Titel:
Asylrechtliches Dublin-Verfahren (Litauen)
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a Abs. 1 S. 1, § 76 Abs. 4 S. 2 Alt. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2
VwGO § 80 Abs. 5
UNCAT Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 16 Abs. 1, Art. 19 Abs. 3
GG Art. 19 Abs. 4 S. 1
Leitsatz:
Nach aktuellem Stand bestehen ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür, dass das litauische Asylsystem seit Sommer 2021 systemische Schwachstellen aufweist, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung begründen können (Anschluss an VG Hannover, B.v. 23.2.2022 - 12 B 6475/21 - juris). (Rn. 25)
Schlagworte:
Abschiebungsanordnung, Dublin-Verfahren, Systemische Mängel (hinreichende Anhaltspunkte bejaht), Zielstaat Litauen, Abschiebeverbot
Fundstellen:
LSK 2022, 19325
BeckRS 2022, 19325
NVwZ-RR 2022, 967
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom ... April 2022 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich gegen eine Abschiebungsanordnung nach Litauen im Rahmen des sogenannten „Dublin-Verfahrens“.
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Der Antragsteller, ein Staatsangehöriger Jemens, reiste am … Oktober 2021 in das Bundesgebiet ein und äußerte am gleichen Tag ein Asylgesuch, von dem die Antragsgegnerin ebenfalls am gleichen Tag Kenntnis erlangte. Der förmliche Asylantrag datiert vom … Dezember 2021.
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In dem persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats am … Dezember 2021 gab der Antragsteller an, zunächst per Flugzeug von A. … über Ägypten und die Türkei nach Belarus gereist zu sein. Nachdem Grenzübertritte im Grenzgebiet zu Polen erfolglos gewesen seien, sei er schließlich zu Fuß über die Grenze nach Litauen gegangen und schließlich mit dem Zug weiter in die Hauptstadt V. … gereist. Dort sei er fünf Tage geblieben und anschließend mit dem Bus über Polen nach F. … gefahren. Während seiner Reise sei er kein einziges Mal kontrolliert worden. Das Zugticket nach V. … habe ihm die Polizei nach Ankunft in Deutschland abgenommen. Er habe während seiner Reise zu keinem Zeitpunkt Fingerabdrücke abgegeben oder einen Asylantrag gestellt.
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Am ... Januar 2022 richtete die Antragsgegnerin ein Übernahmeersuchen an Litauen. Eine Reaktion hierauf erfolgte nicht.
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Mit Bescheid vom ... April 2022, dem Antragsteller zugestellt am … April 2022, lehnte die Antragsgegnerin den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG (Nr. 2) und ordnete die Abschiebung nach Litauen an (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gem. § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
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Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller am 19. April 2022 zur Niederschrift Klage beim Verwaltungsgericht München (M 10 K 22.50243). Gleichzeitig wird beantragt,
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die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
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Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 29. April 2022,
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Mit Schreiben des Gerichts vom 10. Mai 2022 wies das Gericht die Beteiligten darauf hin, dass die Übertragung des Rechtsstreits auf die Kammer gem. § 76 Abs. 4 Satz 2 AsylG erwogen werde. Weiter wies das Gericht die Beteiligten darauf hin, dass beabsichtigt sei, als Erkenntnismittel den Staatenbericht des UN-Ausschusses gegen Folter vom 21. Dezember 2021 gegenüber Litauen (Committee against Torture, Concluding observations on the fourth periodic report of Lithuania, UN Doc. CAT/C/LTU/CO/4), eine UNHCR-Stellungnahme vom 27. September 2021 (UNHCR observations on draft Amendments to the Law of the Republic of Lithuania on Legal Status of Aliens [No 21-29207]) sowie einen Brief der Menschenrechtskommissarin des Europarats vom 10. August 2021 (Council of Europe Commissioner of Human Rights to the Prime Minister of Lithuania [CommHR/DM/sf 030-2021]) zum Gegenstand des Eilverfahrens zu machen.
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Mit Schriftsatz vom 2. Juni 2022 gab die Antragsgegnerin eine Stellungnahme zu den genannten Erkenntnismitteln ab. Die Antragsgegnerin trägt unter Verweis auf zahlreiche Rechtsvorschriften des litauischen Ausländerrechts insbesondere vor, dass die Asylrechtsverschärfungen vom Sommer 2021 teilweise nicht in Kraft bzw. wieder entschärft worden seien. Die Asylrechtsverschärfungen vom Sommer 2021 seien im Kontext der Ausrufung des Ausnahmezustands infolge des Massenzustroms an Flüchtlingen an der Grenze zu Belarus verhängt worden. Diese Situation habe sich mittlerweile spürbar entschärft, da der Irak viele seiner Staatsangehörigen im Januar 2022 zurückgenommen habe. Allerdings sei der Ausnahmezustand infolge des russischen Angriffskrieges durch Russland auf die Ukraine am 24. Februar 2022 erneut ausgerufen und am 11. März 2022 bis zunächst 20. April 2022 verlängert worden. Infolge des Zustroms von Geflüchteten aus der Ukraine habe Litauen seine Unterbringungskapazitäten ausgebaut, auch die Aufnahmestandards hätten sich verbessert. Eine Belastung des litauischen Asylsystems durch ukrainische Geflüchtete sei auch deshalb nicht zu besorgen, da Litauen die zügige Integration von Ukrainern in den Arbeitsmarkt anstrebe, sodass diese sich selbst versorgen könnten. Im Übrigen würde sich aus der aktuellen Rechtslage ergeben, dass unionsrechtliche Vorgaben, insbesondere Verfahrensgarantien gewahrt würden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 10 K 22.50243 Bezug genommen.
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1. Der Beschluss ergeht gem. § 76 Abs. 4 Satz 2 Alt. 1 AsylG durch die Kammer, nachdem der Einzelrichter die Sache wegen grundsätzlicher Bedeutung auf diese übertragen hat.
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2. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat Erfolg, da er zulässig und begründet ist.
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Der Antrag ist zulässig, insbesondere wurde er zusammen mit der Klage fristgerecht am … April 2022 binnen der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1, § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG gestellt. Der Bescheid vom ... April 2022 wurde ausweislich des in der Behördenakte befindlichen Emfangsbekenntnisses der Aufnahmeeinrichtung des Antragstellers am 12. April 2022 übermittelt und diesem am gleichen Tag ausgehändigt, womit die Frist zur Klageerhebung und Stellung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO bis zum Ablauf des 19. April 2022 lief (§ 10 Abs. 4 Satz 4 AsylG, § 57 Abs. 1, Abs. 2 VwGO, § 222 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB).
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3. Der Antrag ist auch begründet.
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Entfaltet ein Rechtsbehelf - wie hier (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) - von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Stellen sich die Erfolgsaussichten der Klage nach summarischer Prüfung als offen dar, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden.
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Gemessen an diesen Maßstäben geht die Interessenabwägung im vorliegenden Fall zu Gunsten des Antragstellers aus. Nach summarischer Prüfung sind im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt dieses Beschlusses (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) die Erfolgschancen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren wenigstens offen, womit im Wege einer Folgenabwägung zu seinen Gunsten zu entscheiden ist.
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a) Nach derzeitigem Erkenntnisstand bestehen rechtliche Bedenken gegen die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1
Buchst. a AsylG. Damit lässt sich nicht hinreichend sicher prognostizieren, dass die nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ergangene Abschiebungsanordnung Bestand haben wird.
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aa) Nach der Grundregel des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin-III-VO ist immer derjenige Mitgliedstaat zuständig, in dem der Antrag auf internationalen Schutz zuerst gestellt worden ist, außer es ergibt sich anhand der Kriterien der Art. 7 ff. Dublin-III-VO eine anderweitige Zuständigkeit.
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Im vorliegenden Fall kommt aufgrund der Schilderungen des Antragstellers im Anhörungsgespräch zwar die Zuständigkeit Litauens nach Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO grundsätzlich in Betracht. Danach ist bei illegalem Grenzübertritt aus einem Drittstaat kommend über die Land-, See- oder Luftgrenze in das Staatsgebiet eines Mitgliedstaats Letzterer zuständig, wenn der illegale Grenzübertritt durch Beweismittel oder Indizien festgestellt werden kann. Das ist vorliegend der Fall, da der Antragsteller im Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats vom … Dezember 2021 angegeben hat, zunächst mit einem Touristenvisum nach Belarus und anschließend zu Fuß über die Grenze nach Litauen gelangt zu sein, wo er sich fünf Tage aufhielt. Der Aufenthalt des Antragstellers in Litauen lässt sich auch durch weitere objektive Indizien belegen, wie etwa dem Zugticket nach V. …
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bb) Allerdings spricht einiges dafür, dass die Überstellung nach Litauen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO unmöglich ist, sodass die Antragsgegnerin die Zuständigkeitsprüfung hätte fortsetzen müssen, um einen anderen zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen. Die Unmöglichkeit der Überstellung in den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat ergibt sich allerdings nur bei Vorliegen wesentlicher Gründe für die Annahme, dass es systemische Mängel im Asylverfahren dieses Mitgliedstaats, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta (GRCh) mit sich bringen, gibt.
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(1.) Nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union darf jeder Mitgliedstaat vorbehaltlich außergewöhnlicher Umstände voraussetzen, dass in anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und die dort anerkannten Grundrechte beachtet werden (vgl. BVerwG U. v. 20.5.2020 - 1 C 34.19 - juris Rn. 16). Um diese Vermutung zu widerlegen, müssen Umstände substantiiert vorgetragen und ggf. belegt werden, die eine besondere Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Die Anforderungen hieran sind allerdings hoch. Im Hinblick auf das Ziel der Dublin-III-Verordnung, zügig und effektiv den für das Asylverfahren zuständigen Staat zu bestimmen, können geringfügige Verstöße hierfür nicht ausreichen. Das grundsätzlich gerechtfertigte gegenseitige Vertrauen ist erst entkräftet, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass dem Asylbewerber aufgrund genereller Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris Rn. 9; EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 - NVwZ 2012, 417, Rn. 80; VGH Baden-Württemberg, U.v. 16.4.2014 - A 11 S 1721/13 - juris Rn. 41).
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Diese Grundsätze konkretisierend hat der EuGH in seiner „Jawo“-Entscheidung ausgeführt, dass Schwachstellen im Asylsystem nur dann als Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zu werten sind, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit des betreffenden Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich aufgrund der Untätigkeit der Behörden eines Mitgliedsstaates unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen und die ihre Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 19; EuGH U.v. 19.3.2019 - C 297/17 u.a., Ibrahim u.a. - Rn. 89 ff. und C-163/17, Jawo - Rn. 91 ff.).
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(2.) Gemessen hieran liegen unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass das litauische Asylsystem seit den Asylrechtsverschärfungen im Sommer 2021 mit systemischen Mängel behaftet ist.
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(a) Am 21. Dezember 2021 hat der UN-Ausschuss gegen Folter in seinem vierten Staatenbericht zu Litauen die aktuellen Entwicklungen seit dem Sommer 2021 kritisiert und Litauen in vielfältiger Weise zum Ergreifen von Gegenmaßnahmen aufgefordert (Committee against Torture, Concluding observations on the fourth periodic report of Lithuania, UN Doc. CAT/C/LTU/CO/4, Rn. 11 f.). So kritisiert der Bericht, dass Asylbewerber ohne Möglichkeit von Rechtsschutzmöglichkeiten in Haft genommen würden, darunter auch Familien mit Kindern und andere vulnerable Personen (Rn. 11 Buchst. a). Weiter beanstandet der Bericht die schlechten Aufnahmebedingungen für Asylbewerber, die sich insbesondere in überfüllten Aufnahmeeinrichtungen mit mangelhafter Heizung, mangelnden warmem Wasser und Trinkwasser, minderwertige Nahrung, eingeschränktem Zugang zu medizinischem Service sowie Mängel bei der Hygiene und den sanitären Einrichtungen zeigen würden (Rn. 11 Buchst. b). Weiter thematisiert der Bericht u.a. Vorwürfe unverhältnismäßiger Gewalt und Folter seitens litauischer Beamten in Aufnahmeeinrichtungen (Rn. 11 Buchst. c) sowie Kollektivausweisungen ohne Prüfung der individuellen Situation (push-backs, Rn. 11 Buchst. d). Der Ausschuss hat Litauen aufgefordert, hinsichtlich dieser und weiterer in Randnummer 11 des Staatenberichts kritisierter Missstände Gegenmaßnahmen zu ergreifen (Rn. 12).
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Der nach Art. 19 Abs. 3 Satz 1 des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (Convention against Torture, UNTS 1465 [1987], S. 85 ff. - von der Bundesrepublik ratifiziert durch Gesetz vom 6.4.1990 [BGBl. 1990 II S. 246] - im Folgenden: CAT) ergangene Staatenbericht des UN-Ausschusses gegen Folter ist bezüglich der kritisierten Missstände im litauischen Asylsystem im Kontext des Art. 2 Abs. 1 CAT, Art. 3 Abs. 1 CAT und Art. 16 Abs. 1 Satz 1 CAT zu verstehen. Die genannten Vorschriften sind in ihrem Zusammenspiel mit Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK deckungsgleich und haben nach Art. 53 GRCh bzw. Art. 53 EMRK das gleiche Schutzniveau. Im Falle systemischer Verstöße eines Staates gegen die Verpflichtungen aus Art. 2 Abs. 1 CAT und Art. 16 Abs. 1 Satz 1 CAT wird daher davon auszugehen sein, dass das aus Art. 3 Abs. 1 CAT ergebende Refoulement-Verbot (s. dazu Committee against Torture, General comment No. 4 [2017] on the implementation of article 3 of the Convention in the context of article 22, UN Doc. CAT/C/GC/4, Rn. 28; zur rechtlichen Bedeutung der Stellungnahmen von Ausschüssen der UN-Menschenrechtsabkommen siehe IGH, Case of Ahmadou Sadio Diallo [Republic of Guinea v. Democratic Republic of the Congo], I.C.J. Reports 2010, S. 639 Rn. 66; BVerfG, B.v. 26.7.2016 - 1 BvL 8/15 - juris Rn. 90) gleichermaßen wie Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK als Argument gegen eine Abschiebung in diesen Staat vorgebracht werden kann.
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Die im Staatenbericht kritisierten Missstände im litauischen Asylsystem und die Aufforderung zum Ergreifen von Gegenmaßnahmen lassen sich ausweislich der konkreten Formulierungen so interpretieren, dass Litauen seit dem Sommer 2021 seinen rechtlichen Verpflichtungen aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 Satz 1 CAT nicht gerecht geworden ist. Insbesondere die eindringlich formulierten Aufforderungen an Litauen, hinsichtlich der beanstandeten Missstände Gegenmaßnahmen zu ergreifen, stützen diese Interpretation. Die Vielzahl und die Verschiedenheit der kritisierten Aspekte (defizitäre Aufnahmebedingungen unterhalb von Mindeststandards, willkürliche Inhaftierungen, Berichte von Übergriffen und Folter sowie Push-Back-Aktionen nach Belarus) führen deutlich vor Augen, dass es nicht nur um punktuelle Defizite geht, sondern um systemisch angelegte Rechtsverstöße, die möglicherweise auch als (indirekte) Folge der jüngeren Gesetzesverschärfungen im Bereich Asyl und Migration verstanden werden können.
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Den zitierten „concluding observations“ des Ausschusses kommt als Erkenntnismittel erhebliches Gewicht zu, auch wenn sie für das Gericht als solche nicht rechtsverbindlich sind (vgl. IGH, a.a.O.; BVerfG, a.a.O.). Das Staatenberichtsverfahren dient dem Zweck, die menschenrechtliche Situation in dem betreffenden Vertragsstaat des zugrundeliegenden Menschenrechtsabkommens über einen längeren Zeitraum zu evaluieren, wobei die „concluding observations“ am Ende eines konstruktiven Prozesses stehen, in welchem sowohl der evaluierte Staat als auch Nichtregierungsorganisationen Stellungnahmen zum Ausschuss einreichen können. Auch wenn die „concluding observations“ als solche nicht unmittelbar völkerrechtlich verbindlich sind, wird diesen in der Praxis auf Regierungsebene eine vergleichbare faktische Einflusswirkung wie der Entscheidung eines internationalen Gerichtshofs zugeschrieben (s. dazu Kerstin Mechlem, ‘Treaty Bodies and the Interpretation of Human Rights’, Vanderbilt Journal of Transnational Law (42) 2009, 905 [922 ff.]). Vor dem geschilderten rechtlichen Hintergrund des Entstehens der „concluding observations“ im Staatenberichtsverfahren hat das Gericht keine Anhaltspunkte und damit auch keinen Anlass, die an Litauen gerichtete Kritik und Aufforderungen grundsätzlich zu hinterfragen. Das Gericht geht vielmehr davon aus, dass Litauen im Hergang des jüngsten Staatenberichts eingehend Gelegenheit hatte, die im Sommer 2021 erlassenen Asylrechtsverschärfungen sowie die Gegebenheiten in seiner Asylrechtspraxis im Kontext der Verpflichtungen aus der CAT zu verteidigen und auch auf Kritik von NGOs zu replizieren. Ebenso ist davon auszugehen, dass der Ausschuss Stellungnahmen von Litauen berücksichtigt und sich inhaltlich damit auseinandergesetzt hat.
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(b) Die Stellungnahme der Antragsgegnerin vom 2. Juni 2022 räumt die Bedenken der Kammer, die sich aus dem oben zitierten Staatenbericht ergeben, im Ergebnis nicht aus. Der Antragsgegnerin ist zwar zuzugeben, dass die in das Verfahren eingeführte Stellungnahme des UNHCR vom 27. September 2021 (wahrscheinlich) nicht mehr hinreichend aktuell ist, was angesichts der (offenbar) dynamischen Entwicklung im litauischen Asylrecht plausibel erscheint. Allerdings weist auch die Antragsgegnerin daraufhin, dass der erstmalig im Zusammenhang mit den Asylrechtsverschärfungen im Sommer 2021 ausgerufene Ausnahmezustand am 24. Februar 2022 infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine erneut ausgerufen und zunächst bis zum 20. April 2022 verlängert wurde. Soweit die Antragsgegnerin unter Verlinkung auf den Online-Artikel „Lithuania to expand, open new centres to handle influx of Ukranian refugees“ (https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/1652065/lithuania-to-expand-open-new-centres-to-handleinflux-of-ukrainian-refugees - aufgerufen am 3.6.2022) vorträgt, dass Litauen infolge des Zustroms von Geflüchteten aus der Ukraine zusätzliche Aufnahmeeinrichtungen eingerichtet habe und sich die Aufnahmebedingungen verbessert hätten, bleibt gerade offen, ob dies in der Praxis angesichts der Zahl Geflüchteter aus der Ukraine (fast 30.0000) wirklich der Fall ist. Es mag sein, dass Litauen eine schnelle Integration ukrainischer Geflüchteter in den dortigen Arbeitsmarkt „anstrebt“, damit diese für sich selbst sorgen können, dies lässt aber keine eindeutigen Rückschlüsse auf die tatsächlichen Gegebenheiten in der Realität zu. So gibt etwa die Antragsgegnerin in ihrer Stellungnahme selbst an, dass von 30.000 ukrainischen Geflüchteten bisher lediglich 1.200 einen Arbeitsplatz finden konnten. Soweit auf einen Bericht des Internationalen Roten Kreuzes vom 17. Dezember 2021 verwiesen wird, wonach sich die Aufnahmebedingungen verbessert hätten, ist zu konstatieren, dass bezüglich der zweiten Jahreshälfte 2021 die im Staatenbericht des UN-Ausschusses gegen Folter thematisierten Missstände im Bericht des Internationalen Roten Kreuzes ebenfalls aufgeführt werden (zur Nichteinhaltung von Mindeststandards bei der Unterbringung, größtenteils auch in den neuen Aufnahmeeinrichtungen, s. Lithuanian Red Cross Monitoring Report 2021, S. 24; zur unverhältnismäßigen Gewalt etwa S. 29 f.).
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Soweit die Antragsgegnerin ihre Aussage, die Aufnahmebedingungen in Litauen hätten sich verbessert, unter Verlinkung auf einen Artikel von Euronews belegen möchte (Koen Verhelst, „Lithuania converts prison into migrant reception centre“, Euronews 11.10.2021: https://www.euronews.com/2021/10/11/lithuania-converts-prison-into-migrant-reception-centre - aufgerufen 3.6.2022), geht hieraus eher das Gegenteil hervor. In dem Bericht wird der Vorsitzende der Caritas Litauen zitiert: „Admittedly, it doesn’t sound good to put migrants in prison. But considering the situation of Lithuania - that we didn’t have the infrastructure in place and weren’t prepared for such numbers - it is actually quite an improvement.“ Diese Aussage deutet vielmehr daraufhin, dass es um die Aufnahmekapazitäten und -bedingungen vorher noch schlechter gestanden haben muss. Dass die Aufnahmebedingungen im Gefängnis den Mindeststandards aus Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK für die Unterbringung von Asylbewerbern genügen, klingt in dieser Aussage gerade nicht explizit an und erscheint auch im Lichte von kritischen Berichten über litauische Haftanstalten (geringe Größe der Gemeinschaftszellen und schlechte hygienische Bedingungen) eher zweifelhaft (United States Department of State, Lithuania 2021 Human Rights Report, S. 2: „Some prison and detention centre conditions remained poor due to inadequate sanitation […]“; CPT, Report to the Lithuanian Government on the visit to Lithuania, 25.6.2019, Rn. 31 ff.).
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Es mag (möglicherweise) sein, dass Litauen nach den Berichten des UNHCR vom 27. September 2021 und des Briefs der Menschenrechtskommissarin des Europarats vom 10. August 2021 infolge erneuter Änderungen im litauischen Asylrecht die Inhaftnahme von Asylbewerbern mittlerweile weniger restriktiv handhabt als noch nach den Gesetzesänderungen im Sommer 2021. Das ändert aber nichts daran, dass die im Staatenbericht des UN-Ausschusses gegen Folter genannten Missstände - auf den die Antragsgegnerin in ihrer Stellungnahme vom 2. Juni 2022 nicht eingeht - wenigstens teilweise nicht entkräftet sind. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Litauen manche der Asylrechtsverschärfungen vom Sommer 2021 mittlerweile wieder zurückgenommen hat, ist es eine andere Frage, ob aktuell die Aufnahmebedingungen in der Praxis den Mindeststandards aus Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK genügen. Nach Ansicht des Gerichts zieht die Antragsgegnerin aus den von ihr angegebenen Quellen nicht nur (teilweise) unzutreffende verallgemeinerte Aussagen. Vielmehr ist zu sehen, dass insbesondere Kernkritikpunkte des UN-Ausschuss gegen Folter (Unterbringung unterhalb von Mindeststandards, Berichte über unverhältnismäßige Gewalt durch Sicherheitskräfte) in mehreren von der Antragsgegnerin angeführten Quellen (insbesondere der Bericht des Internationalen Roten Kreuzes über Litauen 2021) sogar bestätigt werden.
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(c) Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnismittellage kann im vorliegenden Eilverfahren jedenfalls mit Blick auf die geschilderten Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nicht ausgeschlossen werden, dass das litauische Asylsystem mit systemischen Mängeln im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO behaftet ist. Es spricht einiges dafür, dass die in den „concluding observations“ des Staatenberichts des UN-Ausschusses gegen Folter geschilderten Missstände die nach Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK erforderlichen Mindeststandards im Sinne der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) verfehlen. Die minderwertige Versorgung mit Essen und Wasser sowie die schlechten Bedingungen der Unterbringung (Überbelegung, unzureichende Heizung und unhygienische Bedingungen bei sanitären Einrichtungen) zeigen, dass elementare menschliche Bedürfnisse nicht befriedigt werden können. Die Tatsache, dass nach dem Link der Antragsgegnerin auf den zitierten Euronews-Artikel offenbar Gefängnisse in Aufnahmeeinrichtungen „umfunktioniert“ werden sollen, deutet vielmehr insgesamt auf problematische Entwicklungen bei der Unterbringung Geflüchteter in Litauen hin, wobei die Mindeststandards der Unterbringung gerade nicht gesichert erscheinen.
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Die weiteren geschilderten Berichte über unverhältnismäßige Gewalt und Folter in den Aufnahmeeinrichtungen durch Sicherheitskräfte zeigen insgesamt eine problematische Entwicklung, derer die litauischen Behörden (derzeit) offenbar nicht willens oder nicht in der Lage sind, wirksam zu begegnen.
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(3.) Mit der Würdigung der genannten Erkenntnismittel schließt sich die Kammer daher im Ergebnis auch der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hannover vom 23. Februar 2022 an (VG Hannover, B.v. 23.2.2022 - 12 B 6475/21 - juris Rn. 9; im Ergebnis ebenso VG Düsseldorf, B.v. 22.12.2021 - 12 L 2301/21.A - juris Rn. 41 ff.). Den gegenläufigen Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte (vgl. etwa VG Berlin, U.v. 3.5.2022 - 21 K 3/22 A - juris Rn. 24 ff.; VG Greifswald, B.v. 21.3.2022 - 6 B 367/22 HGW - juris; VG Augsburg, B.v. 22.2.2022 - Au 5 S 22.50008 - juris Rn. 38) folgt die Kammer nicht, weil diese die hier dargestellte aktuelle Erkenntnismittellage nicht berücksichtigen (vgl. zu dieser Pflicht EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/07 - juris Rn. 90; BVerfG, B.v. 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 15 f.).
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b) Unter Berücksichtigung der zugrundliegenden Erkenntnismittellage stellen sich die Erfolgsaussichten der Hauptsache jedenfalls als offen dar. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die (weitere) Entwicklung der Erkenntnismittellage durchaus dynamisch darstellen kann. So ist etwa nicht auszuschließen, dass Litauen auf die im Staatenbericht des UN-Ausschuss gegen Folter formulierte Kritik und die Aufforderungen zum Ergreifen von Gegenmaßnahmen reagiert hat. Eine weitere Aufklärung muss aber dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Eine kleinteilige Analyse aller neueren litauischen Asylrechtsvorschriften, die die Antragsgegnerin auf Seite 2 ihrer Stellungnahme vom 2. Juni 2022 anführt, ist im Eilverfahren nicht angezeigt, zumal dies nach summarischer Prüfung für das Eilverfahren aufgrund des maßgeblichen Abstellens auf den Staatenbericht des UN-Ausschusses gegen Folter auch nicht entscheidungserheblich ist. Vor diesem Hintergrund und vor der Bedeutung des einstweiligen Rechtsschutzes für das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ist es daher geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (BVerfG, B.v. 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 16).
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).