Inhalt

VG München, Urteil v. 14.07.2022 – M 13 K 17.46833
Titel:

Abschiebungsverbot für nigerianische Familie mit minderjährigen Kindern

Normenketten:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Maßstab für die iRd Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose ist grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen; nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist. (Rn. 66) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl, N., Familie mit zwei minderjährigen weiblichen Kindern, Mutter erneut schwanger, Gefahr der Beschneidung, Tochter mit homozygoter Sichelzellerkrankung, Abschiebungsverbot aus wirtschaftlichen Gründen (bejaht), minderjährige Kinder, Abschiebungsverbot, Beschneidung, Genitalverstümmelung, Schwangerschaft, homozygoter Sichelzellerkrankung, Nigeria, Existenzminimum, Verelendung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 18647

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. Juli 2017 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich N. vorliegen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Klägerinnen ¾ und die Beklagte ¼.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin zu 1 im Verfahren M 13 K 17. … (H. B.; nachfolgend: Klägerin zu 1; aktuell im 8. Monat schwanger) ist eine am … 1991 in N. geborene nigerianische Staatsangehörige mit Volkszugehörigkeit Yoruba christlichen Glaubens. Sie ist die Mutter der am … 2016 in Deutschland geborenen Klägerin zu 2 im Verfahren M 13 K 17. … (A. … nachfolgend: Klägerin zu 2; zusammen mit der Klägerin zu 1: Klägerinnen). Ehemann der Klägerin zu 1 und Vater der Klägerin zu 2 ist der am … 1983 in N. geborene E. O., nigerianischer Staatsangehöriger mit Volkszugehörigkeit Edo christlichen Glaubens, der das Asylklageverfahren M 13 K 17. … führt (nachfolgend: Kläger). Für eine weitere Tochter (E. P. O., geb. am … 2021 in Deutschland) wird das Asylklageverfahren M 13 K 21. … geführt (nachfolgend: Klägerin).
2
Am 20. Juli 2016 stellten die Klägerinnen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag.
3
Die Klägerin zu 1 machte Angaben unter anderem dahingehend, dass sie am 29. November 2015 nach Deutschland eingereist sei, dass sie zum 1. Mal in der Bundesrepublik Deutschland sei, dass ihre wirtschaftliche Situation schlecht gewesen sei, dass sie den Schulabschluss am Gymnasium erworben habe und von Beruf Friseurin sei.
4
Am 20. Juli 2016 stellte auch der Kläger beim Bundesamt einen Asylantrag.
5
In einer Anhörung durch das Bundesamt am 26. Oktober 2016 erklärte die Klägerin zu 1 unter anderem, dass sie Yoruba und katholische Christin sei. Sie habe einen Reisepass gehabt, den sie bei der Polizei in R. abgegeben habe. Eine Bestätigung habe sie nicht erhalten. Sie (ihr Mann und sie selbst) hätten auch italienische Dokumente, die sie auch abgegeben hätten. Ihre letzte offizielle Anschrift im Heimatland bis zur Ausreise sei gewesen Benin City in Edo-State. Sie habe dort mit ihrem Mann gewohnt, er wisse die Straßen und Hausnummer. Dort hätten noch die Mutter ihres Mannes und seine Geschwister gewohnt. Geheiratet hätten sie am 13. Februar 2010 in Benin City. Die Heiratsurkunde habe Ihnen auch die Polizei in R. abgenommen. Die Frage nach einer offiziellen Heirat bejahte die Klägerin zu 1, sie habe eine Kopie der Heiratsurkunde dabei. Danach befragt, wann sie ihr Heimatland verlassen habe, erklärte die Klägerin zu 1, im Jahr 2011, an den Monat könne sie sich nicht mehr erinnern. Nach Deutschland sei sie am 29. November 2015 eingereist. Die Frage, ob sie mit ihrem Mann ausgereist sei, bejahte sie. Befragt nach ihrer Reiseroute erklärte die Klägerin zu 1 Niger, Libyen und Italien. Befragt nach dem benutzten Transportmittel erklärte sie, Bus und Boot und nach Deutschland sei sie mit dem Zug gefahren. Befragt nach den Reisekosten erklärte sie, sie wisse es nicht, das habe alles ihr Mann gemacht. Vor ihrer Einreise nach Deutschland hätten sie sich 4 Jahre in Italien aufgehalten, in Venedig, davor seien sie in Treviso gewesen. Sie hätten beide keine Arbeit gehabt, sondern vor Supermärkten gebettelt. Danach befragt, warum sie erst 2015 weitergereist bzw. nach Deutschland gekommen seien, erklärte sie, dass sie nicht gewusst hätten, wie sie weiterkommen könnten. Ein Freund ihres Mannes habe ihnen gesagt, wie man nach Deutschland komme. Die Fahrkarte habe sie von erbetteltem Geld gekauft. Sie sei schwanger gewesen und ihr Mann wäre eigentlich glücklich gewesen, aber sie habe viel gegessen, daher habe ihr Mann sie verlassen, weil er kein Geld mehr für das Essen gehabt habe. Irgendwie habe sie ihn verstanden. Sie sei dann zu seinem Freund gegangen, der ihr gesagt habe, sie solle nach Deutschland gehen, er habe auch keine Arbeit gehabt. Befragt, wie sie sich wiedergefunden hätten, erklärte sie, sie sei in Deutschland gewesen und habe ihn angerufen und gesagt, er solle kommen. Befragt nach den Namen, Vornamen und der Anschrift ihrer Eltern erklärte sie, diese lebten nicht mehr, sie seien „201“ (lt. Anhörungsprotokoll) umgebracht wurden, noch vor ihrer Ausreise. Befragt, ob noch weitere Verwandte im Heimatland liebten, erklärte sie, ihre ganze Familie sei umgebracht worden. Nach Schulbesuch befragt erklärte sie, sie sei 5 Jahre zur Schule gegangen, könne lesen und schreiben. Befragt nach einem Beruf erklärte sie, sie könne afrikanische Frisuren machen.
6
Befragt zu Verfolgungsschicksal und den Gründen für den Asylantrag erklärte die Klägerin zu 1, dass sie N. verlassen habe, weil 2011 die Moslems in Jos ihre Eltern getötet hätten, weil diese Christen gewesen seien. Befragt, ob sie in Jos gewohnt habe, ob sie damals noch nicht verheiratet gewesen sei, erklärte sie, doch, sie sei verheiratet gewesen, habe aber immer wieder einige Monate bei ihren Eltern gelebt. Das sei in Afrika so üblich, um zu zeigen, dass man seine Eltern liebe. Sie sei eines Tages nach Hause gekommen und das Haus sei abgebrannt gewesen, die ganze Familie sei tot gewesen. Sie sei dann zu ihrem Mann gegangen. Befragt, woher sie wisse, dass es Moslems gewesen sein, erklärte sie, es habe vorher in Jos Kampf zwischen Moslems und Christen gegeben. Die Frage, ob sie diesen Kampf selbst miterlebt habe, verneinte die Klägerin zu 1, das hätten ihr ihre Eltern erzählt. Befragt, ob die Polizei den Tod ihrer Eltern und die Umstände (Haus abgebrannt) untersucht habe, erklärte sie, dass wisse sie nicht. Sie habe zu viel Angst gehabt, sie sei bei ihrem Mann geblieben. Es sei aber im Fernsehen gekommen, sie hätten die verbrannten Häuser gezeigt. In den Nachrichten habe es geheißen, es seien die Moslems gewesen. Befragt, was ihr persönlicher Grund gewesen sei, warum sie aus N. geflohen sei, erklärte sie, dass ihre Mann Probleme gehabt habe und sie auch Angst gehabt habe wegen dem Tod ihrer Eltern. Befragt, wer entschieden habe, dass sie N. verlassen, erklärte sie, dass habe ihr Mann entschieden. Befragt, welchen Grund ihr Mann angegeben habe, erklärte sie, er habe gesagt, die Polizei suche ihn, weil er eine Frau geschwängert habe. Mehr wisse sie nicht. Befragt, ob sie selbst gesehen habe, dass die Polizei gekommen sei oder ob er ihr das nur erzählt habe, erklärte sie, sie habe gesehen, dass die Polizei gekommen sei. Er selbst sei nicht zu Hause gewesen. Die Polizei habe gesagt, wenn er zurückkomme, solle er zur Polizeistation kommen. Sie habe ihr nicht gesagt, warum sie ihn suchen würden. Am nächsten Morgen seien sie dann weggegangen. Sie sei zwar schockiert gewesen aber auch glücklich, dass sie das Land verlassen. Die Frage, ob sie persönlich verfolgt oder bedroht worden sei in N., bejahte die Klägerin, dass auch. Ihr Vater habe sie einem Mann versprochen, der ihm dafür Geld gegeben habe. Als sie verheiratet gewesen sei und bei ihrem Mann gelebt habe, sei dieser Mann gekommen und habe gewollt, dass sie zu ihm komme, da ihr Vater sie ihm versprochen gehabt habe. Er habe sie auch mit einem Messer verletzt. Er sei dann aber weggelaufen, weil andere Leute gekommen sein, die ihn auf der Straße noch verfolgt hätten. Sie habe diesen Vorfall auch der Polizei angezeigt, aber dieser Mann sei reich, er habe die Polizei wohl bestochen. Danach habe ihr Mann dann die Probleme mit der Polizei gehabt und sie hätten das Land verlassen.
7
Befragt, was sie befürchten würde, wenn sie zurück nach N. gehen würden, erklärte sie, dass sie dort keine Familie mehr habe. Sie würde Angst haben vor diesem Mann, dem sie ihr Vater versprochen habe. Sie habe auch kein Zuhause mehr, in das sie würde gehen können, es würde hoffnungslos für Sie sein. Die Fragen, ob das abschließend ihre Asylgründe seien und ob ihre Asylgründe auch für ihre Tochter gelten würden, bejahte die Klägerin zu 1.
8
Befragt nach schutzwürdigen Belangen zur Berücksichtigung bei einer eventuellen Entscheidung zum Einreise- und Aufenthaltsverbot erklärte die Klägerin zu 1, sie habe in Deutschland keine Familienangehörigen außer ihrem Mann und ihrer Tochter.
9
Die Akte des Bundesamts enthält unter anderem eine Kopie eines nigerianischen Passes mit der Gültigkeit vom 15. Oktober 2014 bis zum 15. Oktober 2019, ausgestellt in Rom/Italien und eine italienische Permesso di Soggiorn, sowie eine nigerianische Heiratsurkunde.
10
In der Akte des Bundesamts befindet sich ein ärztliches Attest vom 28. April 2017, nach dem die Klägerin zu 1 unter einem allergischen Asthma leide, welches sich im Laufe des letzten Jahres demaskiert habe. Nach wie vor komme es, auch unter medikamentöser Therapie, zu akuten Asthmaanfällen. Eine unklare Leberwerteerhöhung, die bereits im letzten Jahr einmalig aufgetreten sei und jetzt wieder vorliege, habe noch nicht hinreichend abgeklärt werden können. Dazu bedürfe es noch weitere Untersuchungen und Verlaufsbeobachtungen.
11
Mit Bescheid vom 25. Juli 2017 erkannte das Bundesamt den Klägerinnen die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nummer 1 des Bescheids), lehnte die Anträge auf Asylanerkennung ab (Nummer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nummer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nummer 4). Die Klägerinnen wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen, andernfalls sie nach N. abgeschoben würden (Nummer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nummer 6).
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Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte lägen nicht vor. Die Klägerin zu 1 habe mit den beiden Vorfällen, die unmittelbar die Eltern der Klägerin zu 1 und den Ehemann beträfen, keine Handlungen vorgetragen, die zielgerichtet ein Rechtsgut der Klägerinnen verletzten. Aus diesem Grund gehe das Bundesamt nicht davon aus, dass diese Vorfälle aufgrund fehlender Tatbestandsvoraussetzungen eine Verfolgung bei Rückkehr beachtlich wahrscheinlich machten. Auch die Verletzung durch den Mann, dem die Klägerin zu 1 versprochen worden sei, stelle vorliegend keine Verfolgungshandlung dar. Weder sei anhand der Darstellung des Vorfalls ersichtlich, dass dieser die notwendige Intensität einer Verfolgungshandlung erreicht habe, noch könne das Bundesamt davon ausgehen, dass dieser Flucht auslösend gewesen sei. Beide Aspekte seien damit ausschlaggebend um zu bewerten, ob die Klägerin zu 1 vorverfolgt ausgereist sei und damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung bei Rückkehr nach N. drohe. Der Eindruck der fehlenden Intensität werde besonders dadurch gewonnen, dass die Klägerin zu 1 erst nach wiederholter Nachfrage von diesem Erlebnis erzählt habe. Andere Aspekte, die eine Verfolgung für die Klägerin zu 1 oder der in Deutschland geborenen Tochter und Klägerin zu 2 bei Rückkehr nach N. begründen würden, seien weder vorgetragen noch seien sie dem Bundesamt bekannt.
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Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Aufgrund des Sachvortrags im Rahmen der persönlichen Anhörung könne nicht davon ausgegangen werden, dass ein ernsthafter Schaden bei Rückkehr drohe. Aspekte, die einen drohenden ernsthaften Schaden für die Klägerin zu 1 oder der in Deutschland geborenen Tochter und Klägerin zu 2 bei Rückkehr nach N. begründen würden, seien weder vorgetragen noch seien sie dem Bundesamt bekannt.
14
Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor.
15
Die derzeitigen humanitären Bedingungen in N. führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung der Klägerinnen eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege, § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass für Rückkehrer in N. die Möglichkeit bestehe, ökonomisch eigenständig alleine zu leben und auch ohne Hilfe Dritter zu überleben. Allein in wenigen besonders gelagerten Einzelfällen komme deshalb wegen der allgemeinen schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Lage in N. ein Abschiebungsverbot in Betracht. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerinnen sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Das Bundesamt gehe davon aus, dass die Klägerin zu 1 zusammen mit ihrem Ehemann, der selbst in einer Architektur-Firma gut verdient habe, ihr Existenzminimum erreichen könne. Dies sollte ihr zusammen im Familienverband möglich sein, besonders da sie ebenso über eine grundlegende Schulbildung verfüge und bereits vor der gemeinsamen Ausreise zusammen mit ihrem Mann ihren Lebensunterhalt bestritten habe. Dieser Umstand werde auch nicht davon beeinträchtigt, dass der Ehemann auf internen Schutz in Lagos verwiesen worden sei, da dieser eindeutig die nötigen Voraussetzungen mitbringe, seien es schulische oder berufliche, um für die Familie bestehend aus ihm, Ehefrau und Kind zu sorgen. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte oder Grundrechte der EMRK komme nicht in Betracht.
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Es drohe den Klägerinnen auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes führen würde. Mit Attest vom 28. April 2017 würden der Klägerin zu 1 allergisches Asthma und erhöhte Leberwerte attestiert. Grundsätzlich sei die medizinische Behandlung in N. gegeben. Besonders in Städten wie Lagos sollte diese, anders als auf dem Land, gewährleistet sein. Allergisches Asthma sei in N. behandelbar. Demnach sollte auch die Klägerin zu 1 in Lagos Zugang zu einer Behandlung des allergischen Asthmas haben. Ebenso sei anzunehmen, dass die Klägerin zu 1 gemeinsam mit ihrem Ehemann die Kosten für eine Behandlung der Erkrankung in N. tragen können. Da der Ehemann nach eigenen Angaben gut verdient habe und sogar in der Lage gewesen sei, die Ausreise von einer verhältnismäßig hohen Summe für nigerianische Verhältnisse anzusparen, sollte die Erkrankung der Klägerin zu 1 eine Erreichung des Existenzminimums nicht entgegenstehen. Eine Leberwerteerhöhung, die laut oben genanntem Attest im Jahr 2016 einmalig aufgetreten sei, könne zudem kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes begründen, da daraus keine konkrete Gefahr für Leib und Leben hervorgehe.
17
Des Weiteren wurden die Abschiebungsandrohung, die Ausreisefrist von 30 Tagen und die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung begründet. Anhaltspunkte für eine kürzere Fristsetzung aufgrund schutzwürdiger Belange seien weder vorgetragen noch lägen sie nach den Erkenntnissen des Bundesamts vor. Die Klägerinnen verfügten im Bundesgebiet über keine wesentlichen Bindungen, die im Rahmen der Ermessensprüfung zu berücksichtigen wären.
18
Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Ausführungen im Bescheid verwiesen.
19
Mit Bescheid vom 25. Juli 2017 erkannte das Bundesamt dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nummer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nummer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nummer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nummer 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen, andernfalls er nach N. abgeschoben werde (Nummer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nummer 6).
20
Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Ausführungen im Bescheid bzw. im Tatbestand des Urteils vom 14. Juli 2022 im Verfahren des Klägers verwiesen.
21
In einem Telefax vom 27. Juli 2017, zur Akte der Klägerinnen registriert am 28. Juli 2017, teilte ein Mitarbeiter der Caritaszentrum R. Asylsozialberatung mit, dass die Geburt der Klägerin zu 2 dem Bundesamt angezeigt worden sei. Die Eltern seien unschlüssig, ob sie auch ihrer Sorge Ausdruck verliehen hätten, ihre Tochter im Falle einer Abschiebung nicht vor der Gefahr der Beschneidung schützen zu können. Falls Sie diese Sorge nicht klar zum Ausdruck gebracht hätten, wollten sie dies nachholen und die Gefahr der Beschneidung als wesentliches Argument im Asylverfahren ihrer Tochter vorbringen. Das Ehepaar wolle wissen, ob bereits ein Asylverfahren für ihre Tochter eröffnet worden sei und was sie tun müssten, damit darin die Gefahr der Beschneidung berücksichtigt werde. Es werde schriftliche Auskunft erbeten.
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Der Bescheid vom 25. Juli 2017 betreffend die Klägerinnen wurden der Klägerin zu 1 mittels Postzustellungsurkunde am 1. August 2017 zugestellt.
23
Dagegen hat die damalige Bevollmächtigte der Klägerinnen für diese mit Schriftsatz vom 8. August 2017, beim Verwaltungsgericht München per Telefax eingegangen am 8. August 2017, Klage erhoben (ursprünglich: M 9 K 17. …) und beantragt,
24
den Bescheid des Bundesamts vom 25. Juli 2017 in Ziffern 1 sowie 3-6 aufzuheben sowie die Beklagte zu verpflichten, die Klägerinnen als Flüchtlinge anzuerkennen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, den Klägerinnen subsidiären Schutz zuzusprechen, weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes hinsichtlich N. vorliegen.
25
Die Begründung erfolge durch einen besonderen Schriftsatz.
26
Mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2017 übersandte die damalige Bevollmächtigte der Klägerinnen für die Klägerin zu 1 ein ärztliches Attest vom 19. September 2017. In diesem Attest wird unter anderem ausgeführt, dass die Klägerin zu 1 dauerhaft unter einem allergischen Asthma leide, dass auch medikamentös mittels eines Sprays behandelt werde. Im Frühjahr zu Zeiten des Pollenflugs verstärke es sich. Hier könne zeitweise eine zusätzliche Cortisontherapie nötig werden. Bei regelmäßiger Einnahme des Sprays lasse sich das Asthma gut beherrschen. Werde die Behandlung abgebrochen, könne es zu schweren Asthmaanfällen kommen, die unter Umständen nur noch schwer zu behandeln sein würden. Man empfehle eine Dauertherapie und engmaschige Kontrolle durch Lungenfunktionsprüfungen.
27
Mit Schriftsatz vom 21. November 2017 übersandte die damalige Bevollmächtigte der Klägerinnen ein ärztliches Attest vom 17. November 2017. In diesem Attest wurde bestätigt, dass die Klägerin zu 1 an der Klitoris beschnitten sei. Die Beschneidung sei gut verheilt und mit Sicherheit lange zurückliegend, sodass davon ausgegangen werden könne, dass sie unter Zwang in der Kindheit durchgeführt worden sei. Die Klägerin zu 2 sei nicht beschnitten. Die Eltern wollten dies auch unter keinen Umständen. Ihr würde bei Rückkehr nach N. eine Zwangsbeschneidung bevorstehen, nach Aussage der Klägerin zu 1 auch mit Gewalt durchgesetzt.
28
Mit Schriftsatz vom 3. Januar 2018 übersandte die damalige Bevollmächtigte der Klägerinnen eine Stellungnahme der Klägerin zu 1 sowie des Klägers. In dieser „ergänzenden Erklärung zur Anhörung beim BAMF“ erklären die Eltern der Klägerin zu 2, dass sie bei ihrer Anhörung beim Bundesamt nicht von der Gefahr der Zwangsbeschneidung für ihre Tochter berichtet hätten. Ihnen sei nicht so genau klar gewesen, was bei der Anhörung von ihnen erwartet werde. Sie hätte nicht gewusst, dass die Gefahr der Zwangsbeschneidung für ihre Tochter eine wichtige Information für das Bundesamt sein könnte und seien auch nicht danach gefragt worden. Nun hätten sie im Kontakt mit der Asylsozialberatung erfahren, dass die Gefahr der Zwangsbeschneidung für das Asylverfahren in Deutschland eine wichtige Rolle spielen könne und sie wollten diesen Punkt hiermit nachträglich zur Anhörung beim Bundesamt vortragen. Sie würden um Entschuldigung bitten, dass sie nicht direkt in der Anhörung davon erzählt hätten. Im Folgenden würden Sie genauere Informationen zur Gefahr für ihre Tochter ausführen.
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Die Familie des Klägers übe Zwangsbeschneidung aus. In seiner Heimatstadt Benin würden alle Mädchen beschnitten. Die Gefahr gehe nicht nur von der Familie aus, sondern von der gesamten Bevölkerung, insbesondere von der Stadtführung/Stadtverwaltung. In der Heimatstadt der Klägerin zu 1 herrsche die gleiche Situation. Die Umsetzung von Zwangsbeschneidung erfolge radikal. Wenn sie sich gegen die Zwangsbeschneidung wehren würden, würden ihnen die Menschen entgegnen: „Shut up!“, also: „Haltet die Schnauze!“. Dann würden sie ihnen ihre Tochter entreißen und beschneiden. Sie würden keinen sicheren Ort in N. kennen, an dem sie sicher geheim halten könnten, dass ihre Tochter nicht beschnitten sei, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen sei es üblich, dass Menschen aus der örtlichen Bevölkerung nach dem Zuzug von neuen Nachbarn an der Tür klopfen würden und prüfen wollten, ob die Töchter beschnitten sein. Zum anderen bestehe die Gefahr, dass ihre Familien sie entdecken würden. Die sozialen Netzwerke ihrer Familien seien weit verzweigt. Würden ihre Familien durch irgendeinen zufälligen Bekannten erfahren, dass sie wieder in N. seien, würden sie nach ihnen suchen und die Beschneidung ihrer Tochter fordern. Sie würden sich dann weigern und daraufhin würden ihre Verwandten ihnen ihre Tochter entreißen, sie beschneiden und ihnen erst dann zurückgeben. Die Beschneidung sei in der Weltsicht ihrer Familien ein solches Muss, dass keine Verhandlungsbereitschaft vorhanden und kein Kompromiss möglich sei. Die Klägerin zu 1 sei selbst beschnitten, ebenso wie alle Frauen in ihrer Familie. Sie sei bereits beim Arzt gewesen, um ihre Beschneidung medizinisch bestätigen zu lassen. Die Zwangsbeschneidung von Frauen werde ihres Wissens im Süden N.s praktiziert. Daher könnten sie nicht in den Süden N.s gehen. Im Norden N.s werde zwar keine Zwangsbeschneidung praktiziert, jedoch sei es der Norden, wo sie verfolgt würden. Dies hätten sie in der Anhörung zum Asylverfahren angegeben. Sie könnten somit weder im Süden noch im Norden N.s in Sicherheit leben.
30
Mit Schriftsatz vom 25. Mai 2018 übersandte die damalige Bevollmächtigte der Klägerinnen für die Klägerin zu 2 Atteste des Klinikums R. vom 4. April 2018 sowie vom 6. April 2018. Bei der Klägerin zu 2 bestehe der Verdacht auf eine Sichelzellenanämie.
31
Im Arztbrief des Klinikums R. vom 4. April 2018 über eine tagesstationäre Behandlung am 4. April 2018 sind zur Klägerin zu 2 folgende Diagnosen genannt: Bauchschmerzen, Obstipation und bekannter Nabelbruch.
32
Im Arztbrief des Klinikums R. vom 6. April 2018 über die tagesstationäre Behandlung am 4. April 2018 und eine stationäre Behandlung vom 5. April 2018 bis zum 13. April 2018 sind zur Klägerin zu 2 folgende Diagnosen genannt: Anämie, am ehesten aplastisch im Rahmen einer Infektion mit Parvovirus B19, Sichelzellanämie, Bauchschmerzen, Obstipation, Lymphadenitis mesenterialis und bekannter Nabelbruch. Am Ende wird ausgeführt, dass eine sofortige Wiedervorstellung erforderlich sei, sollte die Klägerin zu 2 in der Zwischenzeit Fieber entwickeln oder Schmerzen haben. Auch bei neurologischen Auffälligkeiten wie Wesensveränderung oder einer Bewusstseinsstörung sofortige Wiedervorstellung.
33
Mit Schriftsatz vom 7. Juni 2018 legte die damalige Bevollmächtigte der Klägerinnen Diagnostik vom 8. Mai 2018 für die Klägerin zu 2 vor. Die Genotypisierung habe die Mutation ergeben, die einer homozygoten Sichelzellkrankheit entspreche. Als Anlage waren beigegeben ein an die damalige Bevollmächtigte der Klägerinnen gerichtetes Anschreiben vom 30. Mai 2018 zur „Übersendung neuer Befunde“ und eine „Hämoglobinopathie-Diagnostik“ der Universitätsklinik für Kinderund Jugendmedizin Ulm vom 8. Mai 2018 mit der Bemerkung, dass die Genotypisierung die Mutation = homozygote Sichelzellerkrankung ergeben habe.
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Mit Schriftsatz vom 22. Februar 2019 übersandte die damalige Bevollmächtigte der Klägerinnen für die Klägerin zu 2 eine ärztliche Bescheinigung des Klinikums R., Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, vom 28. Dezember 2018. Als Anlagen war beigegeben ein Schreiben des Klinikums R., Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, vom 28. Dezember 2018 mit einer Aufstellung stationärer Aufenthalte der Klägerin zu 2 und der Angabe von Diagnosen, unter anderem Schmerzkrise bei Sichelzellanämie. Es handele sich um eine chronische, genetisch bedingte Erkrankung, die nicht ausreichend oder unbehandelt zu erheblicher Einschränkung durch Schmerzkrisen und mögliche Organschädigungen führen könne. Krisen mit Schmerzen und Zerstörung von Blutzellen mit dadurch bedingter Blutarmut und der Notwendigkeit einer Bluttransfusion seien jederzeit auf unbestimmte Zeit möglich. In Deutschland erhielten alle betroffenen Patienten regelmäßige Kontrollen bei Spezialsprechstunden oder spezialisierten Ärzten. Diesem Schreiben als Anlage beigegeben war ein Entlassungsbericht vom 22. November 2018 des Klinikums R.. Die Klägerin zu 2 habe sich vom 21. November 2018 bis 29. November 2018 nach notfallmäßiger Selbstvorstellung bei Fieber in stationärer Behandlung befunden. Diagnosen: fieberhafter Infekt, a.e. bedingt mit Angina tonsillaris, generalisierte Givingitis / Parodontitis Unterkiefer, bek. Sichelzellanämie, Ausschluss Osteonekrose linkes Knie.
35
Mit Beschluss vom 25. Februar 2019 wurde der Rechtsstreit betreffend die Klägerinnen zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
36
Mit Schriftsätzen jeweils vom 8. Mai 2019 legte die damalige Bevollmächtigte des Klägers und der Klägerinnen das Mandat nieder. Mit Schriftsätzen jeweils vom 9. Juli 2019 zeigte die Bevollmächtigte des Klägers und der Klägerinnen deren anwaltliche Vertretung an.
37
Mit Schriftsatz vom 12. August 2020 teilte die Bevollmächtigte der Klägerinnen mit, dass die Klägerin zu 2 schwer krank sei. Sie leide an Sichelzellenanämie. Dies sei bereits vorgetragen worden. Sie lege das ärztliche Attest der Kinderärzte vor. Sie sei in ständiger ärztlicher Behandlung. Die Eltern hätten mitgeteilt, dass sie alle 3 Wochen stationär bzw. teilstationärer behandelt werde. Sie übergebe den Entlassungsbericht des Klinikums R. vom 8. Januar 2018 und vom 25. Juni 2020. In den nächsten Monaten solle nach Angaben der Eltern eine größere Operation, d. h. eine Bluttransfusion, bei der Klägerin zu 2 vorgenommen werden, um ihr Leiden zu lindern. Darüber werde ein ärztliches Attest vorgelegt werden. Als Anlage wurde ein ärztliches Attest der Kinderärzte der Klägerin zu 2 ohne Datum mit „Karteikarte“, erstellt am 8. April 2019, vorgelegt. Das Attest enthält Ausführungen zur Sichelzellanämie der Klägerin zu 2. Ein Entlassbrief des Klinikums R. vom 8. Januar 2018 wurde in nicht lesbarer Kopie vorgelegt. Als weitere Anlage wurde ein Arztbrief des Klinikums R. vom 25. Juni 2020 vorgelegt über eine stationäre Behandlung der Klägerin zu 2 vom 24. Juni 2020 bis 27. Juni 2020 mit der Diagnose Sichelzellanämie, aktuell: erneute Schmerzkrise mit Schmerzen der Hände und Handgelenke bds., der Füße und Sprunggelenke bds. sowie beider Beine.
38
Mit Schriftsatz vom 17. August 2020 legte die Bevollmächtigte der Klägerinnen ein ärztliches Attest für die Klägerin zu 2 der Haunerschen Kinderklinik sowie Arztbrief vom 1. August 2018 vor.
Anlagen:
39
- ärztliches Attest der LMU Klinikum der Universität M. Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von H. Kinderspital vom 12. August 2020; danach befinde sich die Klägerin zu 2 in regelmäßiger medizinischer Behandlung. Sie habe eine homozygote Sichelzellerkrankung, eine zum Teil lebensbedrohliche Erkrankung, die unter bestimmten Bedingungen einer hochspezialisierten Notfalltherapie bedürfe. Diese Therapie könne hier jederzeit geleistet werden. Bei Aufenthalt in einem anderen Land sei die Gesundheit der Klägerin zu 2 möglicherweise gefährdet. Man empfehle daher dringend eine weitere medizinische Betreuung in ihrem spezialisierten Zentrum für Kinderhämatologie.
40
- Arztbrief vom 1. August 2018 der oben genannten Klinik zur Diagnose Sichelzellkrankheit.
41
Am 19. August 2020 wurde im Verfahren der Klägerinnen und im Verfahren des Klägers erstmals mündlich verhandelt.
42
Zur Klägerin zu 2 wurde vorgetragen, dass bei dieser in 2 Monaten eine Operation vorgenommen werden solle. Es handele sich dabei wohl um einen Blutaustausch. Nächsten Monat würden die Eltern untersucht, ob sie als Spender geeignet seien. Je nachdem benötige man einen anderen Spender. Nach dem Termin für die Eltern werde bestimmt, wann der Termin für die Operation des Kindes sei. Der Termin der Eltern für deren Bluttest sei am 22. September 2020. Hintergrund sei, dass wegen der Sichelzellenanämie der Klägerin zu 2 eine Operation zum Blutaustausch mit anschließendem 3-monatigen Klinikaufenthalt medizinisch notwendig sei. Der Krankheitsverlauf sei im Falle der Klägerin zu 2 tödlich und die Behandlung im Kindesalter sei durch einen Blutaustausch notwendig.
43
Der Kläger erklärte, er habe seit einem Jahr eine Arbeitserlaubnis; bisher habe er nicht gearbeitet. Er suche Arbeit und habe sich bei einigen Firmen beworben. Aktuell sei es schwierig wegen Corona. In N. sei er Stuckateur gewesen.
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Die Klägerin zu 1 erklärte, sie habe eine Arbeitserlaubnis. Sie habe früher neben einem Hotel gewohnt und dort 3 Stunden am Tag gearbeitet. Jetzt müsse sie sich krankheitsbedingt um ihre Tochter kümmern, die sehr häufig stationär im Krankenhaus sei.
45
Die Bevollmächtigte der Kläger erklärte, sie werde bis spätestens 19. November 2020 eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung über die Operation zum Blutaustausch der Klägerin zu 2 und deren Notwendigkeit vorlegen.
46
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung verwiesen.
47
Mit Schriftsatz vom 31. August 2020 legte die Bevollmächtigte der Klägerinnen ein ärztliches Attest der LMU vom 20. August 2020 vor betreffend die Klägerin zu 2 vor. Für die Klägerin zu 2 sei aufgrund der Schwere der Symptome die Indikation für eine HSZT (Allogene Stammzelltransplantation) gestellt worden, die inzwischen als „Standard of Care“ gelte. Derzeit sei man auf der Suche nach einem geeigneten Spender. Aus diesem Grund werde im Rahmen der kommenden Verlaufskontrollen zunächst eine HLA-Testung der Eltern erfolgen. Aus ärztlicher Sicht werde die Einleitung einer Spendersuche mit dem Ziel einer kurativen Stammzelltransplantation unterstützt und empfohlen.
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Mit Schriftsatz vom 12. November 2020 teilte die Bevollmächtigte der Klägerinnen mit, dass die Testreihung für die Eltern bzw. die Klägerin zu 2 nun abgeschlossen sei. Ein qualifiziertes ärztliches Attest könne bis zum 30. November 2020 vorgelegt werden.
49
Mit Schriftsatz vom 26. November 2020 teilte die Bevollmächtigte der Klägerinnen mit, am 15. Januar 2021 würden die Eltern wieder bei der Klinik sein, um das Testergebnis der Operation zu besprechen. Beigegeben war ein Arztbrief der LMU vom 17. November 2020, in dem unter anderem ausgeführt wurde, dass aufgrund der rezidivierenden Schmerzkrisen und zur Vermeidung schwerer langfristiger Komplikationen mit möglicher Organfunktionsstörung mit den Eltern ausführlich über die Möglichkeit einer HSZT (allogene Stammzelltransplantation) gesprochen worden sei. Eine HLA-Typisierung habe ergeben, dass die Eltern der Klägerin zu 2 HLAhaploident seien. Ein Geschwister gebe es nicht. Im nächsten Schritt plane man unter Einverständnis der Eltern eine Spendersuche für die Klägerin zu 2 zu initiieren. Bis dahin erfolge die weitere regelmäßige Vorstellung über die Tagesklinik. Untere Empfehlungen wurde unter anderem ausgeführt: „möglichst vermeiden einer Tropenreise, in jedem Fall aber zuvor tropenmedizinische Beratung und Malariaprophylaxe bei Reisen in Endemiegebiete“.
50
Am 14. Juli 2021 wurde für die 2021 geborene Klägerin beim Bundesamt ein Asylantrag gestellt.
51
Mit Bescheid vom 12. November 2021 erkannte das Bundesamt der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nummer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nummer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nummer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nummer 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen, andernfalls sie nach N. abgeschoben werde (Nummer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nummer 6).
52
Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Ausführungen im Bescheid bzw. im Tatbestand des Urteils vom 14. Juli 2022 im Verfahren der Klägerin verwiesen.
53
Mit Schriftsatz vom 17. Februar 2022 legte die Bevollmächtigte der Klägerinnen einen Arztbrief des Kinderkrebszentrums M. für die Klägerin zu 2 vor. Aufgrund der Tatsache, dass kein geeigneter Spender für die Klägerin zu 2 gefunden worden sei, sei den Eltern eine haploidente Stammzelltransplantation angeboten worden. Weitere Einzelheiten könnten erst im März 2022 genannt werden. Als Anlage war ein Dokument des Kinderkrebszentrums des LMU Klinikums mit dem Vermerk „Vorstellung am 03.02.2022“ beigegeben. Es enthielt folgenden „Tumorboardbeschluss: Aufgrund der vielen Schmerzkrisen kann den Eltern eine haploidente Stammzelltransplantation angeboten werden, auch wenn sie immer noch experimentell gilt.“
54
Mit Schriftsatz vom 31. Mai 2022 legte die Bevollmächtigte der Klägerinnen eine ärztliche Bescheinigung der Kinderklinik vom 30. Mai 2022 vor. Der Kläger habe mitgeteilt, dass für Juni 2022 eine Operation vorgesehen sei. Als Anlage war eine ärztliche Bescheinigung des Kinderkrebszentrums des L. Klinikums vom 30. Mai 2022 beigegeben, nach der aufgrund vermehrter wiederkehrender Schmerzkrisen und damit einhergehend der stationären Aufenthalte in den letzten Jahren eine allogene Stammzelltransplantation (SZT) im Juni 2022 aus medizinischen Gründen unbedingt erforderlich sei. Diese werde in einer Einheit erfolgen, in der die Patientin von anderen Patientinnen isoliert behandelt werde. Die Anwesenheit und Begleitung durch die Eltern sei in dieser intensiven Zeit aus medizinischer und psychischer Sicht unbedingt notwendig und trage maßgeblich zum Therapieerfolg bei. Im Anschluss der stationären Therapie (nach ca. 6-8 Wochen) müsse die Patientin zu regelmäßigen Kontrollterminen in Begleitung der Eltern in der Ambulanz vorstellig werden und Untersuchungen wahrnehmen. Nach der SZT bestehe höchste Infektionsgefahr aufgrund von Immunsuppression. Dies erfordere im Alltag strenge hygienische Maßnahmen für die Familie. Im Anschluss der Akutbehandlung, die neben der SZT auch die ambulanten Behandlungstermine beinhalte, erfolge der Übergang in die Nachsorge (mindestens 5-10 Jahre). Diese weiterführende Behandlung sei für die Beobachtung der Patienten äußerst wichtig, da es beispielsweise im Falle einer Abstoßungsreaktion eines schnellen medizinischen Eingreifens bedürfe. Eine SZT und auch eine notwendige Anschlussbehandlung und Nachsorge seien im Heimatland nicht durchführbar, da dort keine spezialisierten Kliniken existierten. Bei Abschiebung ins Heimatland würde die Gesundheit der Patienten aufgrund fehlender medizinischer Versorgung nicht gewährleistet sein.
55
Mit Schriftsatz vom 20. Juni 2022 legte die Bevollmächtigte der Klägerinnen eine ärztliche Bescheinigung vom 8. Juni 2022 vor. Eine Operation solle Anfang Juli 2022 stattfinden. Für 8 Wochen könne die Klägerin zu 2 keinen Gerichtstermin wahrnehmen. Als Anlage war eine ärztliche Bescheinigung des Kinderkrebszentrums des LMU K. vom 8. Juni 2022 beigegeben, in der bestätigt wurde, dass die Klägerin zu 2 aufgrund eines Katheters und der bevorstehenden Stammzelltransplantation nicht reisefähig sei. Auch im Anschluss der SZT bedürfe es einer kontrollierten Nachsorge-Behandlung in der KMT-Ambulanz von mindestens 6 Monaten. Bei einer aktuell vorliegenden Schmerzkrise müsse der Klägerin zu 2 ein stationärer Aufenthalt gewährleistet werden.
56
Mit Schriftsatz vom 20. Juni 2022 legte die Bevollmächtigte des Klägers ebenfalls die ärztliche Bescheinigung vom 8. Juni 2022 vor. Die Tochter des Klägers werde Anfang Juli 2022 operiert. Der Kläger sei daran beteiligt und könne für 8 Wochen keinerlei Termine wahrnehmen. Zu der Verhandlung am 14. Juli 2022 könne er nicht kommen.
57
Am … Juli 2022 wurde zu den Verfahren M 13 K 17. …, M 13 K 17. … und M 13 K 21. … gemeinsam mündlich verhandelt.
58
Die Klägerin zu 1 - die zusammen mit der Klägerin und ihrer gemeinsamen Bevollmächtigten erschien - trug vor, dass sie mit ihrem Mann und den beiden Töchtern zusammenlebe. Sie sei aktuell im 8. Monat schwanger, es werde ein Junge werden. Sie arbeite derzeit wegen der Betreuung der Kinder nicht. Sobald wie möglich wolle sie einen Sprachkurs machen, das werde aber wegen des dritten Kindes noch eine Zeitlang dauern. Der Kläger arbeite derzeit nicht. Wenn die Behandlungen wegen der Stammzellentransplantation für die Klägerin zu 2 abgeschlossen seien, wolle er zur Schule in den Sprachkurs gehen und dann arbeiten. Die Klägerin zu 2 werde aus medizinischen Gründen im September 2022 noch nicht eingeschult werden. Die Klägerin zu 1 ergänzte, dass die Operation am 27. Juni 2022 gewesen sei. Am 22. Juni 2022 seien die Klägerin zu 2 und der Kläger ins Krankenhaus gegangen. Beide würden voraussichtlich 6 bis 8 Wochen stationär bleiben. Die Klägerin zu 2 habe auch nach der Operation noch mehrere Schmerzkrisen gehabt und esse derzeit nichts. Die Operation selbst sei gut verlaufen, ob der gewünschte Effekt eintrete, sei nach Angaben der Ärzte noch nicht sicher. Abschließend erklärte die Klägerin zu 1, dass die Klägerin zu 2 nun seit Jahren sehr leide.
59
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachund Streitstand wird ergänzend auf die Gerichtsakten in den Verfahren M 13 K 17. …, M 13 K 17. … und M 13 K 21. …, die vom Bundesamt vorgelegten Behördenakten und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung verwiesen.

Entscheidungsgründe

60
Die Klage ist zulässig, aber nur teilweise begründet.
61
Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Asylgesetz (AsylG) oder des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Insoweit war die Klage abzuweisen.
62
Zur Begründung wird zunächst hinsichtlich der vor Erlass des hier streitgegenständlichen Bescheids geltend gemachten Fluchtgründe auf die zutreffenden Ausführungen im hier streitgegenständlichen Bescheid verwiesen, denen der erkennende Einzelrichter folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG).
63
Hinsichtlich der nachträglich geltend gemachten Gefahr der Beschneidung der Klägerin zu 2, ausgehend von der Familie des Klägers, wird zur Begründung ergänzend auf die zutreffenden Ausführungen im Bescheid des Bundesamts vom 12. November 2021 betreffend die Klägerin verwiesen, denen der erkennende Einzelrichter hier ebenso folgt wie im Urteil vom 14. Juli 2022 betreffend die Klägerin (M 13 K 21. …). Diese gelten hier für die Klägerin zu 2 entsprechend, fußen zudem auf einem neueren Erkenntnisstand als es der hier streitgegenständliche Bescheid hätte tun können, wäre die Gefahr der Beschneidung für die Klägerin zu 2 bereits vor Erlass des hier streitgegenständlichen Bescheids geltend gemacht worden.
64
Die Klägerinnen haben jedoch - durch Umstände, die nach Erlass des hier streitgegenständlichen Bescheids aufgetreten sind (§ 77 Abs. 1 AsylG) - einen Anspruch darauf, dass die Beklagte für sie ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG feststellt.
65
Ein Ausländer darf nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, wenn sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Für die Annahme einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art. 3 EMRK) müssen die im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen. Allgemein schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die nicht auf eine Handlung oder Unterlassung von Verfolgungsakteuren (vgl. § 3c AsylG) zurückzuführen sind, können nur in besonderen Ausnahmefällen zur Feststellung eines Abschiebungsverbots führen Denn Art. 3 EMRK enthält keine Verpflichtung der Vertragsstaaten, nicht bleibeberechtigte Ausländer in ihrem Hoheitsgebiet dauerhaft mit einer Wohnung oder finanzieller Unterstützung zu versorgen, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25/18 - NVwZ 2019, 61 Rn. 20). Nach der neueren Rechtsprechung kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht sein, wenn sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not wiederfände, die es ihr nicht erlauben würde, selbst die elementarsten menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen, namentlich sich zu ernähren, zu waschen und ein Obdach zu finden, und ihre Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen mit der Menschenwürde unvereinbaren Zustand der Verelendung versetzen würde (vgl. Zimmerer in BeckOK MigR, Stand 1.1.2021, § 60 AufenthG Rn. 23). Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25/18 - juris LS 1 und Rn. 9, 11).
66
Nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 21.4.2022, 1 C 10.21, Pressemitteilung Nr. 25/2022 vom 21.4.2022) ist Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist.
67
Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht.
68
Im vorliegenden Fall geht der Einzelrichter davon aus, dass bereits jetzt absehbar ist, dass den Klägerinnen (die Klägerin zu 1 ist aktuell im 8. Monat schwanger) und ihrem Familienverband mit dem Kläger und der Klägerin, der weiteren 2021 geborenen Tochter, bei einer Ausreise nach N. mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem engen zeitlichen Zusammenhang nach dem Verbrauch von Rückkehrhilfen eine Verelendung drohen würde.
69
Denn es ist nicht nur zu berücksichtigen, ob die Klägerin zu 1 und der Kläger voraussichtlich in der Lage sein würden, zusammen - ggf. unter wechselseitiger Betreuung der Kinder - das ganz normale alltägliche Existenzminimum für die bald insgesamt fünfköpfige Familie - also ohne Berücksichtigung von Behandlungskosten für die Klägerin zu 2 - zu erwirtschaften. Dabei ist zu beachten, dass eine Unterstützung durch die Familie des Klägers nicht zur Verfügung stehen würde, weil das Bundesamt die Klägerin zu 1 und den Kläger wegen einer durch diese Familie des Klägers drohenden Beschneidungsgefahr hinsichtlich der Klägerin (und damit realiter auch hinsichtlich der Klägerin zu 2) auf die Inanspruchnahme internen Schutzes verwiesen hat. Die Mutter der Klägerin hat auch keinen unterstützungsfähigen Familienverband (mehr).
70
Es ist auch nicht nur zu berücksichtigen, ob die homozygote Sichelzellerkrankung der Klägerin zu 2 irgendwo in N. grundsätzlich adäquat behandelbar ist und ob die - zusätzlichen - Kosten hierfür ggf. unter Verwendung von Rückkehrhilfen für eine gewisse Zeit finanziert werden könnten, so dass der Klägerin zu 2 zumindest alsbald nach einer Ankunft in N. keine lebensbedrohliche Gesundheitsgefahr drohen würde.
71
Vielmehr ist in einer Gesamtbetrachtung mit zu berücksichtigen, dass sich die Eltern der Klägerin zu 2 mit ihren (demnächst drei) Kindern dauerhaft in unmittelbarer Nähe einer Fachklinik mit Erfahrung in der Betreuung von Kindern mit Sichelzellerkrankung und einer Notfallaufnahme sowie Kinderintensivstation niederlassen müssten, um im Falle einer jederzeit unerwartet möglichen medizinischen Krise mit der Klägerin zu 2 innerhalb kürzester Zeit in einer solchen Klinik sein zu können (vgl. ärztliches Attest der LMU Klinikum der Universität M. Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von H. Kinderspital vom 12.8.2020). Auch wenn die erfolgte Stammzellentransplantation zu dem gewünschten Erfolg einer Verbesserung des Gesundheitszustandes der Klägerin zu 2 führen würde (was derzeit nach Auskunft der Ärzte noch nicht prognostizierbar ist), wären sie für die Zeit der notwendigen Nachsorge (mindestens 5-10 Jahre) noch auf eine solche kliniknahe Wohnsitznahme angewiesen, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Abstoßungsreaktion bei der Klägerin zu 2, die eines schnellen medizinischen Eingreifens bedürfen würde.
72
Es ist zur Überzeugung des Einzelrichters nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Klägerin zu 1 und dem Kläger dies - insbesondere mangels finanzieller Unterstützung durch die Familie des Klägers (s.o.) -gelingen könnte. Vielmehr geht der Einzelrichter davon aus, dass nach dem Verbrauch von Rückkehrhilfen unter Aufbietung aller Kräfte auf Dauer vielleicht die Finanzierung der Krankheitskosten der Klägerin zu 2 gerade so möglich wäre, deswegen aber der Familie als Ganzes Verelendung drohen würde. Denn solche Gegebenheiten würden die Eltern der Klägerin zu 2 und der Klägerin (und demnächst noch eines Sohnes) nur in einer der großen Städte N.s vorfinden können, mit einerseits gegenüber auf dem Land absehbar viel höheren Lebenshaltungskosten, insbesondere auch zu erwartenden höheren Mietkosten, und andererseits einem angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation in N. hart umkämpften Arbeitsmarkt bei hoher Arbeitslosigkeit. Nach dem zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 22. Februar 2022 gibt es darüber hinaus zwar „eine allgemeine Kranken- und Rentenversicherung, die allerdings nur für Beschäftigte im formellen Sektor gilt.“ (Seite 21).
73
Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei den Klägerinnen ebenfalls erfüllt sind (Klägerin zu 1: allergisches Asthma; Klägerin zu 2: Sichelzellerkrankung), bedarf keiner Prüfung mehr, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG um einen einheitlichen Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - NVwZ 2012, 240 Rn. 16).
74
Mit der Aufhebung von Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids und der Verpflichtung der Beklagten, das Vorliegen der diesbezüglichen Abschiebeverbotsvoraussetzungen festzustellen, wird die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 gegenstandslos, ebenso die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nr. 6.
75
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Nach § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.
76
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.