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VG München, Urteil v. 04.02.2022 – M 22 K 16.35785
Titel:

Erfolglose Asylklage eines nachgeborenen staatenlosen Palästinensers (Libanon, UNRWA)

Normenkette:
AsylG § 3, § 4
Leitsatz:
Es kann nicht angenommen werden, dass das UNRWA staatenlosen Palästinensern im Libanon keinen Schutz bzw. Beistand gewährt. (Rn. 20 – 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
im Bundesgebiet geborener, staatenloser Palästinenser, Schutz und Beistand durch das UNRWA im Libanon, ipso-facto Anerkennung als Flüchtling (verneint), subsidiärer Schutz (verneint), Abschiebungsverbote (verneint), nachgeborenes Kind, Libanon, UNRWA, ipso-facto-Anerkennung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 19331

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzes und weiter hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbots.
2
Für den am … … … in Deutschland geborenen Kläger galt am … … … ein Asylantrag als gestellt. Mit dem Antrag wurde sowohl die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) im Sinne des §1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als auch die Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG begehrt.
3
Zur Begründung des Antrags wurden für den Kläger keine individuellen Gründe vorgetragen, sondern auf die Ausführungen seiner Eltern in deren Asylverfahren Bezug genommen. Die Verfahrensakte der Eltern, die unter anderem auch eine UNRWA-Registrierungskarte enthält, wurde zum Asylverfahren des hiesigen Klägers beigezogen.
4
Die Eltern und die Geschwister des Klägers - staatenlose Palästinenser arabischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens mit ursprünglichem gewöhnlichem Aufenthalt im Südlibanon (Flüchtlingscamp … … bei …) - reisten am … … … auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am … … und am … … … förmlich Asylanträge.
5
Mit Bescheid vom … … … lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) den Asylantrag von den Eltern und vier minderjährigen Geschwistern des Klägers ab.
6
Den Asylantrag des Klägers lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom … … … ab (Nummern 1 bis 4 des Bescheids). Es drohte dem Kläger die Abschiebung nach Libanon an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß §11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nummern 5 und 6 des Bescheids). Zur Begründung verweist das Bundesamt unter anderem auf die Ausführungen im Ablehnungsbescheid der Eltern und Geschwister vom … … …, wonach es den Eltern des Klägers aufgrund derer individuellen Umstände möglich sei, im Libanon für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen.
7
Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten und vertreten durch seine Eltern erhob der Kläger am … … … Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München. Er stellt folgende Anträge:
1. Der Bescheid des Bundesamts vom … … … wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Hilfsweise wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz zu gewähren, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote vorliegen.
8
Die Klage wurde nicht gesondert begründet. Der Bevollmächtigte wies lediglich daraufhin, dass gegen den gegenüber den Eltern und Geschwistern ergangenen Bescheid vom … … … ebenfalls Klage erhoben worden sei (… …).
9
Mit Beschluss vom … … … hat das Gericht dem Antrag des Klägers auf Prozesskostenhilfe unter Beiordnung dessen Bevollmächtigten stattgegeben.
10
In der mündlichen Verhandlung vom … … … wurden das hiesige Verfahren mit dem Verfahren der Eltern und Geschwister des Klägers (… …) sowie der volljährigen Halbschwester des Klägers (… …) zur gemeinsamen Verhandlung verbunden. Die Eltern des Klägers wurden getrennt voneinander informatorisch angehört. Wegen der Einzelheiten deren Einlassungen wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
11
Mit Urteilen vom … … … wies das Gericht die Klagen der Eltern und Geschwister sowie der Halbschwester des Klägers ab.
12
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Gerichtssowie die vorgelegten Behördenakten im hiesigen Verfahren sowie in den Verfahren der anderen Familienangehörigen (… …; … …) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

13
Das Gericht konnte aufgrund der Zustimmung der Beteiligten durch die Berichterstatterin anstelle der Kammer entscheiden (§ 87a Abs. 2 und Abs. 3 VwGO).
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
14
Der Bescheid vom … … … ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
15
In dem nach §77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §3 AsylG, auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach §4 AsylG oder auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach §60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Des Weiteren ist auch die erlassene Abschiebungsandrohung ebenso wenig zu beanstanden wie die Dauer der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach §11 Abs. 1 AufenthG, die zugleich die Anordnung eines solchen Verbotes darstellt.
16
Das Gericht folgt zur Vermeidung von Wiederholungen der zutreffenden Begründung des angefochtenen Bescheids und nimmt Bezug darauf (§ 77 Abs. 2 AsylG). Entsprechend §117 Abs. 5 VwGO wird ferner auch auf die Gründe im Urteil des Gerichts vom … … … im Verfahren der Eltern und Geschwister (… …) verwiesen.
Lediglich ergänzend ist auszuführen:
17
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §3 AsylG.
18
1.1. Der Kläger ist von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §3 Abs. 1AsylG ausgeschlossen. Denn er gehört - unabhängig von seiner Geburt in Deutschland - als Kind, dessen Eltern bei dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) registriert sind und als Palästina-Flüchtlinge dessen Schutz „kurz vor Einreichung eines Asylantrags in einem Mitgliedstaat“ tatsächlich in Anspruch genommen haben, ebenfalls zum geschützten Personenkreis (EuGH, U.v. 19.12.2012 - El Kott, C-364/11 - juris Rn. 52; OVG NW, U.v. 26.11.2020 - 14 A 2258/18.A - juris Rn. 28 ff.). Für die Schutzgewährung ist nämlich unerheblich, ob die Eltern des Klägers das Operationsgebiet des UNRWA verlassen haben (vgl. EuGH, U.v. 19.12.2012 - El Kott, C-364/11 - juris Rn. 49; BVerwG, U.v. 25.4.2019 - 1 C 28.18 - juris Rn. 20). Der Kläger kommt damit in den Genuss des Schutzes und Beistands des UNRWA, sodass die Voraussetzungen der Ausschlussklausel des §3 Abs. 3 Satz 1 AsylG insoweit erfüllt sind.
19
1.2. Dem Kläger kann die Flüchtlingseigenschaft auch nicht ipso facto zuerkannt werden, weil das Gericht nicht die Überzeugung gewinnen konnte, dass die Voraussetzungen der sog. Einschlussklausel des §3 Abs. 3 Satz 2 AsylG hinsichtlich des Klägers gegeben sind (zuletzt BVerwG, U.v. 27.5.2021 - 1 C 2.21 - juris Rn. 12 mit Verweis auf EuGH, U.v. 13.1.2021 - XT, C-507/19 - juris Rn. 51).
20
Unter Zugrundelegung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel kann nicht angenommen werden, dass das UNRWA zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt staatenlosen Palästinensern im Libanon keinen Schutz bzw. Beistand gewährt. Es ist nicht ersichtlich, dass es dem Kläger unmöglich und unzumutbar ist, sich dem Schutz im Operationsgebiet des UNRWA im Libanon im Familienverbund zu unterstellen.
21
Unter Berücksichtigung der aktuellen Verhältnisse im Libanon (vgl. dazu die Ausführungen von VG Göttingen, U.v. 22.12.2021 - 1 A 74/21 - juris Rn. 29 ff.) und nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (insbesondere des familiären Netzwerks, des vorhandenen Obdachs und der geringen, aber weiterhin vorhandenen Unterstützung durch das UNRWA und weitere karitative Organisationen) konnte nicht festgestellt werden, dass der Kläger mit menschenunwürdigen Lebensbedingungen, die den nach der Rechtsprechung erforderlichen Mindestmaß an Schwere erreichen (vgl. zum Maßstab BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris Rn. 11 f. m.w.N.), konfrontiert wird.
22
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach §4 Abs. 1 Satz 1 AsylG (der von der Ausschlussklausel in §3 Abs. 3 Satz 1 AsylG nicht erfasst ist).
23
Es wurden keine stichhaltigen Anhaltspunkte vorgebracht, dass dem Kläger bei einer Rückkehr im Familienverbund im Libanon ein ernsthafter Schaden droht. Trotz der instabilen innenpolitischen Lage lässt sich eine hinreichende Gefährdung des Klägers und seiner Großfamilie infolge willkürlicher Gewalt bei einer Rückkehr in den Libanon nicht feststellen. Ihnen steht es vielmehr frei, sich im Libanon in eines der zwölf UNRWA-Lager zu begeben und dort ohne Gefahr einer ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt zu leben.
24
3. Im entscheidungserheblichen Zeitpunkt kann der Kläger auch nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach §60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Libanons beanspruchen.
25
Wie bereits oben (sowie im Urteil des Gerichts vom … … … zum Verfahren der Eltern und Geschwister des Klägers) geschildert, sind vorliegend keine ernsthaften und stichhaltigen Gründe dafür ersichtlich, dass der Kläger im Fall seiner Abschiebung im Familienverbund tatsächlich Gefahr läuft, im Libanon einer Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
26
4. Die Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig, weil sie den Anforderungen der §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. §59 AufenthG entspricht.
27
5. Rechtliche Bedenken gegen das gemäß §75 Nr. 12 AufenthG i.V.m. §11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot bestehen nicht.
28
6. Die Kostenfolge ergibt sich aus §154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben, §83 b AsylG.
29
7. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.