Titel:
Kostenerstattung, Mehrfachbehinderung, Pflegestufe, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Unterbringung in heilpädagogischer Wohngruppe für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen, Schwerpunkt der Leistung
Normenketten:
SGB IX in der Fassung vom 23.4.2004 § 14 Abs. 4 S. 1
SGB VIII § 10 Abs. 1 S. 1
SGB VIII § 35a
SGB IX in der Fassung vom 20.12.2011 § 33 Abs. 7 Nr. 1
Schlagworte:
Kostenerstattung, Mehrfachbehinderung, Pflegestufe, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, Unterbringung in heilpädagogischer Wohngruppe für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen, Schwerpunkt der Leistung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 19328
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt vom Beklagten als Jugendhilfeträger die Erstattung der Kosten für die Unterbringung des Leistungsempfängers während einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme in einer heilpädagogischen Wohngruppe für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen vom 30. August 2015 bis 29. Juli 2016.
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Bei dem am ...1999 geborenen Leistungsempfänger wurde mit fachärztlichem Gutachten vom 22. Oktober 2013 ein Asperger-Syndrom (ICD-10: F 84.5), Entwicklungsverzögerung in Sprache und Motorik, niedrige Intelligenz (Gesamt-IQ: 72) sowie eine durchgängige soziale Beeinträchtigung diagnostiziert. Des Weiteren wurde durch den MDK Bayern für den Leistungsempfänger ab Dezember 2014 eine Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI mit der Pflegestufe 1 festgestellt.
3
Der Leistungsberechtigte nahm nach dem Abschluss der Förderschule (wohl) vom 15. September 2014 bis 14. August 2015 an einer von der Klägerin bewilligten ambulanten rehaspezifischen Berufsvorbereitung teil. Nachdem die Eltern des Leistungsempfängers im August 2015 mit der Klägerin Kontakt hatten, wurde von dieser festgestellt, dass für den Leistungsempfänger im Folgenden eine berufsvorbereitende Maßnahme im Berufsbildungswerk A. in R., welches auf die berufliche Förderung zur Eingliederung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen ausgerichtet ist, als geeignetste Maßnahme erachtet werde. Hierzu sei die Unterbringung des Leistungsempfängers in einer therapeutischen Wohngruppe des Berufsbildungswerkes A. zwingend erforderlich.
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Die Klägerin verwies die Eltern hinsichtlich der Bewilligung der therapeutischen Wohngruppe an den Beklagten, da dieser hierfür zuständiger Kostenträger sei.
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Die Eltern des Leistungsempfängers beantragten daraufhin am 5. August 2015 für diesen bei dem Beklagten die Gewährung von Jugendhilfe nach dem SGB VIII in Form der Bewilligung der Unterbringung in der Wohngruppe für Menschen mit Autismus des Berufsbildungswerkes A.
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Die Klägerin meldete den Leistungsempfänger mit Schreiben vom 12. August 2015 bei dem Berufsbildungswerk für eine rehaspezifische Berufsvorbereitung mit Internatsunterbringung vom 31. August 2015 bis 29. Juli 2016 an.
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Der Beklagte leitete nach internen Beratungen den Antrag des Leistungsempfängers vom 5. August 2015 mit Schreiben vom 17. August 2015 nach § 14 SGB IX an die Klägerin weiter. Sachlich zuständiger Rehabilitationsträger für die BvB-Maßnahme und die angegliederte Unterbringung im Wohnheim sei die Klägerin.
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In einer gutachterlichen Äußerung eines Medizinaldirektors der Klägerin vom 20. August 2015 wurde festgestellt, dass aufgrund der bei dem Leistungsempfänger bestehenden schwerwiegenden Mehrfachbehinderung (Asperger-Syndrom, niedrige Intelligenz (Gesamt IQ: 72), Entwicklungsverzögerung der Sprache und Motorik (Feinmotorikstörung) aus sozialmedizinischer Sicht eine Internatsunterbringung mit dem üblichen Betreuungsschlüssel von 1:8 keinesfalls ausreichend sei. Erforderlich sei eine Unterbringung mit einem heilpädagogischen Rahmen in einer spezialisierten Einrichtung für Menschen mit Autismus.
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In einem ergänzenden psychologischen Gutachten vom 21. August 2015 wird ausgeführt, dass es dem Leistungsempfänger aufgrund der bestehenden Einschränkungen nicht möglich und zumutbar sein werde, zu einer ausbildenden Berufseinrichtung täglich zu pendeln. Insofern sei eine internatsmäßige Unterbringung zwingend erforderlich. Die Alltagskompetenz des Leistungsempfängers sei nach dem aktuellen Gutachten des MDK Bayern als in erhöhtem Maße eingeschränkt eingestuft worden. Diese Einschätzung beziehe sich darauf, dass der Leistungsempfänger intensivere Unterstützung bei den Verrichtungen des täglichen Bedarfs wie Körperhygiene (Waschen, Zähneputzen, Rasieren, Toilettengang, Nahrungszubereitung) benötige. Ihm sei aus diesem Grund die Pflegestufe 1 zuerkannt worden. Mit einem Betreuungsschlüssel von 1:8 könne in keiner Weise sichergestellt werden, dem hohen täglichen Betreuungsaufwand für den Leistungsempfänger gerecht zu werden. Da sich der Betreuungsaufwand nicht nur auf die individuelle, regelmäßige Anleitung seines konkreten Verhaltens, sondern vor allem auf die tägliche Körperhygiene beziehe, erscheine es wenig realistisch, dass dies im erforderlichen Maße bei einem Betreuungsschlüssel von 1:8 leistbar sei. Die Auswirkungen einer unzureichenden Betreuung würden sich in der seelischen Verfassung und Belastbarkeit und der sich daraus ableitenden weiteren Entwicklung des Leistungsempfängers widerspiegeln. Aus diesen Gründen werde unter psychologischen Aspekten die intensive, ganzheitliche Betreuung durch eine heilpädagogische Wohngruppe mit einem wesentlich engmaschigeren Betreuungsschlüssel von maximal 1:2,5 für zwingend erforderlich erachtet.
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Entsprechend einem internen Aktenvermerk der Klägerin vom 25. August 2015 sei mit dem Berufsbildungswerk A. vereinbart worden, dass die Klägerin vorerst die Kosten für die heilpädagogische Unterbringung des Leistungsempfängers in Höhe von einem Tagessatz von 151,70 EUR erstatten werde.
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Der Leistungsempfänger begann ab 30. August 2015 mit der Maßnahme.
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In dem Qualifizierungsplan 2 des Berufsbildungswerkes A. vom 22. März 2016 wird u.a. ausgeführt, dass der Leistungsempfänger in seiner Wohngruppe, bestehend aus fünf Jungs, gut angekommen sei. Er fühle sich wohl und sei auch von seinen Mitbewohnern akzeptiert und anerkannt. Durch seinen Humor sei er recht beliebt, er beteilige sich in der Regel aktiv an den Gruppenaktivitäten, auch an der Fitness AG nehme er teil. Er habe einen Strukturplan, der ihn in seiner Selbstständigkeit unterstütze, mithilfe seiner Erzieher lerne er Wäsche waschen, Einkaufen, Kochen usw. Sein Zimmer und auch seinen Schrank könne er meist gut in Ordnung halten. Viele der anstehenden Aufgaben übernehme er freiwillig, er bringe sich aktiv in das Gruppengeschehen ein und beteilige sich gerne an Freizeitaktivitäten. Durch ein Chipsystem solle der Leistungsempfänger mehr Eigeninitiative bezüglich Duschen und Zähneputzen entwickeln, was schrittweise auch gelinge. Er benötige jedoch nach wie vor eine engmaschige Betreuung und eine kontinuierliche Begleitung, damit seine Entwicklung weiter anhalte und er ab Sommer in eine Ausbildung einsteigen könne. Dazu gehöre, dass er auch künftig in seiner ihm vertrauten Wohngruppe bleiben könne. Zusätzlich sei es wichtig, dass er weiterhin am sozialen Kompetenztraining für Menschen mit Autismus teilnehme.
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In dem Qualifizierungsplan 3 der Einrichtung vom 27. Juni 2016 wird ausgeführt, dass sich der Leistungsempfänger in der Wohngruppe zunehmend wohler fühle und Fortschritte mache, insbesondere was seine Selbstständigkeit angehe. Er benötige aber im Hinblick auf seine Ausbildung ab Sommer 2016 nach wie vor ein gezieltes pädagogisches und sozialpädagogisches Programm in Werkstatt, Schule und Wohnheim. Konstante Bezugspersonen sowie eine enge Begleitung für die Bereiche Wohnen und Freizeit seien insbesondere im Hinblick auf den Wechsel in die Einmündung in eine Ausbildung sehr wichtig.
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Mit Schreiben vom 27. Juli 2016 machte die Klägerin gegenüber dem Beklagten einen Erstattungsanspruch dem Grunde nach gemäß § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX geltend.
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Der Beklagte bestätigte mit Schreiben vom 10. August 2016 den Eingang des Schreibens und erklärte, auf die Geltendmachung der Einrede der Verjährung zu verzichten.
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Die Klägerin bezifferte gegenüber dem Beklagten mit Schreiben vom 30. August 2017 den Erstattungsbetrag für erbrachte Leistungen für die Zeit vom 30. August 2015 bis 29. Juli 2016 auf 48.430,54 EUR. Dem Schreiben waren die quartalsmäßigen Kostenrechnungen der Einrichtung für die Unterbringung des Leistungsempfängers beigefügt.
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Der Beklagte teilte der Klägerin mit Schreiben vom 22. September 2017 mit, dass der Antrag auf Kostenerstattung abgelehnt werde.
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Weiterer Schriftverkehr zwischen den Parteien blieb erfolglos.
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Die Klägerin erhob mit Schriftsatz vom 5. Juni 2018, eingegangen am 13. Juni 2018, bei dem Sozialgericht Nürnberg Klage und beantragte,
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den Beklagten zu verurteilen, den Erstattungsanspruch in Höhe von 48.430,54 EUR zu erfüllen und eine entsprechende Zahlung an die Klägerin zu leisten.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die vorrangige Zuständigkeit der Klägerin nur für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bzw. Ausbildungsförderung bestehe, nicht jedoch bei Eingliederungs-/Erziehungshilfen nach § 35a bzw. 27 ff. SGB VIII, da es sich hierbei in erster Linie nicht um Leistungen zur beruflichen Eingliederung, sondern zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Sinne des § 5 Nr. 4 SGB IX handle, für die eine originäre Leistungsverpflichtung der Jugendhilfe bestehe.
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Der Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 2. Juli 2018,
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gegenüber Verpflichtungen und Leistungen anderer Sozialleistungsträger grundsätzlich nachrangig seien. Der Hilfeempfänger gehöre zum Personenkreis des § 19 SBG III. Die Klägerin sei für die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit Behinderung sachlich zuständiger Rehabilitationsträger. Diese Rehabilitationsleistungen nach § 112 SGB III in Verbindung mit § 33 SGB IX würden nach § 113 SGB III allgemeine und besondere Leistungen sowie ergänzende Leistungen umfassen. Die Klägerin habe selbst festgestellt, dass die vorausgegangene ambulante BVB-Maßnahme für den Leistungsempfänger nicht ausreichend gewesen sei, um ihm die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. Nach § 33 Abs. 7 Nr. 1 SGB IX gehöre zu den Teilhabeleistungen auch die Übernahme der erforderlichen Kosten für die Unterkunft und Verpflegung, wenn eine auswärtige Unterbringung wegen Art und Schwere der Behinderung oder zur Sicherung des Erfolges der Teilhabe notwendig sei. Der Leistungsempfänger habe erst durch die Unterbringung in der angegliederten Wohngruppe erfolgreich die Maßnahme durchlaufen können. Die Unterbringung in der Wohngruppe habe damit ausschließlich der Unterstützung der beruflichen Rehabilitation gedient. Die Internatsunterbringung sei gerade nicht erforderlich gewesen, ein erzieherisches Defizit auszugleichen oder die Persönlichkeit des Hilfeempfängers zu fördern.
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Mit Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 27. August 2018 wurde festgestellt, dass der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit für die Klage unzulässig ist und der Rechtsstreit an das zuständige Verwaltungsgericht München verwiesen.
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Die Klägerin führte mit Schriftsatz vom 28. November 2019 ergänzend aus, dass es sich vorliegend nicht um eine Vorrang-/Nachrangbestimmung handle, sondern - in einer systematisch vorgelagerten Stufe - darum, welcher Leistungsgruppe nach § 5 SGB IX die heilpädagogische Wohnunterbringung im konkreten Einzelfall entsprechend des Schwerpunktes zuzuordnen sei. Die Vorrang-/Nachrangfrage stelle sich erst und nur dann, wenn eine Doppelzuständigkeit von Rehabilitationsträgern im Rahmen derselben Leistungsgruppe nach § 5 SGB VIII gegeben sei. Vorliegend liege keine derartige Doppelzuständigkeit vor. Für die Bestimmung der Leistungsgruppe sei eine Schwerpunktbetrachtung anzustellen. Die vorliegend streitige heilpädagogische Wohnunterbringung könne überhaupt nur dann in die Zuständigkeit der Klägerin fallen, wenn sich herausstellen würde, dass die heilpädagogische Wohnunterbringung im Verhältnis zur Ausbildung als solcher eine bloße Annexleistung darstelle, wenn sie also gleichwohl als unselbstständig und der Ausbildung gegenüber als untergeordnet anzusehen wäre. Nur in diesem - nach Auffassung der Klägerin aufgrund des Charakters der heilpädagogischen Unterbringung als pädagogisch-erzieherische Persönlichkeitsförderung jedoch nur rein theoretisch denkbaren - Fall würde auch die heilpädagogische Wohnunterbringung zu den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zählen und dürfte dementsprechend nicht einer gesonderten Zuständigkeitsbetrachtung unterzogen werden. Im Übrigen werde angemerkt, dass der Beklagte durch die Weiterleitung des Antrags entgegen dem Grundsatz der Leistungskontinuität gehandelt habe, wonach bei jeder weiteren Antragstellung danach zu differenzieren sei, ob eine ganz neue Teilhabeleistung beantragt werde oder ob im Rahmen des Erstantrags lediglich eine Modifizierung oder Ergänzung angestrebt werde. Ein bloßer Verlängerungsantrag bei gleichbleibenden Rehabilitationsbedarf sei kein fristauslösender Antrag nach § 14 SGB IX. Mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2021 erklärte der Beklagte und mit Schriftsatz vom 16. Dezember 2021 die Klägerin den Verzicht auf mündliche Verhandlung.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
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Die zulässige Leistungsklage ist unbegründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die heilpädagogische Wohnheimunterbringung für den Leistungsempfänger vom 30. August 2015 bis 29. Juli 2016.
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Der Verwaltungsrechtsweg ist - auch entsprechend dem insoweit bindenden Verweisungsbeschluss des Sozialgerichts Nürnberg - für die Entscheidung über einen Erstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX in der Fassung vom 23.4.2004 (BGBl. I, 606 - im Folgenden: SGB IX 2004), § 114 SGB X. Denn ein etwaiger Anspruch des Leistungsempfängers gegen den Beklagten würde sich aus § 35a SGB XIII ergeben. Das Verwaltungsgericht München ist für diesen Anspruch auch sachlich und örtlich zuständig.
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Hinsichtlich des materiellen Rechts ist maßgeblich auf die Rechtslage für den Zeitraum vom 30. August 2015 bis 29. Juli 2016 abzustellen (vgl. BVerwG, U.v. 19.10.2011 - 5 C 6/11 - juris Rn. 6). Davon abgesehen haben die im vorliegenden Verfahren maßgeblichen Normen des Neunten Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen - zwar mit dem Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen - Bundesteilhabegesetz vom 23. Dezember 2016 (BTHG - BGBl. I 2016, 3234), überwiegend in Kraft getreten zum 1. Januar 2018, zwar eine neue Bezeichnung, inhaltlich jedoch keine Änderung erfahren (vgl. BayVGH, U.v. 2.12.2020 - 12 BV 20.1951 - juris Rn. 23, VG München, U.v. 17.7.2019 - M 18 K 17.2523 - juris Rn. 28).
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Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Erstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX 2004 (der insoweit eine zu § 16 Abs. 1 SGB IX in der Fassung vom 23. Dezember 2016 inhaltsgleiche Regelung enthält) und vorliegend den sonstigen Erstattungsregelungen als lex specialis vorgeht (vgl. BVerwG, U.v. 22.6.2017 - 5 C 3/16 - juris Rn. 10; BayVGH, U.v. 2.12.2020 - 12 BV 20.1951 - juris Rn. 24, VG München, U.v. 17.7.2019 - M 18 K 17.2523 - juris Rn. 29).
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Nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX 2004 hat der Rehabilitationsträger, der aufgrund eines nach § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB IX 2004 weitergeleiteten Antrags geleistet hat, einen Erstattungsanspruch, wenn nach Bewilligung der Leistung durch diesen Rehabilitationsträger festgestellt wird, dass ein anderer Rehabilitationsträger bzw. bei mehrfacher Zuständigkeit ein vorrangig Leistungsverpflichteter (vgl. BVerwG, U.v. 22.6.2017 - 5 C 3/16 - juris Rn. 10, BSG, U.v. 30.6.2016 - B 8 SO 7/15 R - juris Rn. 12) für die Erbringung der Leistung zuständig war.
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Die Klägerin hat vorliegend zwar auf Grund eines weitergeleiteten Antrags nach § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB IX 2004 geleistet, so dass § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX 2004 grundsätzlich als Anspruchsgrundlage in Betracht kommt. Allerdings hat der Leistungsempfänger hinsichtlich der Unterbringung in einer heilpädagogischen Wohngruppe einen deckungsgleichen Leistungsanspruch sowohl gegen die Klägerin (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 5 Nr. 2 u. 3 SGB IX 2001) als auch den Beklagten (§ 6 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 5 Nr. 4 SGB IX 2001) jeweils als Rehabilitationsträger, wobei der Leistungsanspruch des Leistungsempfängers gegen die Klägerin vorrangig ist, sodass kein Erstattungsanspruch besteht.
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Der Leistungsempfänger hatte vorliegend unstreitig einen Anspruch gegen den Beklagten auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII, welche grundsätzlich auch die Unterbringung in einer heilpädagogischen Wohngruppe beinhalten kann.
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Darüber hinaus hatte der Leistungsempfänger jedoch auch einen Anspruch gegenüber der Klägerin nach §§ 112, 127 SGB III i.V.m. § 33 Abs. 7 Nr. 1 SGB IX in der Fassung vom 20.12.2011 (BGBl. I, 2854 - im Folgenden: SGB IX 2011).
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Nach § 33 Abs. 7 Nr. 1 SGB IX 2011 (insoweit wortgleich zu § 49 Abs. 7 Nr. 1 SGB IX in der Fassung vom 23. Dezember 2016) gehört zu den von der Klägerin zu erbringenden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 112 SGB III) auch die Übernahme der erforderlichen Kosten (§ 127 SGB III) für Unterkunft und Verpflegung, wenn für die Ausführung einer Leistung eine Unterbringung außerhalb des eigenen oder des elterlichen Haushalts wegen Art oder Schwere der Behinderung oder zur Sicherung des Erfolges der Teilhabe am Arbeitsleben notwendig ist.
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Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
40
Die heilpädagogische Unterbringung eines Jugendlichen in Berufsausbildung kann - entgegen der offenbar durch die Klägerin vertretenen Sichtweise - grundsätzlich auch - wie vorliegend - als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben anzusehen sein (vgl. BayLSG, U.v. 21.2.2022 - L 10 AL 81/20 - juris Leitsatz 2, Rn. 30; BayVGH, U.v. 2.12.2020 - 12 BV 20.1951 - juris Rn. 28; VG München, U.v. 17.7.2019 - M 18 K 17.2523 - juris Rn. 35).
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In der Literatur und Rechtsprechung bestehen unterschiedliche Lösungsansätze, wie sich die Ansprüche auf Rehabilitationsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch III (Arbeitsförderung) sowie dem Sozialgesetzbuch VIII (Kinder- und Jugendhilfe) zueinander verhalten (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 2.12.2020 - 12 BV 20.1951 - juris Rn.29 m.w.N.).
42
Zum Teil wird vertreten, dass mangels einer speziellen gesetzlichen Regelung mit Blick auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch III generell die allgemeine Vorrangregelung des § 10 Abs. 1 SGB VIII greife, sodass die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch III regelmäßig vorrangig seien (so auch VG München, U.v. 17.7.2019 - M 18 K 17.2523 - juris Rn. 45; vgl. i.Ü. Nachweise hierzu bei BayVGH, U.v. 2.12.2020 - 12 BV 20.1951 - juris Rn.29). Nach anderer Ansicht, der sich der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seiner aktuellen Rechtsprechung angeschlossen hat (U.v. 2.12.2020 - 12 BV 20.1951 - juris Leitsatz 1, Rn. 30 ff. m.w.N.) kommt es für die Abgrenzung der Zuständigkeiten aufgrund des Fehlens einer eindeutigen gesetzlichen Regelung maßgeblich auf die überwiegende Zielsetzung der konkreten Maßnahme - deren Schwerpunkt - an. Begründet wird dies mit dem Erfordernis, das Zusammenspiel von § 22 Abs. 1 SGB III einerseits und § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII andererseits sachgerecht zu lösen. Zwar blieben nach § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII Verpflichtungen anderer Sozialleistungsträger - solche der Arbeitsförderung - durch Leistungen nach dem SGB VIII unberührt, andererseits dürften Leistungen der aktiven Arbeitsförderung gemäß § 22 Abs. 1 SGB VIII nur erbracht werden, wenn nicht bereits andere Leistungsträger zur Erbringung gleichartiger Leistungen - vorliegend der Unterbringung in einem heilpädagogischen Wohnheim - gesetzlich verpflichtet seien. Eine Abgrenzung könne daher nur darüber erfolgen, dass für die Zuständigkeit auf die überwiegende Zielsetzung der konkreten Maßnahme abgestellt werde. Nur so könnten beide Vorschriften einander optimal zugeordnet werden und jeweils in größtmöglichem Umfang Wirklichkeit gewinnen. Auch die Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit stellt hinsichtlich der Abgrenzung der Zuständigkeiten für die Rehabilitationsleistung auf den Schwerpunkt der Maßnahme ab (vgl. BayLSG, U.v. 21.2.2022 - L 10 AL 81/20 - juris LS 1, Rn. 32; LSG BW, U.v. 16.6.2021 - L 2 SO 718/19 - Rn. 68).
43
Das Gericht braucht vorliegend keine abschließende Entscheidung zu treffen, welcher Auffassung es folgt, da im vorliegenden Verfahren der Schwerpunkt der dem Leistungsempfänger gewährten streitgegenständlichen Leistung unzweifelhaft in der beruflichen, nicht hingegen in der erzieherischen oder psychosozialen Betreuung (vgl. BayVGH, U.v. 2.12.2020 - 12 BV 20.1951 - juris Rn. 31) liegt.
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Die heilpädagogische Unterbringung des Leistungsempfängers war erforderlich, um das Ausbildungsziel zu erreichen. Die (erstmalige) heilpädagogische Fremdunterbringung des Leistungsempfängers wurde ausschließlich durch die berufsvorbereitende Maßnahme veranlasst. Entsprechend der Beurteilung durch die Klägerin sowie den von der Klägerin erstellten Gutachten vom 20. und 21. August 2015 war für den Leistungsempfänger eine stationäre rehaspezifische Berufsvorbereitung in einer Einrichtung, die auf die berufliche Förderung zur Eingliederung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen ausgerichtet ist, erforderlich. Aufgrund der bestehenden Einschränkungen des Leistungsempfängers sei diesem nicht möglich und zumutbar, zu einer ausbildenden Berufseinrichtung täglich zu pendeln, sodass eine internatsmäßige Unterbringung zwingend erforderlich sei. Die Unterbringung des Leistungsempfängers in einem Wohnheim des - als von der Klägerin als geeignet beurteilten - Berufsbildungswerkes ist damit als Annexleistung zur Berufsausbildung zu sehen. Auch das (zusätzliche) Erfordernis, den Leistungsempfänger in einer heilpädagogischen Wohngruppe mit einem engmaschigen Betreuungsschlüssel unterzubringen, beruhte nicht primär auf einem psychosozialen oder erzieherischen Mehrbedarf, sondern war entsprechend der vorliegenden Gutachten insbesondere dadurch begründet, dass die Alltagskompetenz des Leistungsempfängers in erhöhtem Maße eingeschränkt war und er intensivere Unterstützung bei den Verrichtungen des täglichen Bedarfs wie Körperhygiene (Waschen, Zähneputzen, Rasieren, Toilettengang, Nahrungszubereitung) benötige. Da sich der Betreuungsaufwand nicht nur auf die individuelle, regelmäßige Anleitung seines konkreten Verhaltens, sondern vor allem auf die tägliche Körperhygiene beziehe, erscheine es wenig realistisch, dass dies im erforderlichen Maße bei einem Betreuungsschlüssel von 1:8 leistbar sei. Auch die Qualifizierungspläne des Berufsbildungswerkes zeigen auf, dass der Leistungsempfänger keinen primären Unterstützungsbedarf hinsichtlich seines sozialen Lebens in der Wohngemeinschaft benötigte, sondern vielmehr sozial gut integriert war, sich aktiv in das Gruppengeschehen einbrachte und an Freizeitaktivitäten gerne beteiligte während er engmaschige Betreuung und kontinuierliche Begleitung bei der Entwicklung von Eigeninitiative hinsichtlich seiner Hygiene und Selbstständigkeit benötigte.
45
Ziel der heilpädagogischen Unterbringung des Leistungsempfängers war damit nicht die soziale Betreuung und Persönlichkeitsentwicklung zum Erlernen angemessenen Sozialverhaltens (vgl. BayLSG, U.v. 21.2.2022 - L 10 AL 81/20 - juris Rn. 33), sondern vielmehr die Sicherung des Erfolgs der Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben. So führt auch der Qualifizierungsplan 3 der Betreuungseinrichtung aus, dass der Leistungsempfänger ein gezieltes pädagogisches und sozialpädagogisches Programm in Werkstatt, Schule und Wohnheim insbesondere auch im Hinblick auf den Wechsel in die Einmündung in eine Ausbildung benötige. Schließlich liegen auch keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass eine Unterbringung des Leistungsempfängers unabhängig von der durch die Klägerin bewilligten Maßnahme damals erforderlich gewesen wäre (vgl. BayLSG, a.a.O. - juris Rn. 34 a.E.); der Leistungsempfänger war vielmehr sowohl vor als auch nach der Maßnahme der Klägerin wieder in sein Elternhaus integriert.
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Im Übrigen hat die Klägerin auch keine Kosten für einen abgrenzbaren erzieherischen Mehrbedarf des Leistungsempfängers geltend gemacht; sie beantragt vielmehr die Übernahme der gesamten Unterbringungskosten (vgl. BayVGH, U.v. 2.12.2020 - 12 BV 20.1951 - juris Rn. 39 a.E.).
47
Soweit die Klägerin darüber hinaus mit Schriftsatz vom 28. November 2019 ausführt, dass der Beklagte durch die Weiterleitung des Antrages nach § 14 SGB IX gegen den Grundsatz der Leistungskontinuität gehandelt habe, verkennt sie, dass der Leistungsempfänger vor der streitgegenständlichen Leistung keine Leistung durch den Beklagten beantragt und erhalten hatte; vielmehr hat er zu Hause bei seinen Eltern gelebt und bis dahin zwar Leistungen der Klägerin, nicht jedoch des Beklagten erhalten. Auch nach dem Abschluss der Maßnahme der Klägerin zog der Leistungsempfänger wieder zurück zu seiner Familie und erhielt keine Folgemaßnahmen durch den Beklagten.
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Die Klage war daher abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Kostenausspruchs beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.