Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 20.05.2022 – AN 17 K 20.02556
Titel:

Erfolgreiche Nachbarklage gegen Baugenehmigung wegen fehlender Abstandsfläche

Normenkette:
BayBauO Art. 6, Art. 59 S. 1 Nr. 1b
Leitsätze:
1. Die Abstandsflächenregelung in der Landesbauordnung findet nicht nur im Rahmen eines Bebauungsplans, sondern ebenso im nicht überplanten Innenbereich Anwendung, wobei der tatsächlich vorhandenen Bauweise grundsätzlich Vorrang vor dem Abstandsflächenrecht zukommt. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Nachbar kann sich nach Treu und Glauben gegenüber einer Baugenehmigung in der Regel nicht erfolgreich auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen, wenn auch die Bebauung auf seinem Grundstück den Anforderungen dieser Vorschrift nicht entspricht und wenn die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu - gemessen am Schutzzweck der Norm - schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage gegen Baugenehmigung eines grenzständig stehenden Mehrfamilienhauses (stattgegeben), Nichteinhaltung der Abstandsflächen, kein Vorrang des Planungsrechts (Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO), keine Berufung auf § 242 BGB entsprechend, Baurecht, Bauordnungsrecht, Nachbarklage, Abstandsflächenregelung, drittschützend, grenzständige Bauweise, Innenbereich
Fundstelle:
BeckRS 2022, 18259

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 27. Oktober 2020 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit sechs Wohnungen und integrierten Garagen.
2
Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks mit der Flurnummer (FlNr.) … der Gemarkung … mit der Anschrift …, … Das Grundstück ist im Süden und Osten grenzständig mit einem dreigeschossigen Wohngebäude mit den Abmessungen von circa 12,5 m x 9,5 m bei 12,20 m Höhe bebaut. Unmittelbar südlich an dieses schließt sich das Vorhabengrundstück der Beigeladenen - der … GmbH - mit der FlNr. … an (* …*), welches derzeit mit einem direkt an das klägerische Gebäude angrenzenden einstöckigen, durch eine …kirche genutzten Gebäude bebaut ist (Baugenehmigungen vom 26. März 1969 als „Tanzunterrichtsraum“ und vom 21. Mai 1970 als „Erweiterung des Tanzunterrichtsraumes“). In der südlichen Außenwand des Wohnhauses des Klägers sind laut einer Baugenehmigung aus dem Jahre 1903 im Parterre zwei Fensteröffnungen und ein Eingang, im 1. Stock und in der Dachwohnung je drei Fensteröffnungen, davon je eine von einem Aufenthaltsraum aus, vorhanden. Die übrigen Fensteröffnungen befinden sich im Treppenhaus. Ein Bebauungsplan existiert für das Gebiet nicht.
3
Das Vorhabengrundstück und das Grundstück des Klägers waren vormals unter einer Flurnummer vereint, die jedoch mit Genehmigungsbescheid der Stadt … vom 25. Juni 1970 geteilt wurde (nach § 19 Bundesbaugesetz vom 23. Juni 1960).
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Die Beigeladene beabsichtigt, auf dem Vorhabengrundstück unter Abriss des bestehenden einstöckigen Gebäudes ein Mehrfamilienhaus zu errichten. Hierzu reichte sie nach mehrmaligen Anpassungen zuvor eingereichter Bauanträge bei der Beklagten am 5. März 2020 einen Bauantrag vom 3. März 2020 zum „Neubau eines Mehrfamilienhaues mit sechs Wohneinheiten und neun Stellplätzen“ ein. Im Bauantragsformular ist angekreuzt, dass das Bauvorhaben einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO bedarf. Im Laufe des Genehmigungsverfahrens übersandte das von den Beigeladenen beauftragte Architekturbüro (* …*) einen weiteren Antrag auf Abweichung von der BayBO. Es sei im Vorfeld Rücksprache zwischen dem Bauherren und der Stadt … erfolgt. Die Stadt empfehle aus stadtplanerischer Sicht, an das Nachbargebäude mit der Hausnummer * profilgleich anzubauen und die Traufhöhe mit aufzunehmen. Durch die volle Einzeichnung der Abstandsflächen an der südlichen Seite könnten diese nicht komplett auf dem eigenen Grundstück eingehalten werden (Verweis auf FlNr. …*). In einem weiteren, älteren Abweichungsantrag vom 8. Oktober 2019, allerdings ohne Eingangsstempel der Beklagten, wurde noch eine Abweichung hinsichtlich der westlichen und nördlichen Seite beantragt. Gemäß den eingereichten Planzeichnungen handelt es sich bei dem Vorhabengebäude um ein dreigeschossiges, 17,99 m langes, an der Nordseite 9,85 m, an der Südseite 12,35 m breites sowie an der Grenze zum Kläger 12,47 m hohes (Firsthöhe) Wohngebäude, das traufseitig Richtung … straße steht. Die nördliche Außenwand schließt unmittelbar an die südliche Außenwand des klägerischen Wohnhauses auf der FlNr. … an, wobei dessen Traufhöhe mit 8 m eingezeichnet ist. An der Nordgrenze zum Kläger hin ist schließlich eine geringfügige Geländeabsenkung geplant.
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Ausschnitte aus den Planzeichnungen:
Quelle: Bauakte …, Az. … mit Bauantragsmappe der Stadt …
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OSTANSICHT, Quelle Bauakte …, Az. … mit Bauantragsmappe der Stadt … Mit Bescheid vom 27. Oktober 2020 genehmigte die Stadt … der Beigeladenen die Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit sechs Wohnungen und integrierten Garagen unter Einhaltung der Auflagen in Ziffer I. Nr. 1-19. Unter Ziffer II wurde eine Abweichung von Art. 6 Abs. 1 und 2 BayBO hinsichtlich der Nichteinhaltung der Abstandsflächen nach Süden zum Grundstück 1215/6 hin gewährt. Weiter wurde in Ziffer III eine Abweichung von Art. 6 Abs. 1 und 2 BayBO hinsichtlich der Nichteinhaltung der Abstandsflächen nach Westen zum Grundstück FlNr. … genehmigt.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass ein direkter Anbau an das bestehende Gebäude im Norden erfolge. Das Gebäude … (Gebäude des Klägers) und das eingeschossige Nachbargebäude hätten ursprünglich auf einem Grundstück gelegen, das im Jahr 1970 geteilt worden sei. Hierdurch sei die vorhandene beidseitige Grenzbebauung entstanden. Das eingeschossige Gebäude solle beseitigt werden. Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO sei eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden müsse oder dürfe. Das Baugrundstück liege im nicht beplanten Innenbereich nach § 34 BauGB. Hier sei die planungsrechtliche Rechtfertigung der Grenzbebauung auch dann gegeben, wenn die tatsächlich vorhandene Bebauung aus Gebäuden mit und ohne Grenzabstand regellos erscheine, was hier der Fall sei. Aus der Eigenart der näheren Umgebung erschließe sich, dass der beantragte Neubau an die Grundstücksgrenze gebaut werden dürfe, weswegen eine Abweichungserteilung nicht erforderlich sei. Diese Erwägung gelte auch für die Errichtung des Vorhabengebäudes direkt auf der Grenze zur öffentlichen Fläche im Osten. Hinsichtlich der Nichteinhaltung der Abstandsflächen nach Süden zum Grundstück FlNr. … hin seien die Voraussetzungen zur Gewährung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO erfüllt. Was die Nichteinhaltung der Abstandsflächen nach Westen zum Grundstück FlNr. … anbelange, seien die Voraussetzungen zur Gewährung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO ebenfalls gegeben.
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Hinsichtlich des Wegfalls von Fenstern in der südlichen Grenzwand des Gebäudes … werde darauf verwiesen, dass dieses und das abzubrechende eingeschossige Gebäude sich ursprünglich auf einem Grundstück befunden hätten, das im Jahre 1970 geteilt worden sei. Die bestehende Grenzwand des Gebäudes … sei damals nicht als Brandwand ausgebildet worden, was aber nicht in der Verantwortung der Beigeladenen liege. Nach geltender Rechtsprechung müsse bei einem Grenzanbau der Verlust von Fenstern hingenommen werden. Nach den vorliegenden Unterlagen seien von dem Wegfall der Fenster jeweils ein Aufenthaltsraum im Ober- und im Dachgeschoss betroffen. Deren Belichtung wäre voraussichtlich nicht mehr ausreichend gemäß Art. 45 Abs. 2 BayBO, könnte jedoch durch Erweiterung der vorhandenen Fensterfläche in der Ostwand wiederhergestellt werden. Das Interesse des Bauherrn, an die Grenze in gleicher Weise anzubauen wie der betroffene Nachbar, überwiege bei dieser Sachlage das Interesse des Nachbarn am Fortbestand der Fenster in der Grenzwand.
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Weiter handele es sich bei dem Gebäude … um eines mindestens der Gebäudeklasse 3. Das Treppenhaus sei deshalb notwendiger Treppenraum gemäß Art. 33 BayBO. Das Treppenhaus verfüge derzeit über zwei Fenster im Ober- bzw. Dachgeschoss in der Südwand sowie über zwei Fenster und eine Tür an den Treppenabsätzen. Durch den Anbau des beantragten Gebäudes entfalle das unmittelbar ins Freie führende Fenster im Dachgeschoss. Aus brandschutzrechtlichen Gründen sei deshalb gemäß Art. 33 Abs. 8 Satz 2 Nr. 2 BayBO eine Öffnung zur Rauchableitung an der obersten Stelle erforderlich. Der Aufwand zu deren Herstellung werde als zumutbar erachtet.
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Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten am 26. November 2020 Klage zum Verwaltungsgericht Ansbach. Zur Begründung führt er aus, dass sich das Vorhaben nicht in die nähere Umgebung nach § 34 Abs. 1 BauGB einfüge. Insbesondere werde die vorliegend anzutreffende offene Bauweise mit Einzelhäusern in der näheren Umgebung durch den Anbau des gegenständlichen Mehrfamilienhauses an das klägerische Wohnhaus nicht eingehalten, da die seitlichen Abstandsflächen nicht eingehalten würden. Und selbst falls im Rahmen einer offenen Bauweise auch eine Doppelhausbebauung zulässig wäre, so sei das geplante Vorhaben nicht als Doppelhaushälfte zum bereits bestehenden Einzelhaus des Klägers zu sehen, sondern als gänzlich anderer Haustyp mit unterschiedlichen Gebäudeabmessungen und Höhenentwicklungen. Für die Annahme eines Doppelhauses müsse an den inneren Grenzen qualitativ und quantitativ in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise so aneinandergebaut werden, dass das gebildete Gesamtgebäude als bauliche Einheit erscheine. Weiter würden die Abstandsflächen nicht eingehalten, da die Anwendung des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ausgeschlossen sei. Doch nicht nur die Abstandsflächen nach Norden, sondern auch die nach Westen würden zum klägerischen Grundstück nicht eingehalten. Die hierfür gewährte Abweichung durch die Beklagte sei rechtswidrig, da es an der nötigen Atypik mangele. Das Baugrundstück weise gerade keine atypische Form auf und könnte auch mit einem freistehenden Haus problemlos bebaut werden. Die weitere Begründung der Beklagten, dass durch den Neubau die städtebauliche Situation im Vergleich zum Bestandsgebäude verbessert würde, trage nicht, da städtebauliche Wunschvorstellungen keinen Grund darstellten, eine Abweichung von den Abstandsflächen zu erteilen. Offenbar sei der Beklagten daran gelegen gewesen, den Anbau zu ermöglichen, den sie selbst vorgeschlagen habe. Anders als die Beklagte meine, sei dem Kläger die Berufung auf die Einhaltung der Abstandsflächen auch nicht entsprechend § 242 BGB verwehrt, weil, selbst wenn man von einer faktischen Nichteinhaltung der Abstandsflächen auch durch den Kläger ausginge, die wechselseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sein müssten. Dies sei hier aber gerade nicht der Fall, da im Falle der Realisierung des Bauvorhabens alle Fenster in der südlichen Gebäudefront des Klägers geschlossen werden müssten sowie der Brandschutz nicht mehr gewährleistet sei. Auch im Übrigen sei das Bauvorhaben rücksichtslos. Auf der einen Seite könne ein Nachbar zwar nicht verlangen, dass der Bauherr einen die Belichtung und Belüftung gewährleistenden Grenzabstand einhalte, wenn er selbst sein Grundstück zum Äußersten ausgenutzt habe. Jedoch fehle es hieran, da die Grenzbebauung erst nachträglich durch eine Grundstücksteilung entstanden sei. Außerdem sei dem Bauherren auch bei Einhaltung der Abstandsflächen noch eine Nutzung des eigenen Grundstückes möglich. Weiter sei von Bedeutung, ob die Fensteröffnungen mit Einverständnis des jeweiligen Nachbarn errichtet worden seien. Das Baugrundstück sei vor 1970 Teil des klägerischen Grundstücks gewesen und dessen Wohngebäude davor errichtet worden. Daher sei von einem Einverständnis mit dem Bau der Fenster ohne Brandwand seitens des Vorbesitzers des Grundstücks auszugehen. Schließlich handele es sich auch um notwendige Fenster, die Bestandsschutz genössen. Auch sei die notwendige Entrauchung durch den Anbau nicht mehr gesichert, sodass weitere Fenster und Entrauchungsanlagen mit erheblichem Kostenaufwand eingebaut werden müssten. Hinsichtlich des Teilungsbescheides aus dem Jahre 1970 habe die Beklagte weiter vergessen, Auflagen zur Übernahme der Abstandsflächen des klägerischen Wohnhauses ebenso wie zum notwendigen Brandschutz aufzunehmen, womit dieser Bescheid rechtswidrig sei. Nunmehr stütze sich die Beklagte aber gerade auf diesen rechtswidrigen Bescheid. Dazu trete, dass für den Kläger durch den Anbau teure Umbaumaßnahmen ausgelöst würden und die Nutzung seines Gebäudes erheblich eingeschränkt würde.
11
Der Kläger beantragt,
den Baugenehmigungsbescheid der Beklagten vom 27. Oktober 2020 aufzuheben.
12
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
13
Zur Begründung führt sie aus, dass sich das beantragte Gebäude in Wandhöhe, Tiefe, Dachform und Dachneigung insbesondere an das Gebäude … anpasse und sich auch hinsichtlich des Maßes der Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden solle, in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge. Hierbei werde die Traufhöhe des angrenzenden Gebäudes in der … aufgegriffen und sich hinsichtlich der Tiefe am klägerischen Gebäude orientiert, wobei das Vorhabengebäude an der Grenze leicht zurückspringe. Hinsichtlich der Abstandsflächen nach Norden finde Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO Anwendung, nachdem Abstandsflächen vor Außenwänden nicht erforderlich seien, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden müsse oder dürfe. Im Rahmen der nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO gebotenen Ermessensentscheidung seien die beiderseitigen Interessen des Bauherren und des Nachbarn gegeneinander abzuwägen. Es entspreche ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes, dass mit dem Verlust von Fenstern an einer Grenzwand gerechnet werden müsse, wenn beidseitig in etwa deckungsgleich an die Grenze angebaut werde wie hier. Der Kläger nutze mit seinem Grenzbau sein Grundstück intensiv aus und sorge nicht unter Wahrung gesetzlich vorgeschriebener Grenzabstände selbst für ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung seines Bauwerkes. Aus diesem Grund könne er aus Billigkeitsgründen nicht die Einhaltung von Grenzabständen verlangen. Die Realisierung des Vorhabens rufe auch keine absolut unhaltbaren Zustände im klägerischen Anwesen hervor. Den Umstand der schlechteren Belichtungssituation in mehreren Räumen des Klägers habe die Beklagte zugrunde gelegt und abgewogen, ebenso wie die durch den Grenzanbau erforderliche Brandwand und deren Kosten. Die vorgetragene Reduzierung des Lichteinfalls und die Kosten einer Brandwand begründeten jedoch keinen qualifizierten Missstand und es sei dem Kläger zumutbar, durch eine Vergrößerung der Fenster im Osten die Belichtungssituation im ersten und zweiten Obergeschoss zu verbessern. Im Erdgeschoss ändere sich die Belichtungssituation sowieso nicht. Auch im Übrigen sei das Vorhaben nicht rücksichtslos. Die Voraussetzungen der Gewährung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO hinsichtlich der Nichteinhaltung der Abstandsflächen nach Westen zum Kläger seien gegeben gewesen, da anderenfalls eine städtebaulich sinnvolle Bebauung des Grundstücks verhindert worden wäre. Die Abweichung sei aufgrund des besonderen Zuschnitts des Grundstücks, der sich durch die Teilung im Jahr 1970 ergeben habe, erforderlich gewesen. Belichtung und Belüftung würden durch die Abweichung nicht beeinträchtigt, im Erdgeschoss verbessere sich die Situation sogar, da die Gebäudetiefe verringert und die überbaute Fläche reduziert werde.
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Die Beigeladene äußerte sich nicht.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Behördenakten, hinsichtlich des Verlaufs der mündlichen Verhandlung mit Augenscheinseinnahme am 20. Mai 2022 wird auf das Sitzungsprotokoll sowie die gefertigten Lichtbilder verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig und begründet. Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 27. Oktober 2020 zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit sechs Wohnungen samt integrierter Garagen ist rechtswidrig, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist daher aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
17
1. Das durch den streitgegenständlichen Bescheid genehmigte Vorhaben der Beigeladenen verletzt bereits das im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b BayBO zu prüfende Abstandsflächenrecht gemäß Art. 6 BayBO. Die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenregelungen sind jedenfalls zugunsten des unmittelbar angrenzenden Eigentümers des Nachbargrundstücks drittschützend, ohne dass es dabei auf eine einzelfallbezogene Unzumutbarkeit bzw. auf eine tatsächliche oder spürbare Betroffenheit des Nachbarn ankommt (statt vieler: BayVGH, U.v. 31.7.2020 - 15 B 19.832 - juris Rn. 22).
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Die gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 4, Abs. 5 Satz 1 BayBO grundsätzlich erforderlichen Abstandsflächen kann das Vorhabengebäude der Beigeladenen nicht einhalten, da es nach Norden, zum klägerischen Grundstück hin, grenzständig errichtet werden soll. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO, der eine grenzständige Errichtung ohne die Einhaltung von Abstandsflächen ausnahmsweise gestatten würde, sind nicht erfüllt. Auch ist es dem Kläger nicht entsprechend § 242 BGB verwehrt, sich auf die Einhaltung der Abstandsflächen gegenüber der Beklagten bzw. Beigeladenen zu berufen.
19
a) Anders als die Beklagte meint, kann sie sich zu Gunsten eines grenzständigen Anbaus nicht auf die Vorschrift des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO berufen. Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ist eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf. Die Norm des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO findet nicht nur im Rahmen eines Bebauungsplans, sondern ebenso im nicht überplanten Innenbereich Anwendung, auch der tatsächlich vorhandenen Bauweise kommt grundsätzlich Vorrang vor dem Abstandsflächenrecht zu (vgl. schon BayVGH, U.v. 19.11.1976 - 106 I 73 - BeckRS 1976, 105754; BayVGH, U.v. 25.11.2013 - 9 B 09.952 - juris Rn. 46 ff.; Hahn/Kraus in Busse/Kraus, BayBO, 144. EL September 2021, Art. 6 Rn. 47). Der tatsächlichen Bebauung muss dabei kein städtebauliches Ordnungssystem zu Grunde liegen, die Rechtfertigung der Grenzbebauung kann sich auch aus einer regellosen Bauweise ergeben (nunmehr BayVGH, U.v. 25.11.2013 - 9 B 09.952 - juris Rn. 47 f. m.w.N.; Schönfeld in Spannowsky/Manssen, BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, 22. Ed. 1.5.2022, Art. 6 Rn. 61).
20
In der näheren Umgebung des Vorhabengrundstücks ist anhand des Auszugs aus dem Liegenschaftskataster und dem vor Ort gewonnen optischen Eindruck gerade umgekehrt ein städtebauliches Ordnungssystem in Richtung einer offenen Bauweise (§ 22 Abs. 2 BauNVO) erkennbar, jedenfalls aber keine regellose Bebauung. Eine seitliche Grenzbebauung findet sich lediglich entlang der gemeinsamen Grenze der FlNrn. … und … (auf der gegenüber liegenden Seite der … straße Richtung Norden - … und *), wobei es sich hierbei um ein Doppelhaus handeln dürfte, welches bei entsprechendem seitlichen Grenzabstand auch im Rahmen der offenen Bauweise errichtet werden dürfte, § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO und insofern nicht als Indiz für eine regellose Bebauung taugt. Gleiches gilt für die FlNrn. … und … (* … und, nördlich des streitgegenständlichen Bereichs). So bliebe lediglich die seitlich grenzständige Bebauung auf dem klägerischen Grundstück und dem Grundstück der Beigeladenen selbst an der Süd- bzw. Nordgrenze. Jedoch ist hier zum einen zu berücksichtigen, dass ursprünglich nicht wechselseitig grenzständig gebaut worden ist, sondern die grenzständige Bebauung erst durch die Grundstücksteilung im Jahre 1970 entstanden ist. Im Übrigen würde es sich um einen Ausreißer handeln, der keine regellose Bebauung im oben genannten Sinne tragen könnte.
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Bei dem klägerischen Bestandswohngebäude und dem geplanten Vorhabengebäude würde es sich auch nicht um ein Doppelhaus im Sinne des § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO handeln, welches auch bei vorherrschender offener Bauweise mit entsprechenden seitlichen Grenzabständen zulässig wäre (auf die Vorschrift des § 22 BauNVO kann auch im unbeplanten Innenbereich Bezug genommen werden, Hornmann in Spannowsky/Hornmann/Kämper, BeckOK BauNVO, 29. Ed. 15.4.2022, § 22 Rn. 38). Ein Doppelhaus im Sinne des § 22 Abs. 2 BauNVO ist eine bauliche Anlage, die dadurch entsteht, dass zwei selbstständig benutzbare Gebäude an der gemeinsamen Grundstücksgrenze derart zusammengebaut werden, dass sie einen Gesamtbaukörper bilden und als bauliche Einheit erscheinen. Die Eigenschaft als Doppelhaus lässt sich weder abstrakt-generell noch mathematisch-prozentual festlegen, sondern muss im Einzelfall unter Betrachtung quantitativer und qualitativer Punkte bestimmt werden (Hornmann a.a.O. Rn. 35; BVerwG, U.v. 19.3.2015 - 4 C 12.14 - ZfBR 2015, 574 Ls, Rn. 15 ff.). Eine bauliche Einheit im o.g. Sinne kann nur angenommen werden, wenn die beiden Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise, gleichsam harmonisch aneinandergebaut sind, was jedoch nicht zwingend erfordert, dass die Doppelhaushälften gleichzeitig oder deckungsgleich errichtet werden müssen (BayVGH, B.v. 15.9.2015 - 2 CS 15.1792 - juris Rn. 12 f.). Allerdings kann es an einem Doppelhaus fehlen, wenn auf Dauer nur eine Hälfte errichtet wird (Hornmann a.a.O. Rn. 37). Gemessen daran wären das klägerische und das Vorhabengebäude nicht als Doppelhaus anzusehen, da sie nicht in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise, mithin nicht harmonisch aneinandergebaut würden. Das Vorhabengebäude fällt im Vergleich zum Bestandswohnhaus des Klägers deutlich wuchtiger aus, da es knapp 5,5 m länger wäre und an seiner südwestlichen Ecke noch einen auskragenden Zwerchgiebel sowie auf der Westseite die Balkonaufbauten vorsieht. Auch läge kein harmonisches Aneinander der beiden Dächer vor. Das Vorhabengebäude würde die Grundstückssituation dominieren und den Eindruck von zwei zufällig an der Grundstücksgrenze zusammengefügten Einzelhäusern erwecken (OVG NW, U.v. 19.4.2012 - 10 A 1035/10 - juris Rn. 35). Darin spiegelt sich auch wieder, dass das Vorhabengebäude mit sechs Wohneinheiten doppelt so viele wie das klägerische enthalten soll. Schließlich ist auch zu berücksichtigten, dass seit der Grundstücksteilung im Jahre 1970 - vorher waren die Grundstücke von Kläger und Beigeladener auf einer FlNr. vereint - vom eingeschossigen Anbau auf dem heutigen Beigeladenengrundstück abgesehen über gut 50 Jahre nur eine Hälfte des hier im Ergebnis nicht vorliegenden Doppelhauses errichtet war.
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b) Die Berufung auf das Abstandsflächenrecht des Art. 6 BayBO ist dem Kläger auch nicht entsprechend § 242 BGB nach den Grundsätzen von Treu und Glauben verwehrt. Ein Nachbar kann sich nach Treu und Glauben gegenüber einer Baugenehmigung in der Regel nicht erfolgreich auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen, wenn auch die Bebauung auf seinem Grundstück den Anforderungen dieser Vorschrift nicht entspricht und wenn die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu - gemessen am Schutzzweck der Norm - schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen (BayVGH, U.v. 4.2.2011 - 1 BV 08.131 - juris Rn. 37; Schönfeld in Spannowsky/Manssen, BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, 22. Ed. 1.5.2022, Art. 6 BayBO Rn. 281 ff.). Zum Zeitpunkt der Erteilung der streitgegenständlichen Baugenehmigung vom 27. Oktober 2020 hat auch der Kläger mit seinem Wohngebäude unzweifelhaft die nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsflächen unterschritten, da dieses mit seiner südlichen Giebelwand grenzständig zum Grundstück der Beigeladenen steht. Jedoch handelt es sich, verglichen mit der Abstandsflächenunterschreitung durch das Vorhabengebäude der Beigeladenen, um keine in etwa gleichgewichtige Verletzung des Art. 6 BayBO. Das im Jahre 1903 genehmigte Bestandsgebäude des Klägers würde durch den etwa profilgleichen grenzständigen Anbau an dessen Südseite in der geplanten Form ungleich stärker beeinträchtigt, weil die in der südlichen Außenwand des klägerischen Gebäudes im ersten Obergeschoss und im Dachgeschoss befindlichen Fensteröffnungen, jeweils eine aus Aufenthaltsräumen und zwei aus dem Treppenhaus heraus, entgegen der Baugenehmigung aus 1903 verschlossen würden und ihm hinsichtlich der betroffenen beiden Aufenthaltsräume nur noch eine Belichtung durch die zur … straße zeigenden Fenster bliebe. Die Beklagte geht sogar davon aus, dass die Belichtungssituation in den Aufenthaltsräumen voraussichtlich dann nicht mehr den Vorgaben des Art. 45 Abs. 2 BayBO entspräche und der Kläger auf eigene Kosten die Fenster zur … straße (Ostseite) entsprechend erweitern müsste. Weiter würde dem Kläger aufgebürdet, da durch den geplanten Anbau der Beigeladenen die aus den Treppenräumen der oberirdischen Geschosse ins Freie führenden Fenster nach Art. 28 Abs. 8 Satz 2 Nr. 1 BayBO verschlossen würden, an der obersten Stelle des Treppenraumes eine Öffnung zur Rauchableitung herzustellen, Art. 28 Abs. 8 Satz 2 Nr. 2 BayBO. Die Beigeladene hingegen konnte, anders als der Kläger, die mit der Grundstückssituation an der gemeinsamen Grenze einhergehenden Beschränkungen präventiv planerisch aufnehmen, die nördliche Außenwand öffnungslos ausgestalten - wie es Art. 28 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, Abs. 8 Satz 1 BayBO auch fordert - und im Übrigen ausreichende Fensteröffnungen vorsehen. Zwar ist im Rahmen des § 242 BGB auch in Rechnung zu stellen, dass die Problematik des wechselseitigen Grenzanbaus erst durch die durch den Rechtsvorgänger des Klägers veranlasste Grundstücksteilung, durch die Beklagte mit Bescheid vom 25. Juni 1970 genehmigt, veranlasst wurde. Jedoch hat es die Beklagte damals einerseits unterlassen gemäß § 19 i.V.m. § 20 Abs. 1, Abs. 2 Bundesbaugesetz vom 23. Juni 1960 (BGBl. I, 1960, Nr. 30) die Genehmigung unter Auflagen zu erteilen, etwa die südliche Außenwand des klägerischen Gebäudes zu verschließen und die verbleibenden Fensteröffnungen zu erweitern, was nicht zulasten des Klägers gehen kann. Zum anderen kannte die Beigeladene bei Erwerb des Vorhabengrundstücks die Grenzsituation zum Grundstück des Klägers hin, die dort vorhandene Bebauung und auch die in der Umgebung weit überwiegend vorhandene offene Bauweise. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Beigeladene ihr Grundstück auch unter Einhaltung der Abstandsflächen, ggf. unter Erteilung zusätzlicher Abweichungen nach Art. 63 BayBO, wenn auch weniger intensiv, baulich nutzen könnte.
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c) Nach alldem verletzt die Baugenehmigung der Beklagten vom 27. Oktober 2020 den Kläger jedenfalls rechtswidrig in der nachbarschützenden Vorschrift des Art. 6 BayBO und ist somit aufzuheben.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 161 Abs. 1, § 154 Abs. 1, § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO. Da die Beigeladene keinen Klageantrag gestellt hat, können ihr keine Kosten auferlegt werden. Umgekehrt bekommt sie keine Kosten erstattet, da sie unterliegt. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit basiert auf § 167 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.