Titel:
Asyl, Nigeria, Familie mit zwei minderjährigen weiblichen Kindern, Mutter erneut schwanger, Gefahr der Beschneidung, Schwester mit homozygoter Sichelzellerkrankung, Abschiebungsverbot aus wirtschaftlichen Gründen (bejaht)
Normenkette:
AufenthG § 60 Abs. 5
Schlagworte:
Asyl, Nigeria, Familie mit zwei minderjährigen weiblichen Kindern, Mutter erneut schwanger, Gefahr der Beschneidung, Schwester mit homozygoter Sichelzellerkrankung, Abschiebungsverbot aus wirtschaftlichen Gründen (bejaht)
Fundstelle:
BeckRS 2022, 18658
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. November 2021 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Nigeria vorliegen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin ¾ und die Beklagte ¼.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin zu 1 im Verfahren M 13 K 17. … (H. B.; nachfolgend: Klägerin zu 1; aktuell im 8. Monat schwanger) ist eine am … Mai 1991 in Nigeria geborene nigerianische Staatsangehörige mit Volkszugehörigkeit Yoruba christlichen Glaubens. Sie ist die Mutter der am … Januar 2016 in Deutschland geborenen Klägerin zu 2 im Verfahren M 13 K 17. … (A. O.; nachfolgend: Klägerin zu 2; zusammen mit der Klägerin zu 1: Klägerinnen). Ehemann der Klägerin zu 1 und Vater der Klägerin zu 2 ist der am *. Oktober 1983 in Nigeria geborene E** O., nigerianischer Staatsangehöriger mit Volkszugehörigkeit Edo christlichen Glaubens, der das Asylklageverfahren M 13 K 17. … führt (nachfolgend: Kläger). Für eine weitere Tochter (E. P. … geb. am …5.2021 in Deutschland) wird das Asylklageverfahren M 13 K 21. … geführt (nachfolgend: Klägerin).
2
Mit Bescheid vom 25. Juli 2017 erkannte das Bundesamt dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nummer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nummer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nummer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nummer 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen, andernfalls er nach Nigeria abgeschoben werde (Nummer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nummer 6).
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Ausführungen im Bescheid bzw. im Tatbestand des Urteils vom 14. Juli 2022 im Verfahren des Klägers verwiesen.
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Mit Bescheid vom 25. Juli 2017 erkannte das Bundesamt den Klägerinnen die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nummer 1 des Bescheids), lehnte die Anträge auf Asylanerkennung ab (Nummer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nummer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nummer 4). Die Klägerinnen wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen, andernfalls sie nach Nigeria abgeschoben würden (Nummer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nummer 6).
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Ausführungen im Bescheid bzw. im Tatbestand des Urteils vom 14. Juli 2022 im Verfahren der Klägerinnen verwiesen.
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Am 14. Juli 2021 wurde für die Klägerin beim Bundesamt ein Asylantrag gestellt.
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In einem „schriftlichen Asylerstantrag“ (unbeschränkter Asylantrag) vom 12. Juli 2021 erklärten der Kläger und die Klägerin zu 1 für die Klägerin, dass sie aus Edo State kommen würden und dort würden alle Mädchen beschnitten, auf eine traditionelle Art. Das sei sehr gefährlich und viele Mädchen würden daran sterben. Sie würden ihre Tochter davor nicht schützen können. Nachbarn würden sie entführen und die Beschneidung durchführen lassen.
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Dem Bundesamt wurde auf dessen Anforderung vom 15. Juli 2021 hin am 3. August 2021 ein Attest einer Praxis für Kinder- und Jugendärzte vom 29. Juli 2021 vorgelegt, nach dem die Klägerin ein unauffälliges weibliches Genital habe und diese bisher keiner Verstümmelung (Female Genital Mutilation) unterzogen worden sei. Am 16. August 2021 ging beim Bundesamt ein „Bericht zur gynäkologischen Untersuchung“ einer Frauenärztin vom 12. August 2021 betreffend die Klägerin zu 1 ein. Der gynäkologische Befund entspreche am ehesten Typ II der Beschneidung weiblicher Genitalien nach WHO.
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In einer Anhörung durch das Bundesamt am 16. August 2021 im Verfahren der Klägerin hörte das Bundesamt die Klägerin zu 1 als deren Mutter an. Die Frage, ob die Klägerin zu 1 Medikamente nehme, bejahte diese, zum stillen und noch etwas, was sie nehmen müsse. Sie habe das Medikament nicht dabei aber man habe eine Krankheit bei ihrer Tochter gefunden und sie habe diese auch und müsse nun diese Medikamente nehmen. Außerdem müsse sie noch Asthmaspray nehmen. Außerdem erklärte die Klägerin zu 1 unter anderem, dass der Vater der Klägerin aus Benin komme. Sie komme aus Juruba. Ihr Kind sei aus Benin. Da ihr Ehemann aus Nigeria komme, sei diese Nigerianerin. Die Frage, ob noch weitere Verwandte der Klägerin im Heimatland lebten, verneinte die Klägerin zu 1. Sie habe keine Mutter und keinen Vater, also habe auch ihre Tochter keine Verwandten dieser Art dort. Sie wisse nicht, ob ihre Schwester noch lebe. Sie habe keinen Kontakt zu ihrer Schwester. Die Frage, ob sie noch Kontakt zu ihren Familienangehörigen habe, verneinte die Klägerin zu 1. Als sie noch in Nigeria gewesen sei habe sie ihr Vater nie mit ins Dorf genommen, sodass sie auch keinen anderen kennen gelernt habe. Das Dorf sei ziemlich weit weg gewesen. Der Großvater ihres Kindes väterlicherseits habe Okundia geheißen.
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Zum Verfolgungsschicksal des Kindes und den Gründen für den Asylantrag des Kindes angehört erklärte die Klägerin zu 1, das erstens in Nigeria weibliche Kinder beschnitten würden. Zweitens gehe es ihr - der Klägerin zu 1 - nicht gut, sie habe Asthma. Dann habe sie noch eine Niereninfektion und wisse nicht, ob ihre Tochter diese auch bekommen würde. Ihre andere Tochter habe eine Sichelzellenanämie.
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Danach befragt, was sie denke, was ihrer Tochter im Falle einer Rückkehr nach Nigeria konkret passieren würde, erklärte die Klägerin zu 1, dass sie Angst habe, diese zu verlieren, wenn sie dieselbe Krankheit habe wie ihre 1. Tochter. Außerdem sei es ein Muss, dass sie dort beschnitten werde. Sie wolle nicht, dass sie beschnitten werde. Sie zum Beispiel habe kein Gefühl, wenn sie mit ihrem Ehemann sei. Sie fühle nichts. Das wolle sie nicht für ihre Tochter. Danach befragt, was genau sie über die Tradition der Beschneidung in ihrem Herkunftsland wisse, erklärte die Klägerin zu 1, wo sie herkommen, müsse man beschnitten werden. Die älteren Frauen würden einen festhalten und beschneiden. Manchmal passiere es, wenn man noch klein sei oder wenn man 18 Jahre alt sei oder wenn man schwanger sei. Auf Nachfrage, wie der Vater der Klägerin dazu stehe, erklärte sie, er als Mann finde diese Tradition nicht gut, da sie - die Klägerin zu 1 - nichts fühle, wenn sie Liebe machen würden. Er wolle das nicht für seine Tochter. Er wolle das nicht erleben, wenn sie zurückgingen nach Nigeria. Befragt, wer in ihrer Familie bestimme, dass die Beschneidung durchgeführt werde, ihre Tante oder eine andere Person, erklärte die Klägerin zu 1, die Familie des Mannes bestimme dies; die Frauen. Teilweise seien es die älteren Frauen in der Gemeinschaft. Wenn die Mutter Angst habe vor der Blutung könne die Großmutter es machen, wenn sie noch die Kraft habe. Im Allgemeinen die Frauen in der Gemeinschaft. Die Frage, was sie denke, ob der Vater ihrer Tochter diese unter diesen Umständen würde beschneiden lassen, bejahte sie, er würde es tun da es ja die Tradition sei. Die Frage, was sie denke, ob sie ihre Tochter vor einer Beschneidung in Nigeria würde schützen können, verneinte die Klägerin, sie denke das nicht. Sollten Sie zurück in Nigeria sein und sie wüssten, dass ihre Tochter zurück sei, würden sie mit ihr in einen Raum gehen und überprüfen, ob sie beschnitten sei. Befragt, ob das auch gegen ihren Willen geschehen würde, erklärte die Klägerin zu 1, sie habe nichts zu sagen, ihr Mann auch nicht. Befragt, was der Möglichkeit entgegenstehe, eine fehlende Beschneidung in Nigeria geheim zu halten, erklärte die Klägerin zu 1, es sei unmöglich, dies geheim zu halten. Die Frage, ob es ihnen zumutbar wäre, in einen anderen Landesteil Nigerias zu ziehen, wo Beschneidung nicht üblich sei, verneinte sie. Sie wisse nicht, wo in Nigeria keine Beschneidung durchgeführt werde. Befragt, ob es weitere Gründe gebe, die gegen eine Rückkehr ihrer Tochter nach Nigeria sprechen würden, erklärte sie, sie habe einfach Angst, sie zu verlieren, da viele Frauen und Mädchen während der Beschneidung verbluten würden. Sie bekämen nur natürliche Medikamente und würden nicht ins Krankenhaus gebracht. Davor habe sie Angst. Die Fragen, ob sie heute alles habe sagen können, was sie habe sagen wollen und ob sie den Sprachmittler im Laufe der ganzen Anhörung verstanden habe, bejahte die Klägerin zu 1. Befragt nach schutzwürdigen Belangen zur Berücksichtigung bei einer eventuellen Entscheidung zum Einreiseund Aufenthaltsverbot erklärte die Klägerin zu 1, dass die Klägerin nur sie, den Vater und ihre Schwester habe. Auf Nachfrage, ob es ihrer Tochter gesundheitlich gut gehe, erklärte die Klägerin zu 1, das wisse sie noch nicht. Sie hätten gesagt, dass ihr Blut abgenommen werde wegen der Sichelzellenanämie. Auf Nachfrage erklärte die Klägerin zu 1 - Mutter der Klägerin - das ausreichend Gelegenheit bestanden habe, die Gründe für den Asylantrag des Kindes zu schildern und auch alle sonstigen Hindernisse darzulegen, die eine Rückkehr des Kindes in das Heimatland oder in einen anderen Staat entgegenstehen würden. Sie bestätigte auf Nachfrage abschließend, dass es keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben habe.
12
In einer Anhörung durch das Bundesamt am 16. August 2021 im Verfahren der Klägerin hörte das Bundesamt den Kläger als deren Vater an. Der Kläger erklärte unter anderem, dass seine Tochter aus Edo State / Benin City sei. Danach befragt, ob die Klägerin zu einem bestimmten Stamm/einer bestimmten Volksgruppe gehöre erklärte der Kläger, seine Tochter sei aus Edo State / Benin City. Es liege eine Geburtsurkunde in Deutschland vor. Die Frage nach weiteren Verwandten der Klägerin im Heimatland bejahte der Kläger, sie habe noch die Großmutter, 2 Onkel und eine Tante in Nigeria. Die Frage, ob er noch Kontakt zu seinen Familienangehörigen habe, bejahte der Kläger. Er habe Kontakt zu seinem Bruder, sie sprächen über Facebook. Der Name des Großvaters der Klägerin väterlicherseits sei O.
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Befragt zum Verfolgungsschicksal des Kindes und den Gründen für den Asylantrag des Kindes erklärte der Kläger, es gebe eine Sache, die in seiner Heimatstadt praktiziert werde, die Beschneidung. Die meisten Kinder würden dabei sterben, deshalb wolle er die Klägerin nicht wieder mit zurückbringen. Es sei sehr gefährlich, deshalb wolle er sie nicht nach Nigeria bringen. Die Frage, ob das alle Gründe sein, bejahte der Kläger, das sei der Hauptgrund. Seine erste Tochter habe Sichelzellenanämie. Er habe Angst, dass die Klägerin das auch haben könnte. Es sei sehr schwierig in Afrika eine Behandlung dafür zu bekommen. Außerdem sei nach ihrer Geburt herausgefunden worden, dass sie eine Infektion habe. Deshalb seien ihre Medikamente verschrieben worden. Befragt, was er denke, was der Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Nigeria konkret passieren würde, erklärte der Kläger, wenn sie nach Nigeria gehe, sei es ein Muss, dass sie beschnitten werde. Selbst wenn er mit ihr nach Lagos oder Abuja gehen würde, würde das nichts bringen, da seine Familie sie dort würde finden müssen und die Beschneidung eine lange Tradition in seiner Familie sei. Befragt, was genau er über die Tradition der Beschneidung in seinem Herkunftsland wisse, erklärte der Kläger, als er klein gewesen sei habe er seine Mutter gefragt, was der Grund für die Beschneidung sei. Seine Mutter habe ihm gesagt, dass wenn eine Frau beschnitten sei, sie nicht mehr so ein großes Verlangen nach Sex habe. Aber er verstehe das nicht. Danach befragt, wie die Mutter der Klägerin dazu stehe, erklärte er, bei seiner Frau sei es so, sie sei selbst beschnitten. Sie kenne die Vorund Nachteile, weshalb sie auch dagegen sei. Bei seiner Familie sei die Beschneidung ein Muss, egal wie alt das Mädchen sei. Bevor sie heiratete, müsse sie beschnitten sein. Auf Frage, wer in seiner Familie bestimme, dass die Beschneidung durchgeführt werde, seine Tante oder eine andere Person, erklärte der Kläger, die Familie seines Vaters bestimme dies. Es sei allgemein die Tradition. Die Frage, ob er denke, dass er die Klägerin vor einer Beschneidung in Nigeria würde schützen können, verneinte er. Er habe nicht die Macht das zu tun. Es sei eine Tradition, die er nicht ändern könne. Befragt, ob das auch gegen seinen Willen geschehen würde, er sei ja der Vater des Kindes, erklärte er, er könne nichts machen. Es sei eine langanhaltende Tradition. Die Frage, was der Möglichkeit entgegen stehe, eine fehlende Beschneidung in Nigeria geheim zu halten, verneinte der Kläger. Das sei eine Sache, die man nicht verstecken könne. Bei einem Mädchen komme die Familie und prüfe, ob sie beschnitten sei. Wenn sie nicht beschnitten sei, würden sie sie mitnehmen und wieder bringen, wenn sie es vollzogen hätten. Man könne nichts dagegen tun. Die Frage, ob es ihnen zumutbar wäre, in einen anderen Landesteil Nigerias zu ziehen, wo Beschneidung nicht üblich sei, verneinte der Kläger. Überall in Nigeria würden Beschneidungen durchgeführt. Selbst die Polizei und die Regierung machten nichts dafür, da sie es als eine Tradition ansehen würden. Er wisse nicht, wo in Nigeria keine Beschneidung durchgeführt werde. Darauf hingewiesen, dass Beschneidungen in Nigeria unter Strafe gestellt sein, erklärte der Kläger, in seiner Familie werde es nach wie vor gemacht. Die Frage, ob es weitere Gründe gebe, die gegen eine Rückkehr der Klägerin nach Nigeria sprechen würden, verneinte er, das seien alle Gründe. Es würde gefährlich für sie sein, wenn sie nach Nigeria gehen würde. Die Fragen, ob er heute alles habe sagen können, was ihr für seine Tochter habe sagen wollen, und ob er den Sprachmittler im Laufe der ganzen Anhörung verstanden habe, bejahte der Kläger. Befragt nach schutzwürdigen Belangen zur Berücksichtigung bei einer eventuellen Entscheidung zum Einreise- und Aufenthaltsverbot erklärte der Kläger, dass die Klägerin nur ihre Mutter, ihre Schwester und ihn habe. Die Frage, ob es der Klägerin gesundheitlich gut gehe, bejahte der Kläger, heute gehe es ihr gut.
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Mit Bescheid vom 12. November 2021 erkannte das Bundesamt der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nummer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nummer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nummer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nummer 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen, andernfalls sie nach Nigeria abgeschoben werde (Nummer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nummer 6).
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Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Eine erlittene Vorverfolgung könne angesichts der Tatsache, dass die Klägerin im Bundesgebiet geboren worden sei und sich zu keiner Zeit in Nigeria aufgehalten habe, nicht vorliegen. Soweit die Eltern geltend machen würden, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Nigeria die Beschneidung drohe und die Eltern sie davor nicht würden schützen können, sei keine beachtliche Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Weibliche Genitalverstümmelung sei zwar nach wie vor in Nigeria verbreitet. Dabei gebe es erhebliche regionale Diskrepanzen. Genitalverstümmelungen seien generell in ländlichen Gebieten weiterverbreitet als in den Städten. Vorliegend gehöre die Klägerin ebenso wie ihr Vater der Volksgruppe der Edo an. Hinsichtlich der FGM-Prävalenz im Bundesstaat Edo könne ein Rückgang festgestellt werden. Hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit der drohenden Beschneidung sei wesentlich darauf abzustellen, wie die Eltern der Klägerin selbst zu Beschneidung stehen. Sprächen sich beide Eltern gegen eine Beschneidung aus, sei es höchst unwahrscheinlich, dass die Beschneidung von anderen Verwandten gegen den Willen der Eltern durchgeführt werden könne. Der Druck der Verwandten bestehe häufig in Form von sozialem Druck, indem die Unterstützung der Verwandten versagt werde. Häufig ließen die Eltern jedoch die Zeit für die Beschneidung verstreichen, ohne dass diese durchgeführt werde. Schwieriger stelle sich die Situation für Frauen dar, die gegen eine Beschneidung sein, die ihr Ehemann befürwortet.
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Vorliegend verneinten die Eltern die Beschneidung. Sie hätten ausdrücklich vorgetragen, sie lehnten die Beschneidung ihrer Tochter ab. Wie bereits dargestellt hätten in Nigeria meistens beide Eltern das letzte Entscheidungsrecht, ob eine Beschneidung durchgeführt werde oder nicht. Bei einigen Volksgruppen habe das älteste weibliche Familienmitglied einen erheblichen Einfluss auf die Beschneidung. Durch alle Volksgruppen beziehe sich jedoch die Gemeinsamkeit, dass beide Elternteile eine Beschneidung verweigern könnten. Der soziale Druck infolge von Entzug von Unterstützungsleistungen wirke sich bei einer Familie, bei der beide Elternteile erwerbstätig sein können und dies auch in der Vergangenheit gewesen sein, nicht auf unerträgliche Art und Weise aus. Es stehe Ihnen frei, sich in einem anderen Bundesstaat ein gemeinsames Leben aufzubauen und sich so dem schädlichen Einfluss der Großfamilie zu entziehen.
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Zudem würden die Eltern der Klägerin auf die Nutzung internen Schutzes zu verweisen sein. Nach den Erkenntnissen des Bundesamts sei die grundsätzlich schutzwürdige Regierung in den großen Städten wie Abuja, Lagos, Benin, oder Ibadan in der Lage, Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung zu bieten. Diese Städte verfügten über Flughäfen und seien damit zumindest auf dem Luftweg ohne beachtliche Risiken erreichbar. Die Regionen um die oben genannten Großstädte sowie generell die südlichen Teile Nigerias seien als Möglichkeiten des internen Schutzes zu nennen. Die Situation dort sei jedenfalls ausreichend, um eine sichere interne Fluchtalternative darzustellen. Danach könne es der Klägerin zugemutet werden, sich in diesem sicheren Landesteil niederzulassen. Die Mutter der Klägerin verfüge nach eigenen Angaben über eine durchschnittliche Schulbildung und könne afrikanische Frisuren machen. Der Vater verfüge über eine überdurchschnittliche Schulbildung und habe in einer Architektur-Firma gearbeitet. Er habe hierbei gut verdient. Es seien keine Hinweise erkennbar, dass die Familie der Klägerin nicht imstande sein werde, sich bei einer erneuten Rückkehr nach Nigeria eine wenigstens ausreichende Lebensgrundlage zu schaffen. Somit sei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch eine Beschneidung der Klägerin bei einer Rückkehr nach Nigeria nicht zu befürchten.
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Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Der Klägerin drohe in ihrem Herkunftsland nicht die Vollstreckung oder Verhängung der Todesstrafe. Der Klägerin drohe auch kein ernsthafter Schaden durch Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung, wie bereits ausgeführt.
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Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor.
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Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Nigeria führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung der Klägerin eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege, § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass für Rückkehrer in Nigeria die Möglichkeit bestehe, ökonomisch eigenständig alleine zu leben und auch ohne Hilfe Dritter zu überleben. Allein in wenigen besonders gelagerten Einzelfällen komme deshalb wegen der allgemeinen schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Lage in Nigeria ein Abschiebungsverbot in Betracht. Ein solcher Ausnahmefall liege nicht vor. So könnten die Eltern der Klägerin integrierende internationale Hilfsorganisationen vor Ort kontaktieren und deren Hilfe in Anspruch nehmen. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Die Eltern der Klägerin hätten keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände geltend gemacht. Solche seien auch sonst nicht ersichtlich. Es sei damit nicht zu erwarten, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Nigeria eine im Vergleich zur dortigen Bevölkerung wesentlich schlechteren humanitären Lage ausgesetzt sein werde. Überdies hätten die Eltern der Klägerin bis zu ihrer Ausreise in Nigeria gelebt und kennen infolgedessen die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse ihres Heimatlandes. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte oder Grundrechte der EMRK komme nicht in Betracht.
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Es drohe der Klägerin auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes führen würde. Die Eltern der Klägerin hätten keine Umstände geltend gemacht, die auf ein Vorliegen der Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes hindeuten würden. Aufgefahren, die durch die aktuelle Corona-Pandemie verursacht würden, treffe dies nicht zu. Diese drohten nicht nur der Klägerin, sondern unterschiedslos allen Personen in Nigeria.
22
Des Weiteren wurden die Abschiebungsandrohung, die Ausreisefrist von 30 Tagen und die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung begründet. Anhaltspunkte für eine kürzere Fristsetzung aufgrund schutzwürdiger Belange seien weder vorgetragen noch lägen sie nach den Erkenntnissen des Bundesamts vor. Die Klägerin verfüge im Bundesgebiet über keine wesentlichen Bindungen, die im Rahmen der Ermessensprüfung zu berücksichtigen wären. Die Eltern und die Schwester der Klägerin verfügten über keinen gesicherten Aufenthalt, da ihre Asylanträge bereits abgelehnt worden seien.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Ausführungen im Bescheid verwiesen.
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Dieser Bescheid wurde mittels Postzustellungsurkunde am 17. November 2021 zugestellt.
25
Dagegen hat die Bevollmächtigte der Klägerin führe diese mit Schriftsatz vom 24. November 2021, beim Verwaltungsgericht München per Telefax eingegangen am 24. November 2021, Klage erhoben und beantragt,
26
den Bescheid der Beklagten vom 12. November 2021 in den Ziffern 1 und 3-6 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass bei der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft vorliegt, hilfsweise der subsidiäre Schutzstatus bei ihr vorliegt, Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes bei ihr vorliegen.
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Auf das bisherige Vorbringen werde Bezug genommen. Die Klägerin habe eine Schwester, deren Verfahren unter dem Aktenzeichen M 9 K 17. … beim Verwaltungsgericht München anhängig sei. Diese sei schwer krank; sie leide an Sichelzellenanämie und sollen nach Auskunft des Kinderkrebszentrums der LMU alsbald operiert werden (Stammzellentransplantation). Eine Lebensunterhaltssicherung bei einer Rückkehr nach Nigeria sei angesichts dieser Erkrankung ausgeschlossen.
28
Mit Schriftsatz vom 1. Dezember 2021 hat das Bundesamt für die Beklagte beantragt,
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Mit Beschluss vom 30. Mai 2022 wurde der Rechtsstreit betreffend die Klägerin zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
31
Mit Schriftsätzen jeweils vom 7. Juni 2022 erklärte die Bevollmächtigte des Klägers, der Klägerinnen und der Klägerin, dass diese sich auf das bisherige Vorbringen bezögen.
32
Am 14. Juli 2022 wurde zu den Verfahren M 13 K 17. …, M 13 K 17. … und M 13 K 21. … gemeinsam mündlich verhandelt.
33
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachund Streitstand wird ergänzend auf die Gerichtsakten in den Verfahren M 13 K 17. …, M 13 K 17. … und M 13 K 21. …, die vom Bundesamt vorgelegten Behördenakten und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
34
Die Klage ist zulässig, aber nur teilweise begründet.
35
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Asylgesetz (AsylG) oder des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Insoweit war die Klage abzuweisen. Zur Begründung wird auf die zutreffenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid verwiesen, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG).
36
Die Klägerin hat jedoch einen Anspruch darauf, dass die Beklagte für sie ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG feststellt.
37
Ein Ausländer darf nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, wenn sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Für die Annahme einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art. 3 EMRK) müssen die im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen. Allgemein schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die nicht auf eine Handlung oder Unterlassung von Verfolgungsakteuren (vgl. § 3c AsylG) zurückzuführen sind, können nur in besonderen Ausnahmefällen zur Feststellung eines Abschiebungsverbots führen Denn Art. 3 EMRK enthält keine Verpflichtung der Vertragsstaaten, nicht bleibeberechtigte Ausländer in ihrem Hoheitsgebiet dauerhaft mit einer Wohnung oder finanzieller Unterstützung zu versorgen, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25/18 - NVwZ 2019, 61 Rn. 20). Nach der neueren Rechtsprechung kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht sein, wenn sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not wiederfände, die es ihr nicht erlauben würde, selbst die elementarsten menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen, namentlich sich zu ernähren, zu waschen und ein Obdach zu finden, und ihre Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen mit der Menschenwürde unvereinbaren Zustand der Verelendung versetzen würde (vgl. Zimmerer in BeckOK MigR, Stand 1.1.2021, § 60 AufenthG Rn. 23). Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25/18 - juris LS 1 und Rn. 9, 11).
38
Nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 21.4.2022, 1 C 10.21, Pressemitteilung Nr. 25/2022 vom 21.4.2022) ist Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist.
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Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht.
40
Im vorliegenden Fall geht der Einzelrichter davon aus, dass bereits jetzt absehbar ist, dass der Klägerin und ihrem Familienverband mit ihren Eltern (ihre Mutter ist aktuell im 8. Monat schwanger) und ihrer 2016 geborenen Schwester bei einer Ausreise nach Nigeria mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem engen zeitlichen Zusammenhang nach dem Verbrauch von Rückkehrhilfen eine Verelendung drohen würde.
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Zur Begründung wird auf die Ausführungen in den Entscheidungsgründen der Urteile des auch hier erkennenden Einzelrichters vom 14. Juli 2022 betreffend die Mutter der Klägerin und ihrer Schwester A., die an der Sichelzellerkrankung leidet (M 13 K 17. …*), sowie betreffend den Vater der Klägerin (M 13 K 17. …*) verwiesen. Gerade auch weil das Bundesamt die Klägerin mit ihren Eltern wegen einer durch die Familie des Vaters der Klägerin drohenden Beschneidungsgefahr auf die Inanspruchnahme internen Schutzes verwiesen hat, steht eine Unterstützung durch diese Familie des Vaters der Klägerin nicht zur Verfügung. Die Mutter der Klägerin hat auch keinen unterstützungsfähigen Familienverband (mehr).
42
Mit der Aufhebung von Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids und der Verpflichtung der Beklagten, das Vorliegen der diesbezüglichen Abschiebeverbotsvoraussetzungen festzustellen, wird die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 gegenstandslos, ebenso die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nr. 6. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Nach § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.