, dass das Vorbringen der Eltern nicht habe glaubhaft machen können, dass der Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Genitalverstümmelung drohe. So befürworte die Familie des Vaters weibliche Genitalverstümmelung nicht. Die Familie sei jedenfalls auf eine inländische Fluchtalternative zu verweisen. Auch drohe der Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit kein ernsthafter Schaden. Abschiebungsverbote seien ebenso wenig festzustellen. Die Klägerin sei gesund. Auch sei davon auszugehen, dass die jungen, gesunden und arbeitsfähigen Eltern die Existenz der Familie sichern können. Insbesondere könne die Familie auf eine Unterstützung durch die Großfamilie des Vaters zurückgreifen. Im Übrigen wird auf die Bescheidsbegründung Bezug genommen.
4
Die Klägerin ließ durch ihre Prozessbevollmächtigte gegen diesen Bescheid am … November 2017 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben. Mit Schriftsatz vom … Februar 2022 vertieft die Klägerin ihren Vortrag unter Bezugnahme auf die seitens des Gerichts eingeführten Erkenntnismittel zur weiblichen Genitalverstümmelung.
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Die Klägerin beantragt,
- 1.
-
Den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom …11.2017 - Aktenzeichen … … in den Ziffern 1., 3., 4., 5. und 6. aufzuheben.
- 2.
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Die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen des Paragrafen 60 Abs. 1 AufenthG - Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft - bei der Klägerin vorliegen.
- 3.
-
Hilfsweise: Die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin den subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG zuzuerkennen.
- 4.
-
Höchst hilfsweise: Die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen.
6
Die die Behördenakten vorlegende und sich mit Schriftsatz vom 14. April 2021 äußernde Beklagte stellt keinen Antrag.
7
Im Übrigen wird auf die (beigezogenen) Gerichtsakten (M 30 K 17.49578; M 30 K 17.49580; M 30 K 20.30360 und M 30 K 21.30085), die in den jeweiligen Verfahren vorgelegten Behördenakten sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom … Juli 2022 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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I. Die zulässige Klage ist unbegründet. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamts vom … November 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, da die Klägerin zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 ff. AsylG, noch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG hat. Ebenso wenig liegen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich einer Abschiebung der Klägerin nach Sierra Leone vor. Die auf der Ablehnung des Asylantrags als unbegründet beruhende Ausreiseaufforderung mit 30tägiger Ausreisefrist und die Abschiebungsandrohung gemäß §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG und dessen Befristung sind ebenfalls nicht zu beanstanden.
9
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die wegen ihrer Intensität den Betroffenen dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG Münster, U.v. 28.3.2014 - 13 A 1305/13.A - juris Rn. 21 f. m.w.N.). Eine Verfolgung kann dabei gem. § 3c AsylG ausgehen von einem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Weiter darf für den Ausländer keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen (§ 3e AsylG), deren Inanspruchnahme zumutbar ist. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
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Subsidiärer Schutz ist einem Ausländer zuzuerkennen, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die §§ 3c bis 3e AsylG gelten entsprechend (§ 4 Abs. 3 AsylG).
11
Die Furcht vor Verfolgung sowie die Gefahr eines ernsthaften Schadens ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32). Die Tatsache, dass ein Drittstaatsangehöriger bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist gem. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betroffene erneut von solcher Verfolgung bedroht wird.
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Wer die (materielle) Beweislast trägt, bestimmt sich nach materiellem Recht und ist in Auslegung der im Einzelfall einschlägigen Normen zu ermitteln; enthalten diese keine besonderen Regelungen, so greift der allgemeine Rechtsgrundsatz ein, dass die Nichterweislichkeit von Tatsachen, aus denen eine Partei ihr günstige Rechtsfolgen herleitet, zu ihren Lasten geht (BVerwG, U.v. 13.10.1988 - 5 C 35.85 - BVerwGE 80, 290/296 f.). Nach diesem Günstigkeitsgrundsatz muss derjenige, der das Bestehen eines Rechts behauptet, die Nichterweislichkeit rechtsbegründender Tatsachen gegen sich gelten lassen, während umgekehrt die Nichterweislichkeit von rechtshindernden, -vernichtenden oder -hemmenden Umständen zu Lasten desjenigen geht, der sich hierauf beruft (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 86 Rn. 5,7 m.w.N.). In Anwendung dieser Grundsätze trägt grundsätzlich der Schutzsuchende die (materielle) Beweislast für das Vorliegen der (positiven) Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft; insoweit geht ein non liquet zu seinen Lasten (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 37.18 - juris Rn. 24). Dies gilt jedenfalls bei einem nicht vorverfolgt ausgereisten Schutzsuchenden hinsichtlich der Frage, ob ihm bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht (BVerwG, U.v. 21.11.1989 - 9 C 44.89 - juris Rn. 15, 19; B.v. 15.8.2017 - 1 B 120.17 - juris Rn. 8). Das materielle Recht enthält nur für besondere Situationen - etwa bei Vorverfolgten (Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU; vgl. EuGH, U.v. 2.3.2010 - C-175/08 u.a. - juris Rn. 94; BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408 Rn. 15) und in Widerrufsfällen (Art. 14 Abs. 2 RL 2011/95/EU) - hinsichtlich der Rückkehrprognose einen vom Günstigkeitsprinzip abweichenden beweisrechtlichen Ansatz. Dem ist im Umkehrschluss zu entnehmen, dass es ansonsten - soweit sich nicht aus der Natur der Sache etwas anderes ergibt - dabei verbleibt, dass die Nichterweislichkeit zu Lasten des Schutzsuchenden geht. Dies gilt nicht nur für in die Sphäre des Schutzsuchenden fallende Tatsachen, sondern grundsätzlich für alle bei der Gefahrenprognose erheblichen Umstände (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 37.18 - juris Rn. 25). Hinsichtlich einer individuellen Verfolgung oder Bedrohung muss das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich ein Ausländer insbesondere hinsichtlich individueller Gründe für einen asylrechtlichen Schutzstatus befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung. Dabei sind die Herkunft, der Bildungsstand und das Alter des Asylsuchenden sowie sprachliche Schwierigkeiten zu berücksichtigen. Dem Ausländer obliegt es aber dennoch, gegenüber dem Tatsachengericht einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern. Daher ist Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ein geeigneter Vortrag, welcher den Asylanspruch hinsichtlich der in die eigene Sphäre des Asylsuchenden fallenden Ereignisse - insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen - lückenlos trägt (vgl. BVerwG, U.v. 8.5.1984 - 9 C 141/83 - juris Rn. 11). Der Ausländer muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen; er muss kohärente und plausible wirklichkeitsnahe Angaben machen (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.1989 - 9 B 239/89 - NVwZ 1990, 171; BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 109/84 - NVwZ 1985, 658; BVerwG, U.v. 8.5.1984 - 9 C 141/83 - juris Rn. 11). Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag sowie in Fällen, in welchen der Vortrag nach den Erkenntnismaterialien, der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheint, kann dem Asylsuchenden in der Regel nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (vgl. VGH Kassel, U.v. 4.9.2014 - 8 A 2434/11.A - juris Rn. 15; VGH Mannheim, U.v. 27.8.2013 - A 12 S 2023/11 - juris Rn. 35; BVerwG, B.v. 23.5.1996 - 9 B 273/96 - juris Rn. 2; B.v. 21.7.1989 - 9 B 239/89 - NVwZ 1990, 171; U.v. 8.2.1989 - 9 C 29/87 - juris Rn. 8; U.v. 23.2.1988 - 9 C 273/86 - juris Rn. 11; B.v. 12.9.1986 - 9 B 180/86 - juris Rn. 5; U.v. 16.4.1985 - 9 C 109/84 - NVwZ 1985, 658). Das Gericht legt bei der Würdigung des klägerischen Vortrags die sog. Nullhypothese zugrunde. Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass eine getätigte Aussage unwahr ist, sofern nicht Anhaltspunkte vorhanden sind, die dafür sprechen, dass die Auskunftsperson die Wahrheit sagt. Stimmt die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr überein, so ist sie zu verwerfen und es gilt dann die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt. Daher gilt der klägerische Vortrag solange als unzuverlässig, als die Nullhypothese nicht eindeutig wiederlegt ist (vgl. hierzu OLG Frankfurt, U.v. 9.12.2021 - 22 U 109/11 - juris Rn. 28).
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2. In Anwendung dieser Maßstäbe liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3 ff AsylG oder des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG bei der Klägerin nicht vor.
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2.1 Der Klägerin steht aufgrund der persönlichen Verfolgungsgründe ihrer Eltern weder ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch auf subsidiären Schutz zu. Die Angaben der klägerischen Eltern zu ihren Fluchtursachen sind nicht glaubhaft. Diesbezüglich wird auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides vom 23. November 2017 sowie auf die Begründung des Bescheids betreffend die Eltern vom 8. November 2017 (Gesch.-Z.: 6010662-272) nach § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen.
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2.2 Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und hilfsweise des subsidiären Schutzstatus ergibt sich vorliegend - ausnahmsweise - auch nicht aus dem Umstand, dass die minderjährige Klägerin bisher keiner weiblichen Genitalverstümmelung (engl. Female Genital Mutilation - fortan: FGM) unterzogen worden ist.
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Nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts ist aufgrund der derzeit vorliegenden Erkenntnismittellage - zwar im Grundsatz - davon auszugehen, dass unbeschnittene Mädchen bzw. minderjährige Frauen in Sierra Leone mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Opfer von FGM werden und ihnen daher eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG droht (vgl. hierzu VG München, U.v. 9.5.2022 - M 30 K 18.32331 - juris Rn. 15 bis 27; U.v. 9.5.2022 - M 30 K 21.32746 - juris Rn. 15 bis 27). In die Prognoseentscheidung betreffend die beachtliche Wahrscheinlichkeit sind dabei u.a. stets die familiären, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der unbeschnittenen Mädchen bzw. minderjährigen Frauen einzustellen. Die - im Grundsatz bestehende - beachtliche Wahrscheinlichkeit für die oben dargelegte Verfolgung entfällt aber - ausnahmsweise - bei Vorliegen besonderer Umstände, zu denen zur Überzeugung des erkennenden Gerichts insbesondere eine besonders herausgehobene wirtschaftliche oder soziale Stellung der Klägerin und ihrer Eltern gehören sowie das Vorhandensein einer Großfamilie, die FGM ablehnt. Denn das Vorhandensein einer solchen Großfamilie, die auch nicht als Akteur nach § 3d AsylG anzusehen ist, lässt bereits die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung entfallen, da zur Überzeugung des erkennenden Gerichts davon ausgegangen werden kann, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland nicht auf Hilfeleistungen ihres (anderweitigen) sozialen Umfeldes am Ort der Niederlassung angewiesen und dessen Einflussnahme betreffend der Entscheidung über die Durchführung einer Zwangsbeschneidung hinreichend sicher entzogen ist.
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Die Rechtsprechung des erkennenden Gerichts führt auch nicht dazu, dass die allgemein materiellen Beweislastregeln des Asylrechts eine Umkehrung erfahren würden. Damit gehen auch Ungewissheiten und Unklarheiten betreffend die Frage, ob vorliegend klägerseits eine Großfamilie vorhanden ist, die FGM ablehnt und daher die grundsätzlich bestehende beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung entfallen lässt, im Zweifel zu Lasten der Schutzsuchenden (vgl. zur klägerischen Darlegungspflicht über das Nichtvorliegen begünstigender Umstände betreffend den Aspekt der nachhaltigen Unterstützung durch ein familiäres oder soziales Netzwerk im Herkunftsland: VGH BW, U.v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 - juris S. 68 ff., auch nicht beanstandet in BVerwG, U.v. 21.4.2022 - 1 C 10.21 - juris Rn. 19 ff.). Insoweit ist es Aufgabe der Klägerin (und ihrer Eltern) das Fehlen von besonderen Umständen, die eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für ein Erleiden von FGM entfallen lassen, glaubhaft darzulegen, wenn es sich um Umstände handelt, die in die eigene Sphäre der Klägerin fallen, wie etwa die eigene (Groß-)Familie oder eine besonders herausgehobene wirtschaftliche oder soziale Stellung der Klägerin bzw. ihrer Eltern.
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Vorliegend konnte die Klägerin nicht glaubhaft darlegen, dass sie im Herkunftsland nicht über eine Großfamilie väterlicherseits verfügt, die gegenüber FGM eine ablehnende Haltung einnimmt.
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Die Einlassung der klägerischen Mutter in der mündlichen Verhandlung ist - unter Zugrundelegung der Nullhypothese - nicht zuverlässig, da ihrem Vorbringen die notwendigen Anhaltspunkte, die für die Wahrheit der getätigten Aussagen sprechen (Realkennzeichen), fehlen. So hat die klägerische Mutter auf Nachfrage des Gerichts, wie der Name ihrer Schwiegermutter laute, einen solchen erst nach langanhaltender Verzögerung benennen können. Auch gab sie an, außer ihrer Schwiegermutter und der von dieser abstammenden Tochter, ihrer Schwägerin, keine weiteren Verwandten ihres Ehemannes zu kennen, was bei einer seit mehreren Jahren gelebten Ehe, aus der fünf Kinder hervorgekommen sind, nicht nachvollziehbar ist. Ferner gab die klägerische Mutter in der mündlichen Verhandlung - trotz entsprechend konkreter Fragestellung - zunächst an, dass sie an Verwandtschaft nur noch ihren Vater in Sierra Leone habe; erweiterte ihren Verwandtenkreis im Rahmen einer vom Gericht später gestellten Frage aber um einen Onkel. Während sie bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt ihre Befürchtung vortrug, dass ihr eigener Vater, der Großvater der Klägerin und die einzige Verwandtschaft über die die Klägerin mütterlicherseits in Sierra Leone noch verfüge, ihre Töchter beschneiden wolle, steigerte sie in der mündlichen Verhandlung ihren Vortrag dahingehend, dass neben ihrem eigenen Vater sowie ihrem Onkel auch die Familienmitglieder ihres Ehemannes und Vaters der Klägerin, ihre Töchter beschneiden wollen würden. Auch auf weitere Nachfrage, welche Familienmitglieder ihres Ehemannes die Beschneidung einfordern würden, konnte die Mutter der Klägerin keine konkreten Angaben machen. Vielmehr antwortete sie ausweichend dahingehend, dass ihre Schwägerin wegen der erlittenen Beschneidung keine Kinder mehr gebären könne. Es ist für das Gericht nicht nachvollziehbar, dass eine Mutter Personen, die ihre Töchter misshandeln wollen, nicht näher bezeichnen kann, obwohl sie aus der Familie ihres Ehemannes stammen sollen. Auch die Aussage, dass ihre Schwägerin wegen der Beschneidung keine Kinder mehr gebären kann, erscheint insoweit zweifelhaft, als ihr Ehemann in der mündlichen Verhandlung vortrug, dass seine Cousine wegen ihrer Beschneidung hierzu nicht mehr in der Lage sei.
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Auch das Vorbringen des klägerischen Vaters in der mündlichen Verhandlung ist mangels Vorhandenseins von entsprechenden Realkennzeichen als nicht zuverlässig zu bewerten. Der klägerischen Vater begibt sich mehrfach in Widerspruch zu seinen früher gemachten Aussagen vor dem Bundesamt und der Regierung von Oberbayern. Der Vater der Klägerin gab ihm Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt an, dass er bei einer Rückkehr die Beschneidung seiner Töchter durch seinen Schwiegervater befürchte und er von diesem umgebracht werde, wenn er sich weigere. Außerdem trug er vor, dass die Frauen in seiner Familie nicht beschnitten seien, weil es eine Schande sei, wenn man so etwas mache. Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt und seiner Befragung durch die Regierung von Oberbayern gab der außerdem - übereinstimmend und bei der Regierung von Oberbayern unter Namensnennung - an, vier Brüder und vier Schwestern in Sierra Leone zu haben. Dagegen trug er im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor, dass er vier Halbbrüder habe und alle seine fünf Halbschwestern und seine Schwester beschnitten seien. Auf den Vorhalt des Gerichts hinsichtlich des Widerspruches betreffend die durchgeführte Beschneidung seiner (Halb-)Schwestern verwies der Vater der Klägerin auf Dolmetscherprobleme und Übersetzungsfehler und führte des Weiteren aus, dass er nicht geflohen wäre, wenn es nicht die Tradition der Familie wäre, Frauen zu beschneiden. Hierdurch setzt sich Vater der Klägerin aber in einen weiteren Widerspruch zu seinem Vortrag vor dem Bundesamt, wo er vorgetragen hat, dass eine Beschneidungsgefahr einzig von seinem Schwiegervater ausgehe (vgl. Protokoll der Anhörung vor dem Bundesamt vom 1. März 2017, Seite 6 Frage 10).
21
Damit hat die Klägerin das Nichtvorliegen von besonderen Umständen, die eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG wegen FGM entfallen lassen würden, nicht glaubhaft gemacht. Zur Überzeugung des Gerichts bestehen aufgrund der unzuverlässigen Einlassungen der klägerischen Eltern Zweifel hinsichtlich der Einstellung der Großfamilie väterlicherseits zur FGM-Thematik, die im Einklang mit den geltenden asylrechtlichen Beweislastregeln zu Lasten der Klägerin in die Prognoseentscheidung der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einzustellen sind und diese im Ergebnis entfallen lassen.
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3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.
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3.1 Abschiebungsverbote ergeben sich nicht gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
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Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Erfasst sind davon nur solche Gefahren‚ die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind‚ während Gefahren‚ die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben‚ nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben‚ wenn diese sich im Heimatstaat wegen unzureichender Behandlungsmöglichkeiten verschlimmert. Es ist aber nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Es kann sich darüber hinaus trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung aber auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben‚ dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. In die Beurteilung miteinzubeziehen und bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände‚ die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können. Von einer konkreten Gefahr ist in Krankheitsfällen dann auszugehen, wenn die erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Abschiebung in den Zielstaat eintreten würde, weil eine adäquate Behandlung dort nicht möglich ist (vgl. zum Ganzen: BayVGH, U.v. 17.3.2016 - 13a B 16.30007 - juris; BVerwG‚ U.v. 17.10.2006 - 1 C 18.05 - NVwZ 2007, 712).
25
Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, wie etwa eine unzureichende Versorgungslage, sind hingegen bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch im Einzelfall Ausländern, die einer gefährdeten Gruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st.Rspr. des BVerwG, U.v. 17.10.1995 - 9 C 9/95 - BVerwGE 99, 324/328; U.v. 19.11.1996 - 1 C 6/95 - BVerwGE 102, 249/258 f.; U.v. 8.12.1998 - 9 C 4/98 - BVerwGE 108, 77/80 f.; U.v. 12.7.2001 - 1 C 2/01 - BVerwGE 114, 379/382; U.v. 29.6.2010 - 10 C 10/09 - BVerwGE 137, 226/232 f.). Diese Grundsätze über die Sperrwirkung bei allgemeinen Gefahren und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise verfassungskonforme Anwendung in den Fällen, in denen dem Betroffenen im Abschiebezielstaat eine extreme zugespitzte Gefahr droht, sind auch für die neue Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes maßgeblich (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2006 - 1 B 60/06 (1 C 21/06) - juris).
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Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe droht der gesunden Klägerin keine erheblich konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit. Anhaltspunkte für eine extreme Gefahrenlage für die Klägerin sind nach den nachfolgenden Ausführungen zu § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht ersichtlich. Damit liegt die für eine verfassungskonforme Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin alsbald existenzbedrohenden Mangellagen ausgesetzt wäre, nicht vor.
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3.2 Abschiebungsverbote ergeben sich auch nicht gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK.
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Es ist nicht erkennbar, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Sierra Leone unmenschlichen Verhältnissen i.S.v. Art. 3 EMRK ausgesetzt würde. Aufgrund der zu erwartenden Unterstützung durch die Kern- und Großfamilie ist davon auszugehen, dass trotz der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Sierra Leone das Existenzminimum der Klägerin gesichert sein wird. Ein außergewöhnlicher Fall, wonach unter dem allgemeinen Gesichtspunkt schwieriger humanitärer Bedingungen im Herkunftsland von einer Abschiebung entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ abzusehen wäre, liegt nicht vor.
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Sierra Leone gehört trotz seines Rohstoffreichtums zu den ärmsten Ländern der Erde. Nach den Jahren des Bürgerkriegs erholt sich das Land wirtschaftlich nur langsam. Sierra Leone ist eines der am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Die Wirtschaft Sierra Leones ist geprägt von der Landwirtschaft (überwiegend kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft) und der Rohstoffgewinnung. Das Land ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 4,2 Milliarden US-Dollar und einem Pro-Kopf-Einkommen von ca. 526,7 US-Dollar (FCDO, Foreign, Commonwealth & Development Office, Economic Factsheet, Stand Oktober 2021) eines der ärmsten Länder der Welt und belegt nach dem Human Development Index von 2019 Rang 182 der 189 untersuchten Länder. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 70%) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 1,25 bis 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung; die Arbeitslosenrate im Land ist sehr hoch wobei die Jungendarbeitslosigkeit ein besonderes Problem darstellt (Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Stiftung’s Transformation Index (BTI) 2020 - Sierra Leone Country Report, Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, 2020; Westphal in LIPortal, Sierra Leone, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Stand Dezember 2020). Staatliche oder nichtstaatliche finanzielle Fördermöglichkeiten wie Sozial- oder Arbeitslosenhilfe existieren nicht. Erwerbslose, Kranke, Behinderte und ältere Menschen sind ganz besonders auf die Unterstützung der traditionellen Großfamilie angewiesen. Auch nichtstaatliche oder internationale Hilfsorganisationen bieten in der Regel keine konkreten Hilfen zum Lebensunterhalt. Die Wirtschaft wird mit etwa 61,3% am Bruttoinlandsprodukt vom landwirtschaftlichen Sektor dominiert; der Dienstleistungssektor trägt mit 29,9% und der Industriesektor mit 6,2% zum Bruttoinlandsprodukt bei (FCDO ebd.). Die Mehrheit versucht mit Gelegenheitsjobs oder als Händler/in ein Auskommen zu erwirtschaften. Die Subsistenzwirtschaft wird in Familien oft parallel oder alternativ genutzt, um den Lebensunterhalt zu sichern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, Wien am 4.7.2018). Ungelernten Arbeitslosen gelingt es nur durch Hilfstätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten (z.B. im Transportwesen), Kleinhandel (z.B. Verkauf von Obst, Süßigkeiten, Zigaretten) und ähnlichen Tätigkeiten etwas Geld zu verdienen und in bescheidenem Umfang ihren Lebensunterhalt sicher zu stellen (vgl. zu damals noch prekäreren Verhältnissen: OVG NRW, B.v. 6.9.2007 - 11 A 633/05.A - juris Rn 28). Die Lebensumstände in Sierra Leone sind also als äußerst schwierig zu bezeichnen. Die medizinische Versorgung ist in Sierra Leone nach wie vor schwierig und es herrscht ein ausgeprägter Mangel an Fachärzten (vgl. BFA Republik Österreich a.a.O.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Informationszentrum Asyl und Migration, Glossar Islamische Länder - Band 17 Sierra Leone, Mai 2010).
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Wegen der tatsächlichen individuellen Umstände ist aber trotz dieser humanitären Verhältnisse in Sierra Leone davon auszugehen, dass das Existenzminimum der Klägerin durch ihre Kern- und Großfamilie gesichert wird. Der gesunde und erwerbsfähige Vater der Klägerin hat zwölf Jahre eine Schule besucht und kann Berufserfahrung als Taxifahrer und Reinigungskraft vorweisen. Ihre ebenso gesunde wie erwerbsfähige Mutter verfügt zwar über keine Schulbildung, hat aber Berufserfahrung als Haarflechterin gesammelt. Des Weiteren sind die Eltern der Klägerin mit den Gepflogenheiten und der Sprache des Herkunftslandes vertraut. Von den klägerischen Eltern kann daher erwartet werden, zur Sicherung des Existenzminimums der Familie einer Erwerbstätigkeit, mag diese auch nur aus Gelegenheitsarbeiten bestehen, nachzugehen. Ob die Eltern der Klägerin, allein aufgrund ihrer bisherigen Schulbildung und Berufserfahrung, zur Sicherung der Existenz der Familie allein in der Lage sind, braucht vorliegend nicht beantwortet zu werden, da zur Existenzsicherung der Familie vorliegend maßgeblich auch auf die klägerische Großfamilie väterlicherseits abzustellen ist. Für das Gericht steht zu seiner Überzeugung fest, dass der klägerische Vater über eine Großfamilie von mindestens acht Geschwistern im Herkunftsland verfügt, die nach seiner eigenen Aussage alle in derselben Stadt leben und sich gegenseitig bei Probleme unterstützen. Die Aussage des klägerischen Vaters, er gehe nicht davon aus Unterstützung von der Großfamilie zu erhalten, weil sich dieses nach dem Tod seines Vaters zerstreut hätte, hält das Gericht für eine Schutzbehauptung, da sich diese im Widerspruch zu dessen vorangegangenen Vortrag in der mündlichen Verhandlung steht. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Familie bei einer Rückkehr in das familiäre Netz der Großfamilie des klägerischen Vaters aufgenommen und integriert wird und auch im Rahmen der Existenzsicherung von dieser Unterstützung erhalten wird.
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Ferner ist es der Klägerin und ihrer Familie insbesondere zumutbar, Leistungen aus den - überwiegend an die freiwillige Ausreise anknüpfenden - Rückkehrprogrammen wie dem REAG/GARP-Programm in Anspruch zu nehmen (vgl. hierzu https://www.returningfromgermany.de/de/countries/sierra-leone/). Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten - wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr - im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, nicht vom Bundesamt die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.4.1997 - 9 C 38.96 - juris Rn. 27). Derzeit sehen die Rückkehrprogramme für Sierra Leone folgende finanzielle Unterstützungsleistungen: Zahlung von Flug- oder Bustickets, Reisebeihilfen i.H.v. 200,00 EUR pro volljähriger Person und 100,00 EUR pro minderjähriger Person, medizinische Unterstützungen während der Reise sowie im Zielland (maximal 2.000,00 EUR für bis zur drei Monate nach Ankunft) sowie eine einmalige Förderung i.H.v. 1000,00 EUR pro Person bzw. 500,00 EUR pro minderjähriger Person bzw. maximal 3.500,00 EUR pro Familie. Hinzu kommt als ergänzende Reintegrationsunterstützung für Sierra Leone die sog. „StarthilfePlus“-Maßnahme in einem Zeitraum von sechs bis acht Monaten nach der Ausreise i.H.v. 1.000,00 EUR für Einzelpersonen bzw.2.000,00 EUR für Familien.
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4. Im Übrigen wird auf die Bescheidsbegründung nach § 77 Abs. 2 AsylG, insbesondere hinsichtlich der Ausreisefrist von 30 Tagen und der Abschiebungsandrohung nach §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie dem Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG, Bezug genommen.
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II. Die Klage ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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III. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis ergeben sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.