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LG Ingolstadt, Beschluss v. 30.06.2022 – 64 O 3216/21 Die
Titel:

Keine Befangenheit eines Richters bei Vorbefassung als Staatsanwalt im Abgasskandal 

Normenkette:
ZPO § 42 Abs. 2
Leitsatz:
Betrifft die Vorbefassung des Richters in einer nichtrichterlichen Funktion nicht denselben Streitgegenstand, sondern lediglich eine der Parteien des Rechtsstreits oder einen verwandten Streitstoff, ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen. Dabei müssen regelmäßig neben der Vorbefassung weitere objektive Umstände vorliegen, die nach der Bewertung einer vernünftigen Partei Anlass geben, an der Unparteilichkeit des Richters zu zweifeln. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Befangenheit, Richter, Vorbefassung, Zweifel, Unparteilichkeit, Streitgegenstand, Staatsanwalt, Durchsuchung, unterstützende Tätigkeit, Abgasskandal
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Beschluss vom 28.07.2022 – 19 W 1010/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 18812

Tenor

Das Ablehnungsgesuch der Beklagten vom 06.05.2022 gegen Frau Richterin am Landgericht wird als unbegründet zurückgewiesen.

Gründe

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1. Richterin am Landgericht hat mit Verfügung vom 28.04.2022 den Parteien folgenden Sachverhalt offengelegt:
„Im Referat 64 O hat mit Wirkung zum 10.04.2022 ein Richterwechsel stattgefunden. Zuständig ist nunmehr Richterin am Landgericht.
Auch wenn zum hiesigen Verfahren kein konkreter Bezug besteht, soll doch der guten Ordnung halber auf folgenden Umstand hingewiesen werden:
Im Februar 2018 habe ich, die nunmehr zuständige Richterin am Landgericht, in meiner damaligen Funktion als Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft München II - ausschließlich unterstützend - an einer der Durchsuchungen im Zusammenhang mit der „Audi Abgasaffäre“ teilgenommen. In diesem Zusammenhang hatte ich jedoch weder Einblicke in die Ermittlungsakte noch war ich in die Auswertung der sichergestellten Beweismittel involviert. Auch sonst war ich weder vor noch nach diesem Zeitpunkt mit dem Ermittlungsverfahren gegen Verantwortliche der xx befasst.“
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Die Mitteilung erfolgte aber - entgegen der Darstellung der Beklagten - nicht „gem. § 48 ZPO“, sondern der guten Ordnung halber.
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Ausschließlich gestützt auf diese Mitteilung wurde Richterin am Landgericht von Seiten der Beklagten wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt.
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In Ihrer dienstlichen Stellungnahme zum Ablehnungsgesuch hat Richterin am Landgericht im Wesentlichen auf den Inhalt ihrer oben genannten Verfügung Bezug genommen.
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2. Gemäß § 42 Abs. 2 ZPO kann ein Richter wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Die Befangenheit eines Richters ist zu besorgen, wenn aus der Sicht einer Partei bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass gegeben ist, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln (BGH MDR 2015, 608; BGH BeckRS 2013, 17295; BGH NJW 2011, 1358, Rn. 13; BVerfG NJW 2000, 2808; Vollkommer, in: Zöller ZPO, 33. Auflage 2020, § 42, Rn. 8). Dabei ist mit Blick auf die Frage, ob solche objektiven Umstände vorliegen, ein großzügiger Maßstab anzulegen und dem Ablehnungsgesuch im Zweifel stattzugeben (Bendtsen, in: Saenger, ZPO, 8. Auflage 2019, § 42, Rn. 12). Auf eine tatsächliche Befangenheit des Richters kommt es nicht an.
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Unter welchen Voraussetzungen in Fällen einer atypischen Vorbefassung eines Richters in einer nichtrichterlichen Funktion ein Ablehnungsgrund anzunehmen ist, wird in Rechtsprechung und Literatur nicht für sämtliche Fallkonstellationen einheitlich bewertet. So wird teilweise angenommen, dass im Regelfall auch ohne Hinzutreten besonderer Umstände die Besorgnis der Befangenheit begründet ist, wenn die Vorbefassung in einer anderen Funktion, beispielsweise als Staatsanwalt, Rechtsanwalt oder Verwaltungsbeamter, dasselbe Verfahren und damit denselben Streitgegenstand betrifft (vgl. MünchKommZPO/Stackmann, 6. Aufl., § 42 Rn. 23 mwN; Vollkommer in Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 42 Rn. 17; vgl. OLG Köln, Beschluss vom 1. Juli 2009 - 4 W 3/09, juris Rn. 5 f.).
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Betrifft die Vorbefassung des Richters in einer nichtrichterlichen Funktion hingegen nicht denselben Streitgegenstand, sondern lediglich eine der Parteien des Rechtsstreits oder einen verwandten Streitstoff, ist nach ganz überwiegender Ansicht auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen. Dabei wird regelmäßig neben der Vorbefassung das Hinzutreten weiterer objektiver Umstände verlangt, die nach der Bewertung einer vernünftigen Partei Anlass geben, an der Unparteilichkeit des Richters zu zweifeln (vgl. BGH, Beschluss vom 21.09.2021 - KZB 16/21 Rn. 19, BGH, Beschlüsse vom 18. Dezember 2014 - IX ZB 65/13, WM 2015, 788 Rn. 12 und vom 2. November 2016 - AnwZ (Brfg) 61/15, NJW-RR 2017, 187 Rn. 11 f.; OLG München, Beschluss vom 6. April 2009 - 1 W 1068/09, juris Rn. 8; OLG Oldenburg, Beschluss vom 26. Januar 2015 - 10 W 21/14, juris Rn. 11 - beide Entscheidungen zur Vorbefassung als Staatsanwalt; Bendtsen in Saenger, ZPO, 9. Aufl., § 42 Rn. 16; BeckOK ZPO/Vossler, 41. Ed., § 42 Rn. 16a; Vollkommer in Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 42 Rn. 15 ff.; Gerken in Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Aufl., § 42 Rn. 28).
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3. Vorliegend ist weder das Verfahren noch der Streitgegenstand identisch mit dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren: Die Parteien des Zivilverfahrens waren nicht die Beschuldigten des Strafverfahrens, das gegen Verantwortliche (natürliche Personen) der xx geführt worden ist. Bei der beklagten Partei im Zivilverfahren, der xx, handelt es sich vielmehr um eine juristische Person, die nicht Beschuldigte eines Strafverfahrens sein kann. Die Parteien haben auch keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass das im Zivilverfahren streitgegenständliche Fahrzeug der Klagepartei konkret Gegenstand des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gewesen sei, so dass auch nicht der identische Streitgegenstand vorliegt.
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Damit kann für das vorliegende Zivilverfahren allenfalls von einem verwandten Streitstoff ausgegangen werden, so dass nach der oben zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung auf die konkreten Umstände des Einzelfalls abzustellen ist und es - neben der atypischen Vorbefassung der Richterin am Landgericht hinaus - des Hinzutretens weiterer objektiver Umstände bedarf, die nach der Bewertung einer vernünftigen Partei Anlass geben, an der Unparteilichkeit der Richterin zu zweifeln.
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Derartiges - über die reine atypische Vorbefassung hinaus - trägt die Beklagte schon nicht vor, noch lassen sich solche Umstände sonst dem Akteninhalt entnehmen:
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Soweit die abgelehnte Richterin am Landgericht mitgeteilt hat, dass sie in ihrer damaligen Funktion als Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft München II - ausschließlich unterstützend - an einer der Durchsuchungen im Zusammenhang mit der „Audi Abgasaffäre“ teilgenommen habe, lässt sich hieraus bereits entnehmen, dass dies eine einmalige, rein unterstützende Tätigkeit war. Insoweit hat Richterin am Landgericht unmissverständlich klargestellt, dass sie „in diesem Zusammenhang weder Einblicke in die Ermittlungsakte [hatte] noch in die Auswertung der sichergestellten Beweismittel involviert [war]“. Auch sonst war sie - ihrer Mitteilung nach - weder vor noch nach diesem Zeitpunkt mit dem Ermittlungsverfahren gegen Verantwortliche der xx befasst. Die Beklagte legt auch nicht dar, wie sich sie abgelehnte Richterin ohne inhaltliche Befassung mit dem Gegenstand des Strafverfahrens überhaupt hierzu eine Meinung gebildet haben soll. Allein aus dieser einmaligen untergeordneten, rein unterstützenden Tätigkeit als weisungsgebundene Staatsanwältin, die insoweit keine eigenen Entscheidungen getroffen hat, lassen sich aus Sicht einer vernünftigen und besonnenen Prozesspartei keine Zweifel an der Unvoreingenommenheit der abgelehnten Richterin am Landgericht wecken. Konkrete Umstände, die - über die reine atypische Vorbefassung hinaus - im Zusammenhang mit der bereits vier Jahre zurückliegenden Tätigkeit als Staatsanwältin die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen könnten, trägt die Beklagte nicht vor. Die Beklagte trägt auch kein konkretes Verhalten der abgelehnten Richterin am Landgericht - weder damals noch heute - vor, das geeignet wäre, Rückschlüsse auf die reine Behauptung der Beklagten zuzulassen, dass die abgelehnte Richterin in dem streitgegenständlichen Sachverhalt eine innere Haltung eingenommen habe, die ihre Unparteilichkeit und innere Unvoreingenommenheit gestört oder beeinflusst habe.
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Entsprechende Umstände aus dem bisherigen Verhalten der Richterin am Landgericht im laufenden Zivilverfahren sind ebenfalls nicht ersichtlich.
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Vielmehr stellt die Beklagte ausschließlich auf die mitgeteilte Tatsache der atypischen Vorbefassung Anfang 2018 ab. Dies ist aber nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung alleine - ohne hinzutreten konkreter Umstände im Einzelfall - nicht ausreichend (vgl. oben).
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Damit bleibt nach der Würdigung der Gesamtumstände im konkreten Einzelfall für die Annahme einer begründeten Besorgnis der Befangenheit der abgelehnten Richterin am Landgericht kein Raum.
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Der Befangenheitsantrag der Beklagten war daher zurückzuweisen.