Titel:
Nachteilsausgleich für eine Lese- und Rechtschreibstörung
Normenketten:
BesASO § 15
BayEUG Art. 52 Abs. 5
BaySchO §§ 33 ff.
Leitsätze:
1. Fehler im Verfahren zur Ermittlung der Kenntnisse des Prüflings sind nicht geeignet, einen Anspruch auf Neubewertung der Prüfungsleistung zu bewirken. Denn Verfahrensfehler können nicht zu einer Neubewertung der Prüfungsleistung führen, sondern nur zu einer erneuten Prüfung. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Mängel des Prüfungsverfahrens muss ein Prüfling unverzüglich rügen. Insoweit obliegt ihm eine Mitwirkungspflicht; dies gilt auch für die Gewährung von Nachteilsausgleich. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Jahreszeugnisse, Nachteilsausgleich, Verspätete Geltendmachung eines Verfahrensfehlers, Fehlende Substantiierung, Lese- und Rechtschreibstörung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 19344
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Der Kläger besuchte seit dem Schuljahr 2013/2014 die W. …-Gesamtschule in M. (Schule). Im Schuljahr 2016/2017 besuchte der Kläger die 8. Klasse des Realschulzweigs. Das Jahreszeugnis vom 28. Juli 2017 erteilte dem Kläger gemäß § 15 Schulordnung für die Schulen besonderer Art (BesASO) die Berechtigung zum Eintritt in eine auf den Mittelschulabschluss bezogene Klasse der Jahrgangsstufe 9. Der Kläger wiederholte daraufhin freiwillig die 8. Klasse des Realschulzweigs. Das Jahreszeugnis vom 27. Juli 2018 erteilte dem Kläger erneut die Berechtigung zum Eintritt in eine auf den Mittelschulabschluss bezogene Klasse der Jahrgangsstufe 9.
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Dem Kläger wurde mit Schreiben der Landeshauptstadt München vom 15. Oktober 2013 eine Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie) (ICD 10, F 81.0) bescheinigt. Beim Kläger wurden 30% Zeitzuschlag in schriftlichen Arbeiten in den Fächern Deutsch, Englisch, Mathematik und weitere Fächer als Förder- und Hilfsmaßnahme empfohlen. Außerdem solle mangelnde Rechtschreibung bei der Bewertung schriftlicher Arbeiten nicht in die Notengebung einfließen. Bei längeren Hefteinträgen solle dem Kläger mehr Zeit zum Abschreiben gewährt werden, gegebenenfalls könne der Hefteintrag kopiert werden. Die Angaben der schriftlichen Leistungsnachweise sollen laut vorgelesen werden und gegebenenfalls für den Kläger zum erneuten Abhören auf einen Tonträger aufgenommen werden. Das Attest sei vorerst unbegrenzt gültig. Die Schulleitung könne jedoch unter gegebenen Umständen eine Neutestung durch einen Facharzt verlangen. Der Bescheinigung lag eine fachärztliche Untersuchung in Zusammenwirken mit der Schulpsychologin zugrunde. Durch den Kläger wurde ein ärztliches Attest zur Bescheinigung einer Lese- und Rechtschreibstörung der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der LMU vom 15. Oktober 2012 sowie eine Bescheinigung einer kombinierten Störung schulischer Fertigkeiten vom 25. September 2013, ebenfalls von den Kliniken der LMU ausgestellt, vorgelegt.
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Am 12. Dezember 2016 wurde von Klägerseite ein neuer Antrag auf Prüfung/Änderung zur Lese- und Rechtschreibstörung eingereicht. Dieser wurde unter Zugrundelegung der am 1. August 2016 in Kraft getretenen BaySchO und der damit verbundenen Neuregelung von Nachteilsausgleich und Notenschutz am 20. Dezember 2016 gewährt. Hierbei lag eine schulpsychologische Stellungnahme vom 20. Dezember 2016 zugrunde. Im Laufe des Schuljahres 2016/2017 wurden vom Kultusministerium neue Leitlinien zum Thema Lese-Rechtschreibstörung veröffentlicht.
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Mit Bescheid vom 25. Juli 2017 wurden dem Kläger durch die Schule hinsichtlich des Notenschutzes die Maßnahmen „andere Bewertung in Fremdsprachen“, „Rechtschreibung nicht werten“ und „Leseleistung nicht werten“ gewährt; hinsichtlich des Nachteilsausgleichs wurde die Maßnahme „Zeitzuschlag bis zu 25%“ gewährt.
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Mit E-Mail vom 11. Juli 2018 (Blatt 17 der Behördenakten) machte die Mutter des Klägers geltend, dass der Nachteilsausgleich nicht korrekt erfolgt sei. Insbesondere sei das Vorlesen verweigert worden. Ebenfalls wurde mit E-Mails vom 16. Juli 2018 und 25. Juli 2018 Einwände gegen den erfolgten Nachteilsausgleich hinsichtlich des Vorlesens und eines fehlenden Zeitzuschlags vom 50% statt 25% gegenüber der Schule durch die Mutter des Klägers vorgetragen (Blatt 19/20 der Behördenakten).
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Mit Schreiben datiert auf den 28. Juli 2018 wurde per Fax am 27. Juli 2018 Widerspruch gegen den Bescheid vom 28. Juli 2017 eingelegt. Der in der Schülerakte enthaltene Bescheid zum Antrag auf Berücksichtigung einer Lese-Rechtschreibschwäche sei den Eltern weder vorgestellt noch zugestellt worden. Die Eintragungen zum Nachteilsausgleich widersprächen den vorliegenden Gutachten.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 2. Oktober 2018 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass die Lehrerkonferenz der Schule in ihrer Sitzung vom 2. Oktober 2018 über den Widerspruch des Klägers beraten habe und beschlossen habe, diesen zurückzuweisen. Der Widerspruch sei unbegründet, da die von der Schule mit dem Jahreszeugnis vom 28. Juli 2017 sowie mit Jahreszeugnis vom 27. Juli 2018 gemäß § 15 BesASO erteilte Berechtigung zum Eintritt in eine auf den Mittelschulabschluss bezogene Klasse der Jahrgangsstufe 9 formell und materiell rechtmäßig sei. Die nach § 15 Abs. 2 BesASO erforderlichen Jahresfortgangsnoten, die für einen Wechsel in eine abschlussbezogene Klasse, die sich am Bildungsgang der Realschule orientiert, erforderlich seien, könnten für den Kläger in beiden Zeugnissen nicht ausgewiesen werden. Die Noten in den jeweiligen Jahreszeugnissen seien auch ordnungsgemäß zustande gekommen. Insbesondere sei die zugrundeliegende Gewährung von Notenschutz und Nachteilsausgleich gemäß Art. 52 Abs. 5 BayEUG i.V.m. §§ 31 ff BaySchO auf rechtmäßige Weise erfolgt. Auf schriftlichen Antrag gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 BaySchO vom 12. Dezember 2016 sei gemäß § 36 Abs. 2 Satz 4 BaySchO am 20. Dezember 2016 eine schulpsychologische Stellungnahme erstellt worden. Ab diesem Zeitpunkt sei ein Nachteilsausgleich erfolgt. Der schriftliche Bescheid sei durch die zuständige Schulleitung erlassen und der Klägerseite bekannt gegeben worden. Auf eine Bekanntgabe des Bescheides zum Antrag auf Prüfung und Berücksichtigung einer Lese-Rechtschreibstörung komme es im hiesigen Zusammenhang auch mangels Erheblichkeit nicht an. Für eine Überprüfung des Nachteilsausgleichs sei es nicht von entscheidender Bedeutung, ob dieser verfahrensförmig verbeschieden sei, sondern ob dieser tatsächlich auf materiell-inhaltlich korrekte Weise gewährt worden sei. Ein Verfahrensfehler habe grundsätzlich nur dann die Aufhebung einer Prüfungsentscheidung zur Folge, wenn sein Einfluss auf das Prüfungsergebnis nicht ausgeschlossen werden könne. Der von der Klageseite vorgetragene Umstand, wonach der Bescheid der Schulleitung über die Gewährung des Nachteilsausgleichs nicht zugegangen sei, könne sich unmöglich auf die Prüfungsleistungen des Klägers ausgewirkt haben. Selbst bei Vorliegen eines Verfahrensmangels wegen nicht erfolgter Bekanntgabe des Bescheids wäre dieser Verfahrensfehler demzufolge mangels Erheblichkeit unbeachtlich und zöge keine Neubewertung der Prüfungsleistungen nach sich.
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Die Gewährung von Notenschutz und Nachteilsausgleich gemäß Art. 52 Abs. 5 BayEUG i.V.m. § 31 ff. BaySchO sei rechtmäßig erfolgt. Es bestehe kein Rechtsanspruch auf Gewährung einer bestimmten Maßnahme. Es handele sich vielmehr um eine pädagogische Ermessensentscheidung, die aufgrund der individuellen Bedingungen getroffen werden müsse. Ein Zeitzuschlag in Höhe von 25% sei auf § 33 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BaySchO gestützt. Ein Anspruch auf einen Zeitzuschlag von mehr als 25% sei nicht ersichtlich, auch wenn die Bescheinigungen vom 15. Oktober 2012 und 25. September 2013 dies empfohlen hätten. Im Jahr 2013 sei ein Zeitzuschlag von 30% für die Klassen 5 - 7 mit der Klägerseite abgesprochen und vereinbart gewesen. Der Anpassung des Zeitzuschlags ab der 8. Klasse habe die ab 1. August 2016 geltende Regelung des § 33 Abs. 3 Satz 1 Ziffer 1 BaySchO zugrunde gelegen, wonach der Zeitzuschlag maximal 25% betragen solle, nur in besonderen Ausnahmefällen könne bis zu 50% Zeitzuschlag gewährt werden. Da der Kläger dem Schulpsychologen mitgeteilt habe, dass er mit dem bisher gewährten Zeitzuschlag gut zurecht gekommen sei, den Zeitzuschlag teilweise gar nicht nutze und auch seit 2013 keine Einwände gegen die schulpsychologische Stellungnahme vom 15. Oktober 2013 erhoben worden seien, habe die Anpassung des Zeitzuschlags auf 25% der persönlich für den Schüler notwendigen Verlängerung der Arbeitszeit entsprochen und habe gleichzeitig die Chancengleichheit gewahrt. Selbst der gewährte Zeitzuschlag von 25% sei vom Kläger regelmäßig nicht oder nicht vollständig in Anspruch genommen worden.
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Das Gewähren des Vorlesens gemäß § 33 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BaySchO sei nur dann zulässig, wenn der Kern der Leistungsanforderung Texte lesen und verstehen können, nicht berührt werde. Vorliegend sei das zusätzliche Vorlesen einzelner schriftlicher Aufgabenstellungen ab dem Schuljahr 2016/2017 nicht mehr als Maßnahme des Nachteilsausgleich zulässig, da der Kläger zu diesem Zeitpunkt bereits die 8. Klasse besucht habe. In den höheren Klassen (ab Jahrgangsstufe 7) der Mittelschule, der Realschule, des Gymnasiums und an den beruflichen Schulen gehöre das selbständige Lesen und Erschließen eines Textes zum fundamentalen Kern der Leistung, das Vorlesen der Aufgabenstellung durch die Lehrkraft würde demnach das Anforderungsniveau der entsprechenden Schulart und Jahrgangsstufe nicht wahren. Demzufolge könne bei einer Lese-Rechtschreibstörung in höheren Jahrgangsstufen das Vorlesen nicht als Maßnahme des Nachteilsausgleichs eingesetzt werden, da hier die Grenze zum Notenschutz überschritten wäre.
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Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass der Einwand, der Nachteilsausgleich sei auf nicht rechtmäßige Weise erfolgt, zudem als verspätet zurückzuweisen wäre. Das Prüfungsrechtsverhältnis umfasse auch zahlreiche Pflichten und Obliegenheiten des Prüflings bzw. seiner gesetzlichen Vertreter. Eine Mitwirkungspflicht zur Anzeige von Prüfungsmängeln resultiere mithin unmittelbar aus dem Prüfungsrechtsverhältnis, so dass nach ständiger Rechtsprechung das Unterlassen einer zumutbaren zeitnahen Rüge eines Fehlers die spätere Berufung auf die Beachtlichkeit des Fehlers verwehren könne. Unterstelle man hier eine fehlerhafte Gewährung des Nachteilsausgleichs, wäre den Eltern eine zeitnahe Rüge des aus Klägersicht unzureichenden Nachteilsausgleichs möglich und zumutbar gewesen. An der tatsächlichen Möglichkeit zur Rüge beständen keine Zweifel. Selbst wenn man unterstelle, der Bescheid sei nie bekannt gegeben geworden, so wäre es den Eltern des Klägers zu jeder Zeit möglich gewesen, die tatsächlichen Prüfmodalitäten durch Nachfragen bei dem Kläger und insbesondere bei dessen Lehrerinnen und Lehrern in Erfahrung zu bringen.
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Mit Schriftsatz vom 6. November 2018, eingegangen bei Gericht am 27. November 2018, erhob der Bevollmächtigte des Klägers Klage und beantragte,
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den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 2. Oktober 2018 aufzuheben und die Jahreszeugnisse vom 28. Juli 2017 und 27. Juli 2018 nach den Vorgaben des Gerichts abzuändern.
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Zur Begründung wird unter anderem ausgeführt, der Kläger sei ausweislich der in der Akte befindlichen Atteste zur Bescheinigung einer Lese- und Rechtschreibstörung förderungsbedürftig. Laut einer Bescheinigung solle dem Kläger ein Zeitzuschlag von 50% bei den schriftlichen Leistungskontrollen gewährt werden. Dieser sei für den Kläger zentral, da eine Schwäche in der Verarbeitungsgeschwindigkeit bestehe. Außerdem sollten Lese- und Rechtschreibleistung, sowohl in Deutsch als auch in den Fremdsprachen, nicht in die Benotung einfließen. Auch das Vorlesen von Aufgaben und Texten durch den Lehrer oder alternative Medien (bspw. eines Tonträgers) führe zu einer Entlastung des Schülers. Nachdem der verfassungsgebende Gesetzgeber den Staat ausdrücklich verpflichtet habe, „für gleichwertige Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung zu sorgen“, sei der dem Kläger zu gewährende Nachteilsausgleich bereits verfassungsrechtlich und grundgesetzlich geboten. Daraus ergäbe sich im vorliegenden Fall ein Rechtsanspruch auf ausgleichende Maßnahmen (Legasthenie bei Leistungsbewertung). Der Bescheid vom 2. Oktober 2018 verstoße sowohl gegen Schulrecht als auch Verfassungsrecht. Die Ausgangssituation und der Sachverhalt seien bereits unvollständig und tatsachenwidrig beschrieben. Auch die rechtliche Begründung versuche die eigentliche Problematik auszublenden, dass lediglich ein Zeitzuschlag i.H.v. 25% gewährt worden sei und die in der BaySchO erwähnte Möglichkeit zur Gewährung von Nachteilsausgleich „einzelne schriftliche Aufgabenstellungen zusätzlich vorzulesen“ äußerst formalistisch und nicht auf den individuellen Einzelfall bezogen abgelehnt worden sei. Völlig unzureichend sei, dass angebliche Äußerungen des Klägers „dem Schulpsychologen gegenüber“ zur Grundlage von Entscheidungen der Schule gemacht worden seien und - falls das nicht ausreiche - der Einwand des Nachteilsausgleichs als „verspätet zurückgewiesen werde“. Die Mutter des Klägers habe ständig mit den Verantwortlichen des Kultusministeriums korrespondiert, beispielhaft werde eine E -Mail vom 12. Februar 2017 vorgelegt. Die Mutter des Klägers habe sich intensiv um die Kommunikation gekümmert. Sie habe ständig mit dem Klassenlehrer per E-Mail kommuniziert, anschließend mit der nächsten Klassenlehrerin. Sie habe im Antrag vom 12. Dezember 2016 darum gebeten, dass ihr die schulpsychologische Stellungnahme vom 20. Dezember 2016 zugesandt werde. Das sei nicht geschehen. Das wäre aber wichtig gewesen, um auf Veränderungen reagieren zu können. Auch als die Mutter des Klägers im Schuljahr 2017/2018 erneut um die Übersendung gebeten habe, habe dies die Lehrerin verweigert. Insbesondere sei auch die Einsicht in Unterlagen verweigert worden. Die Lehrerin habe zugesagt, den Bescheid über den Schulpsychologen zuschicken zu lassen. Der angebliche Bescheid vom 28. Juli 2017 sei der Mutter des Klägers ebenfalls nicht zugegangen. Die Folge des rechtswidrigen Widerspruchsbescheids und die rechtsfehlerhaft zustande gekommenen Jahreszeugnisse vom 28. Juli 2017 und 27. Juli 2018 hätten auch zu einem weiteren Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 23. November 2018 geführt, in dem angeregt worden sei, dass sich die Mutter des Klägers „bei der staatlichen Schulberatungsstelle Oberbayern-Ost über die weitere Schullaufbahn ihres Sohnes und die Möglichkeiten, einen erfolgreichen Abschluss der Mittelschule zu erwerben, beraten lassen“ möge. Auch am 23. September 2018 habe sich die Mutter des Klägers wegen „dringender Fragen bezüglich Nachteilsausgleich“ an das Staatsministerium für Unterricht und Kultus gewendet. Der zuständige Schulpsychologe habe im Schuljahr 2016/2017 telefonisch Kontakt mit der Mutter des Klägers gehabt. Es sei besprochen worden, dass „das Häkchen bei Vorlesen für Felix eklatant wichtig sei“. Der Schulpsychologe habe versprochen, es wieder einzufügen. Die Schulleiterin habe erst nach dem Weggang des Schulpsychologen am 28. Juli 2017 einen Bescheid unterzeichnet, der „das Häkchen bei Vorlesen für Felix“ nicht beinhalte. Dies sei bei einer verfassungskonformen Auslegung der Rechtsvorschriften und unter Einbeziehung der ärztlichen Stellungnahme vom 25. September 2013 rechtsfehlerhaft. Die Noten seien nur die Konsequenz des nicht - entsprechend den ärztlichen Empfehlungen - gewährten Nachteilsausgleichs und der Tatsache, dass die Möglichkeiten der individuellen Unterstützung der einzelnen Lehrkraft oblegen hätten. Auch seien, trotz Anregung der Mutter des Klägers an die zuständige Schulpsychologin, die aktuellen Programme zum automatisierten Vorlesen am Computer, also die digitalen Möglichkeiten von der Stadt M. zum „lehrerunabhängigen“ Vorlesen, nicht genutzt worden.
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Die Beklagte beantragt,
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Die angegriffenen Bescheide in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 2. Oktober 2018 seien sowohl in formeller als auch materieller Hinsicht rechtmäßig. Diesbezüglich werde zur Vermeidung von Wiederholungen auf die ausführliche Begründung des Widerspruchsbescheids verwiesen.
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Das Gericht hat am 5. Juli 2022 zur Sache mündlich verhandelt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, auf die vorgelegte Behördenakte und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage hat keinen Erfolg.
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Der Klageantrag richtet sich sinngemäß auf eine Verpflichtung der Beklagten zur Abänderung der streitgegenständlichen Jahreszeugnisse. Dieses mit dem gerichtlichen Verfahren verfolgte Klageziel entspricht nicht der materiellen Rechtslage, da der Kläger den konkreten Anspruch in der gegebenen Situation nicht geltend machen kann (§§ 82 Abs. 1 Satz 2, 88 VwGO; vgl. Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 821). Der Kläger begehrt mit seinem Antrag auf Abänderung der Jahreszeugnisse vom 28. Juli 2017 und 27. Juli 2018 bereits einen Anspruch, der im vorliegenden Verfahren nicht erreicht werden kann. Denn dem Klagebegehren wird geltend gemacht, dass der Nachteilsausgleich in den Schuljahren 2016/2017 und 2017/2018 dem Kläger nicht in dem ihm zustehenden Umfang gewährt worden sei. Es wird damit ein Verfahrensfehler geltend gemacht. Verfahrensverstöße, die Fehler im Verfahren zur Ermittlung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Prüflings betreffen, sind in der Regel nicht geeignet, einen Anspruch auf eine Neu- und Besserbewertung der Prüfungsleistung zu bewirken. Denn Verfahrensfehler können grundsätzlich nicht zu einer Neubewertung der erbrachten Prüfungsleistung führen, sondern nur zu einer erneuten Prüfung. Ein bei der Leistungserhebung unterlaufener Fehler lässt sich auch nicht durch eine Änderung des Bewertungsmaßstabes oder durch Zugrundelegung fiktiver Leistungen ausgleichen (vgl. insgesamt Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 500; BVerwG, U.v. 22. Juni 1994 - 6 C 37/92 - juris Rn. 25; OVG NW U.v. 25.8.2011 - 14 A 2189/09 - juris Rn. 40ff; BayVGH B.v. 27.6.2018 - 22 CE 18.1073 - juris Rn. 21), so dass der Klageantrag bereits aus diesem Grund erfolglos bleiben musste.
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Im Übrigen erweisen sich die Zeugnisse des Klägers in den Schuljahren 2016/2017 und 2017/2018 und der Widerspruchsbescheid vom 2. Oktober 2018 als rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Der Kläger kann auch nicht verlangen, die Leistungsnachweise erneut abzulegen, da keine substantiierten und zeitnah erhobenen Rügen bezüglich der Ermittlung der einzelnen Noten erhoben worden sind.
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Um Wiederholungen zu vermeiden, wird zunächst auf die zutreffenden Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 2. Oktober 2018 Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO).
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§ 15 Abs. 2 Schulordnung für die Schulen besonderer Art (BesASO) setzt für die Aufnahme nach der Jahrgangsstufe 8 in die abschlussbezogene Klasse, die sich am Bildungsgang der Realschule orientiert, folgende Jahresfortgangsnoten voraus:
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1. In den Kernkursen Religionslehre bzw. Ethik, Biologie, Geschichte und Erdkunde zweimal mindestens die Note 3 und zweimal mindestens die Note 4,
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2. in den leistungsdifferenzierten Kursen Deutsch, Englisch und Mathematik in den A-Kursen in höchstens einem Fach die Note 5, in den B-Kursen mindestens die Note 4 oder in den C-Kursen mindestens die Note 2,
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3. im Wahlpflichtkurs Physik und in den Profilfächern der jeweiligen Ausbildungsrichtung mindestens die Note 4.
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Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Eignung für den Übertritt nach der Jahrgangsstufe 8 erfüllte der Kläger mit seinen Zeugnissen in den Schuljahren 2016/2017 und 2017/2018 unstrittig nicht.
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Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Notengebung in den Schuljahren nicht rechtmäßig erfolgt ist, weil der dem Kläger eingeräumte Nachteilsausgleich fehlerhaft bemessen gewesen wäre. Auf eine eventuell fehlerhafte Gewährung von Nachteilsausgleich kann sich die Klagepartei bereits deswegen nicht berufen, da die Einwendungen zu spät und zu wenig substantiiert erhoben wurden.
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Unstrittig liegt beim Kläger eine Rechtschreib- und Leseschwäche vor, die zur Einräumung eines Nachteilsausgleiches geführt hat.
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Auf den geltend gemachten fehlerhaft gewährten Nachteilsausgleich in den Schuljahren 2016/2017 und 2017/2018 kann sich der Kläger bereits deshalb nicht mehr berufen, da er es unterlassen hat, eine ihm zumutbare zeitnahe Rüge eines Fehlers im Prüfungsverfahren zu tätigen. Mängel des Prüfungsverfahrens muss ein Prüfling grundsätzlich - auch wenn dies nicht normativ bestimmt ist - unverzüglich rügen. Insoweit obliegt ihm eine Mitwirkungspflicht (BVerwG, U.v. 27.4.1999 - 2 C 30/98 - juris Rn. 26). Verfahrensmängel, welche die Grundlagen und den Aussagewert der anstehenden Leistungskontrolle nicht in Frage stellen, können vom Prüfling hingenommen werden, indem er bewusst auf eine mögliche Verfahrensrüge verzichtet. Dies gilt insbesondere, wenn Verfahrensregelungen missachtet worden sind, die den Prüfling begünstigen (vgl. insgesamt Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 487). Für den Prüfling und sein Verhalten in der Prüfung gilt der Grundsatz von Treu und Glauben, der in § 242 BGB zum Ausdruck kommt, aber auch im öffentlichen Recht zu beachten ist. Danach darf der Prüfling sich nicht in Widerspruch zu seinem eigenen Verhalten setzen, z.B. einer bestimmten Ausgestaltung des Prüfungsverfahrens zustimmen und diese später beanstanden (Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 216). Mit dem unverzüglichen Rügegebot soll einerseits verhindert werden, dass der betroffene Prüfling, indem er in Kenntnis des Verfahrensmangels zunächst die Prüfung fortsetzt und das Prüfungsergebnis abwartet, sich eine ihm nicht zustehende Option einer weiteren Prüfungschance verschafft, wodurch im Verhältnis zu den anderen Prüflingen die Chancengleichheit verletzt würde. Andererseits dient die Obliegenheit, den Verfahrensmangel unverzüglich geltend machen zu müssen, dazu, der Prüfungsbehörde eine eigene, möglichst zeitnahe Überprüfung des gerügten Mangels mit dem Ziel einer schnellen - meist nur so möglichen - Aufklärung und rechtzeitigen Korrektur oder zumindest Kompensation des festgestellten Mangels zu ermöglichen, um auf diese Weise die Chancengleichheit auch gegenüber den anderen Prüflingen zu sichern (BVerwG, U.v. 27.4.1999 - 2 C 30/98 - juris Rn. 26; BVerwG, U.v.22.6.1994 - 6 C 37/92 - juris Rn. 18; insgesamt: Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 218; BVerwG, U.v. 24.2.2021 - 6 C 1.20 - juris Rn. 28 hinsichtlich Dauerleiden). Eine Rüge ist rechtzeitig, wenn sie unverzüglich erhoben wurde, wobei grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen ist. Unverzüglich in diesem Sinne bedeutet „ohne schuldhaftes Zögern“. Eine Rüge ist nicht mehr unverzüglich, wenn der Prüfling die Erklärung nicht zu dem frühestmöglichen Zeitpunkt abgegeben hat, zu dem sie von ihm in zumutbarer Weise hätte erwartet werden können (Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 283).
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Die Klagepartei machte erstmals mit E-Mails vom 11. Juli 2018, 16. Juli 2018 und 25. Juli 2018 geltend, dass der Nachteilsausgleich aus ihrer Sicht nicht ausreichend gewährt worden sei. Weitere E-Mails, die von der Klagepartei vorgelegt wurden, wie z.B. die E-Mail vom 12. Februar 2017, enthielten keine konkreten Ausführungen hinsichtlich des dem Kläger zugestandenen Nachteilsausgleichs und waren zudem nicht an die Schule, sondern an das Staatsministerium für Unterricht und Kultus gerichtet. Die Mutter des Klägers hatte diese im Rahmen einer von ihr getätigten Anfrage des Bayerischen Elternverbandes an das Staatsministerium gerichtet. Belege für weitere Rügen können den Akten nicht entnommen werden.
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Der Kläger hat somit in keiner konkreten Prüfung gerügt, dass der Nachteilsausgleich für ihn nicht ausreichend sei und anders gewährt hätte werden müsse. Die Beklagtenpartei trägt zudem vor, dass der Kläger den gewährten Zeitzuschlag von 25% zumeist nicht in Anspruch genommen habe. Für die Schule und die Lehrkräfte war im vorliegenden Fall daher nicht erkennbar, dass der Kläger eine weitere Zeitverlängerung bzw. das Vorlesen von Texten benötigt. Selbst von der Klagepartei wird nicht vorgetragen, dass der Kläger oder seine Eltern bei einer konkreten Prüfung Verfahrensfehler moniert hätten. Eine Rüge bezüglich des Nachteilsausgleich wurde demnach erst im Juli 2018, also zum Ende des zweiten streitgegenständlichen Schuljahres, als die Befürchtung im Raum stand, dass der Kläger zum zweiten Mal die Anforderungen für den Realschulzweig der 9. Klasse nicht erreichen werde, der Schule zur Kenntnis gegeben.
32
Eine Rüge hinsichtlich des Nachteilsausgleichs hätte auch erfolgen können, ohne dass es auf die Bekanntgabe des Bescheides vom 25. Juli 2017 ankommt. Der Kläger und seine Eltern wussten, dass dem Kläger ein Nachteilsausgleich wegen seiner Lese- und Rechtschreibstörung gewährt bzw. ein solcher beantragt worden war. Wäre es zu Problemen der Ausgestaltung des Nachteilsausgleiches in den schulischen Prüfungen gekommen oder hätte ein Interesse bestanden, die genaue Art der Gewährung des Nachteilsausgleiches zu hinterfragen, wäre es die Obliegenheit der Klagepartei gewesen, entweder den entsprechenden Bescheid anzufordern oder zu erkennen, dass der gewährte Nachteilsausgleich nicht den Bedürfnissen des Klägers entsprochen hat. Dann hätte eine zeitnahe Geltendmachung erfolgen können und müssen. Es war dem Kläger bzw. seinen Eltern möglich und zumutbar, zu erkennen, ob ihm die gewährte Arbeitszeit nicht ausgereicht hat oder er ohne Vorlesen der Aufgabe nicht zurechtgekommen ist und dann zeitnah eine entsprechende Rüge an die Schule zu richten. Auch für einen rechtlichen Laien ist es zumutbar, sich zeitnah an die Schule zu wenden, wenn gesehen wird, dass die im Rahmen des Nachteilsausgleichs gewährten Erleichterungen für den Schüler nicht ausreichen. Dann hätte die Möglichkeit für die Schule bestanden, hierauf zu reagieren und gegebenenfalls Änderungen vorzunehmen. Es ist in diesem Zusammenhang nicht vorstellbar, dass sich die Eltern des Klägers, insbesondere die in den Fragen des den Kläger betreffenden Nachteilsausgleichs engagierte Mutter, sich beim Kläger nach Prüfungen, deren Termine bekannt gewesen sein müssen, nie danach erkundigt hat, ob er bei der Bearbeitung der Aufgaben mit der ihm zur Verfügung stehenden Zeit zurecht gekommen ist bzw. dass sich der Kläger nicht von sich aus an die Mutter gewandt hätte, wenn er Schwierigkeiten bei der Bearbeitung gehabt hätte. Auch die vom Kläger erzielten Noten wären Anlass gewesen, sich über Art und Umfang des Nachteilsausgleichs zu erkundigen und dann erforderlichenfalls entsprechende konkrete Rügen zu erheben. Es ist auch nicht ersichtlich, dass dies nicht möglich oder nicht zumutbar gewesen sein sollte.
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Trägt ein Kläger vor, die Ausgleichsmaßnahmen im Rahmen eines Nachteilsausgleiches seien nicht im gebotenen Umfang erfolgt, so macht er Verfahrensfehler zu seinem Nachteil geltend. Insofern trifft den Kläger bereits aus dem Prüfungsrechtsverhältnis eine Pflicht, den Verfahrensfehler substantiiert geltend zu machen. Im Übrigen hat die Klagepartei die Obliegenheit der Beteiligten, die in ihre Sphäre fallenden, entscheidungserheblichen und gegebenenfalls beweisbedürftigen Tatsachen möglichst umfassend vorzutragen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 86 Rn. 11). Bei dem Vortrag der Klagepartei sowohl im Verwaltungsverfahren als auch im Klageverfahren bleibt völlig offen, bei welchen Prüfungen, in welchen Fächern, von welchen Lehrkräften der Nachteilsausgleich nicht oder fehlerhaft gewährt worden sein soll. Es werden von der Klagepartei auch keine konkreten Anhaltspunkte hinsichtlich fehlerhaft festgesetzter Jahrgangsnoten oder einzelner Prüfungsentscheidungen dargelegt. Es fehlt zudem an jeglichem Vortrag dahingehend, dass eine konkrete Prüfung in einem bestimmten Fach nicht verfahrensmäßig durchgeführt worden sei und deshalb ein bestimmter Leistungsnachweis erneut abzulegen wäre.
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Aus den dargestellten Gründen war die Klage daher mit der Kostenfolge des § 154 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.