Titel:
Änderung der Sachlage wegen exilpolitischer Betätigung – erfolgreiche Klage gegen Anlehnung des Asylfolgeantrags eines türkischen Staatsangehörigen
Normenketten:
AsylG § 3, § 4, § 28 Abs. 1, § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
VwVfG § 51
Leitsatz:
Auch eine nicht asylerhebliche Strafverfolgung kann in politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Türkei, als unzulässig abgelehnter Folgeantrag, veränderte Sachlage hinsichtlich Rückkehrbefürchtung (bejaht), Nachfluchttatbestände im Folgeverfahren, unverhältnismäßige bzw. diskriminierende Strafverfolgung, hier: drohende Verfolgung wegen exilpolitischer Betätigung in besonders exponierter Weise (schlüssiger und widerspruchsfreier Vortrag mit der Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung bejaht), Türkei, Folgeantrag, Nachfluchtgründe, drohende Strafverfolgung, exilpolitische Betätigung, Kurde, Änderung der Sachlage
Fundstelle:
BeckRS 2022, 17892
Tenor
I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. Dezember 2021 wird aufgehoben.
II. Die Parteien tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Kläger, nach eigenen Angaben türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt).
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Der Kläger, der nach eigenen Angaben im März 2019 legal mit einem ihm erteilten Visum auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland einreiste, stellte erstmals im April 2019 - gemeinsam mit seiner türkischen Ehefrau - einen Asylantrag beim Bundesamt. Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung lebt der Kläger im Bundesgebiet mit seiner Ehefrau, die er während des gerichtlichen Verfahrens in Deutschland geheiratet hat, in familiärer Lebensgemeinschaft zusammen. Ihr Asylbegehren begründeten die Kläger und seine Ehefrau damit, dass sie in der Türkei u.a. wegen Mitgliedschaft in einer sowie Propaganda für eine bewaffnete Terrororganisation zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden seien. Dem Urteil der 9. Großen Strafkammer Ankara vom 14. März 2019 habe der unzutreffende Vorwurf zugrunde gelegen, dass sie Verbindungen zu der in der Türkei verbotenen Maoistischen Kommunistischen Partei (MKP) unterhalten hätten. Tatsächlich haben der Kläger und seine Ehefrau mit der MKP aber nicht zu tun gehabt und würden dort auch niemanden kennen. Sie seien lediglich Mitglieder in dem damals in der Türkei noch legalen Verein „Ankara Demokratik Haklar Federasyon“ (ADHF), der erst im Jahr 2016 nach dem Putschversuch verboten worden sei, gewesen und haben an diversen Demonstrationen bzw. politischen Versammlungen teilgenommen. Der Verein ADHF habe sich für demokratische und soziale Belange eingesetzt und keinerlei Verbindungen zur MKP unterhalten. Gemeinsam mit den Klägern seien 14 weitere Mitglieder des Vereins ADHF aufgrund von - im Wesentlichen - identischen Tatvorwürfen in demselben Strafverfahren zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Der Kläger und seine Ehefrau haben die Türkei daraufhin auf Anraten ihrer türkischen Rechtsanwälte wenige Tage vor der letzten mündlichen Verhandlung des Strafgerichts, in der auch das Urteil verkündet worden sei, noch im März 2019 in Richtung Deutschland verlassen. Zusammen mit den beiden Klägern haben noch acht weitere Mitangeklagte und -verurteilte die Türkei rechtzeitig verlassen können. Von diesen seien drei in die Schweiz und fünf nach Deutschland geflohen. Zum Beweis ihres Sachvortrags legten der Kläger und seine Ehefrau dem Bundesamt Auszüge aus dem Urteil der 9. Großen Strafkammer Ankara vom 14. März 2019 vor.
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Mit bestandskräftigen Bescheiden vom 15. August 2019, vom 11. Dezember 2019 und vom 9. Januar 2020 erkannte das Bundesamt den ebenfalls mit demselben Urteil der 9. Großen Strafkammer Ankara vom 14. März 2019 verurteilten ... G. …, … E. …, ... G. …, … Y. … und ... G. … die Flüchtlingseigenschaft zu und erkannte sie, soweit sie auf dem Luftweg eingereist waren, auch als Asylberechtigte an. In den Bescheiden des Bundesamts wurde dies in allen Fällen damit begründet, dass „aufgrund des ermittelten Sachverhaltes davon auszugehen sei, dass die Furcht der Antragsteller begründet sei“.
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Nach unbestrittenen Angaben des Klägerbevollmächtigten sei auch den drei in die Schweiz geflohen Verurteilten dort jeweils ein Flüchtlingsschutz zuerkannt worden.
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Einzig die Asylanträge des Klägers und seiner Ehefrau wurden mit Bescheiden des Bundesamts vom 11. Mai 2020 abgelehnt. Das Bundesamt begründete dies in seinen Bescheiden im Kern damit, dass hinsichtlich der Echtheit der vorgelegten Unterlagen erhebliche Bedenken bestünden. Nachdem der Kläger und seine Ehefrau im verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren das Urteil der 22. Strafkammer des Berufungsgerichts Ankara vom 22. Juni 2020 vorlegten, dass die Schuldsprüche des erstinstanzlichen Strafgerichts vollumfänglich bestätigte, räumte das Bundesamt im April 2021 ein, dass die vorgelegten Beweismittel „wohl formal in Ordnung“ seien. Das Bundesamt teilte jedoch - ohne näher auf die Parallelfälle einzugehen, bei denen das Bundesamt eine Verfolgungsgefahr zuvor noch ausdrücklich bejaht hatte (in einem dem Gericht vorgelegten Vermerk des Bundesamts betreffend einen der Parallelfälle heißt es, dass „der Antragsteller in Abwesenheit zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden sei. Hierbei handele es sich um einen erheblichen Eingriff in die Freiheitsrechte des Antragstellers. Grund für die Haftstrafe sei vorliegend die (unterstellte) politische Überzeugung i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG. (…). Laut Auskunftslage des Auswärtigen Amts kann in derart politisch gelagerten Fällen nur noch sehr eingeschränkt von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden, weshalb nicht mit einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren bei Rückkehr in das Herkunftsland gerechnet werden kann. Da vorliegend eine mit einem asyl- oder flüchtlingsrelevantem Merkmal verknüpfet Verfolgung ersichtlich ist ((unterstellte) Zugehörigkeit zur MKP) - Zuschreiben einer Terrorverdächtigung sowie zu erwartende Verfolgungshandlungen gem. § 3a AsylG) war Flüchtlingsschutz i.S.d. § 3 AsylG zu gewähren.)“ - zugleich mit, dass es der Ansicht sei, dass inhaltlich nicht von einem „Politmalus“ ausgegangen werden könne. Gegen die Bescheide gerichtete Klagen wurden rechtskräftig abgewiesen (VG Augsburg, U.v. 30.4.2021 - Au 4 K 20.30663; U.v. 30.4.2021 - Au 20.30662; BayVGH, B.v. 7.7.2021 - 24 ZB 21.30777; B.v. 7.7.2021 - 24 ZB 21.30763). Im erstinstanzlichen Urteil wurde hierzu ausgeführt, dass eine Verfolgung im Sinne einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung nach Auffassung des Gerichts nicht gegeben sei. Zwar habe das Gericht nach Inaugenscheinnahme der relevanten Unterlagen im UYAP-Account der Kläger keine Zweifel an deren Echtheit, auch verkenne das Gericht nicht, dass der von türkischen Behörden angewandte Begriff des „Terrorismus“ unscharf und Vorwand für eine Bandbreite an Repressalien sei, im Ergebnis könne unter Würdigung sämtlicher Umstände des vorliegenden Einzelfalls nicht mit erforderlicher Überzeugungsgewissheit angenommen werden, dass das gegen die Kläger durchgeführte Strafverfahren sowie der Strafausspruch nicht mehr legitimer Strafverfolgung entsprächen. Die Kläger seien unstreitig politisch aktive Personen, die in diversen Vereinen tragende Rollen eingenommen hätten. Nach eigenen Angaben der Kläger gebe es jedoch auch gewisse Verflechtungen zwischen diesen Vereinen und der verbotenen Partei MKP, sodass der Vorwurf der Mitgliedschaft in bzw. der Propaganda für die MKP jedenfalls „nicht völlig aus der Luft gegriffen“ und eine ideologische Verbindung der Vereinigungen zur MKP von den türkischen Behörden bzw. Gerichten den Klägern „nicht lediglich angedichtet“ worden sei.
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Im August 2021 stellten der Kläger und seine Ehefrau einen Folgeantrag. Zur Begründung gaben sie an, dass davon ausgegangen werden müsse, dass ihnen seitens des Bundesamts die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden wäre, wenn dieses von Anfang an von der Echtheit der Dokumente ausgegangen wäre. Im Übrigen sei damit zu rechnen, dass sie im Falle einer Rückkehr in die Türkei verhaftet würden und ihre Haft in einem Gefängnis des F-Typs verbüßen müssten. Des Weiteren haben die Antragsteller ihre politischen Aktivitäten auch in Deutschland fortgesetzt und seien in den letzten Monaten umfassend exilpolitisch tätig gewesen. Dabei haben sie sich u.a. in mehreren Zeitungsartikeln, in sozialen Medien und auch in zwei TV-Sendungen kritisch gegenüber dem Erdogan-Regime geäußert. Außerdem legten die Kläger diverse Schreiben, u.a. ein an ein (damaliges) Mitglied des Bundestags gerichtetes Schreiben des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz, diverse Auszüge von Onlinekommentaren in sozialen Medien, in denen sie massiv angefeindet worden sind, mehrere Schreiben von Abgeordneten des türkischen Parlaments und von in der Türkei tätigen Rechtsanwälten sowie weitere Unterlagen vor, die als neue Beweismittel insbesondere belegen würden, dass zugunsten der Klägerin und ihres Ehemanns von einem „Politmalus“ ausgegangen werden müsse.
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Mit Bescheiden vom 7. Dezember 2021 lehnte das Bundesamt die Asylfolgeanträge des Klägers und seiner Ehefrau als unzulässig (Nr. 1 des Bescheids) und die Anträge auf Abänderung der Bescheide vom 11. Mai 2020 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG; Nr. 2 des Bescheids) ab. Das Bundesamt begründete dies im Wesentlichen damit, dass der Wiederaufgreifensgrund der Sachlagenänderung nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG im vorliegenden Fall nicht gegeben sei, da die Antragsteller keine neuen Gründe vorgebracht haben, die es angebracht erscheinen ließen, die Wiederaufgreifensvoraussetzungen nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG zu bejahen. Die eingereichten Stellungnahmen bzw. Berichte über die politische Situation in der Türkei führten nicht zu einer Änderung des Sachverhalts, insbesondere habe das Verwaltungsgericht Augsburg das Vorliegen eines Politmalus bereits in seinem Urteil im Erstverfahren verneint. Hinsichtlich ihres Vorbringens, exilpolitisch tätig zu sein, könne den Antragstellern gemäß § 28 Abs. 2 AsylG die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden. Die Gefahr politischer Verfolgung beruhe zum einen auf Umständen, die nach der unanfechtbaren Ablehnung des Asylerstantrags stattgefunden hätten, zum anderen drohe wegen der Aktivitäten auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung. Der Unterzeichner verkenne zwar nicht, dass die türkischen Behörden willkürlich darüber zu entscheiden scheinen, wer für die Veröffentlichung von als verboten angesehenen Nachrichten in den sozialen Medien strafverfolgt wird. Die Antragsteller haben jedoch nicht glaubhaft machen können, dass ihnen wegen ihrer Beiträge flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung drohen würde. So habe der Bevollmächtigte der Antragsteller zwar Passagen ausgeführt, die die Antragsteller geäußert haben sollen („die Türkei ist kein demokratisches Land und Erdogan verfolgt eine islamistisch-faschistische Ideologie“), diese Äußerungen wiesen jedoch keinerlei Bezug zu einer Terrororganisation auf oder forderten zum Umsturz der Regierung auf, was dann ein berechtigtes Verfolgungsinteresse des türkischen Staates als besonders wahrscheinlich erscheinen lassen würde. Die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG seien ebenfalls nicht gegeben.
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Am 28. Dezember 2021 hat der Kläger hiergegen fristgerecht Klage (M 1 K ….) erhoben. Er ist im Wesentlichen der Auffassung, dass ihm aufgrund seiner politischen Aktivitäten in den sozialen Medien im Falle einer Rückkehr in die Türkei eine menschenrechtswidrige Behandlung drohe.
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Der Kläger beantragt zuletzt noch, den Bescheid der Beklagten vom 7. Dezember 2021 aufzuheben,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheids zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
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und tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen.
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Zum 1. Januar 2022 wurde das Verfahren von der 28. Kammer übernommen.
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Im Parallelverfahren (M 28 K ….) klagt die Ehefrau des Klägers ebenfalls gegen den sie betreffenden, ablehnenden Folgeantragsbescheid.
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Auf einen in der Sache gestellten Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz hin wurde die aufschiebende Wirkung der Klage mit unanfechtbarem Beschluss vom 22. März 2022 (M 28 S ….) insoweit angeordnet, als sie sich gegen die Abschiebungsandrohung in Nummer 3 des Bescheids richtet.
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Mit Beschluss vom 25. April 2022 hat das Gericht den Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen.
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Am 15. Juni 2022 fand eine mündliche Verhandlung statt, in der der Kläger persönlich angehört und befragt wurde.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtssowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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1. Über die Klage konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung gemäß § 102 Abs. 2 VwGO entschieden werden, da sie zum Termin ordnungsgemäß geladen und auf die Folgen des Ausbleibens hingewiesen worden ist.
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2. Soweit der Kläger seine Klage zurückgenommen hat (Verpflichtungsanträge auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens bzw. Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus), ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
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3. Die zulässige Anfechtungsklage (zur Statthaftigkeit vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2017 - 1 C 9/17 - juris Rn. 15) hat in der Sache Erfolg.
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Der Bescheid der Beklagten vom 7. Dezember 2021 ist im insoweit gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Asylgesetz (AsylG) maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Die dem ursprünglichen Verwaltungsakt zugrundeliegende Sachlage hat sich aufgrund der vom Kläger (erstmals) im Folgeverfahren vorgetragenen exilpolitischen Betätigung i.S.d. § 71 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG nachträglich zu seinen Gunsten geändert, sodass für den Kläger ein (weiteres) Asylverfahren durchzuführen ist.
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a) Hinsichtlich des rechtlichen Rahmens und des Prüfungsmaßstabs bezüglich der § 71 AsylG i.V.m. § 51 VwVfG wird zunächst auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid, denen der Einzelrichter (nur) insoweit folgt, verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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Gemessen hieran hält es der Einzelrichter nicht nur für möglich i.S.d. § 51 VwVfG, sondern ist sogar davon überzeugt, dass die in diversen Medien verlautbarten, exilpolitischen Äußerungen des Klägers und seiner Ehefrau (nachfolgend aa)) die türkischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) veranlassen könnten, ihnen gegenüber eine individuelle und rechtsstaatswidrige Strafverfolgung einzuleiten (nachfolgend bb)); diese politischen Betätigungen würden im Falle einer Rückkehr in die nach Überzeugung des Einzelrichters zweifellos eine asyl- bzw. flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung begründen.
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aa) Aufgrund der vom Kläger im gerichtlichen Verfahren vorgelegten Unterlagen sowie der Erkenntnisse des Einzelrichters aus der ausführlichen Anhörung und Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung und dem dabei gewonnenen Bild von der Persönlichkeit des Klägers steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass sich der Kläger und seine Ehefrau nach Abschluss ihrer Erstverfahren in verschiedenen, teils sehr reichweitenstarken Medien prominent in der Öffentlichkeit wiederholt sehr kritisch mit der türkischen Regierung, dem türkischen Staatspräsidenten sowie dessen Politik auseinandergesetzt haben und sie auf diesem Wege ihre schon in der Türkei vorhandenen und erkennbar betätigten festen, politischen Überzeugungen fortgeführt haben (hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Darstellungen im stattgebenden Eilbeschluss vom 22. März 2022 verwiesen). Der Entschluss zur Schaffung eines Nachfluchttatbestands i.S.d. § 28 Abs. 1 AsylG entspricht im konkreten Einzelfall mithin einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung, sodass die Gefahr politischer Verfolgung im Rahmen der Prüfung, ob der Kläger als Asylberechtigter anzuerkennen ist, vollumfänglich berücksichtigungsfähig ist (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG). Bei dieser Sachlage stünde im Übrigen auch § 28 Abs. 2 AsylG der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht entgegen, da die Regelvermutung des § 28 Abs. 2 a.E. AsylG im konkreten Einzelfall offenkundig widerlegt wird (zum Erfordernis einer bereits im Heimatland vorhandenen, erkennbar betätigten festen Überzeugung bei Nachfluchttatbeständen: Blechinger in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, 10. Edition, Stand: 15.01.2022, juris Rn. 35 ff., 42 ff).
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Angesichts der Tatsache, dass der Kläger und seine Ehefrau sich bereits in der Türkei in besonders exponierter Weise oppositionspolitisch betätigt haben und sie deshalb sogar strafrechtlich wegen der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verurteilt worden sind sowie der umfangreichen medialen Berichterstattung über die ablehnende Entscheidung im Erstverfahren sowohl in der Türkei als auch in Deutschland, ist auch davon auszugehen, dass den türkischen Sicherheitsbehörden oder jedenfalls den türkischen diplomatischen Vertretungen die exilpolitischen Betätigungen des Klägers und seiner Ehefrau bekannt geworden sind bzw. ihnen diese spätestens im Falle einer (unfreiwilligen) Rückkehr in die Türkei bekannt würden, weshalb offenkundig nicht mit der nötigen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger und seine Ehefrau (nach wie vor) als tatsächliche oder potentielle Unterstützer einer terroristischen Organisation (der MKP) angesehen werden.
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bb) Bei dieser Sachlage ist die Befürchtung des Klägers begründet, dass er im Falle einer Rückkehr in die Türkei landesweit flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungshandlungen - nämlich in einem rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht genügenden Ermittlungs- und Strafverfahren unverhältnismäßiger oder diskriminierender Strafverfolgung und Bestrafung unterzogen zu werden - wegen seiner ihm seitens des türkischen Staates zugeschriebenen politischen Überzeugung ausgesetzt wäre.
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Öffentliche Äußerungen, auch in sozialen Netzwerken, Zeitungsartikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Beerdigungen etc. im Ausland, bei denen z.B. Unterstützung für kurdische Belange geäußert wird, können in der Türkei strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie als Anstiftung zu separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden. Aus bekannt gewordenen Fällen ist zu schließen, dass solche Äußerungen und Handlungen zunehmend zu Strafverfolgung und Verurteilung führen und sogar als Indizien für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation herangezogen werden. So können etwa öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdisch geprägten Gebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug in den sozialen Medien bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation vom 6.12.2021, Türkei, S. 77). Weiter muss davon ausgegangen werden, dass E-Mail- und Telefonkommunikation sowie Einträge in sozialen Medien überwacht werden sowie, dass türkische diplomatische Vertretungen Informationen über regierungskritische türkische Staatsangehörige, die sich im Ausland befinden, an die türkischen Behörden weiterleiten (vgl. Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, Stand: April 2021, S. 15 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 7.7.2017 zur Türkei: Gefährdung bei Rückkehr von kurdischstämmigen Personen mit oppositionspolitischem Engagement und möglichen Verbindungen zur PKK, S. 2 f.). Es sind auch Fälle bekannt, in denen Türken, auch Doppelstaatsbürger, welche die türkische Regierung in den Medien oder in sozialen Medien kritisierten, bei der Einreise in die Türkei verhaftet wurden. Festnahmen, Strafverfolgung oder Ausreisesperre erfolgten des Weiteren vielfach in Zusammenhang mit regierungskritischen Stellungnahmen in den sozialen Medien, vermehrt auch aufgrund des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Im Falle einer Verurteilung wegen „Präsidentenbeleidigung“ oder der „Mitgliedschaft in einer oder Propaganda für eine terroristische Organisation“ riskieren Betroffene gegebenenfalls eine mehrjährige Haftstrafe, teilweise auch lebenslange erschwerte Haft (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation vom 6.12.2021, Türkei, S. 172 f.). Gegenwärtig kann auch nicht mit der gebotenen Verlässlichkeit davon ausgegangen werden, dass in der Türkei mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen (vermeintliche) Mitglieder und Unterstützer von Organisationen wie etwa der PKK, der DHKP-C oder der Gülen-Bewegung („FETÖ“) vorgegangen wird: Insbesondere bestehen erhebliche Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit und an der fairen Prozessführung sowie (teils gravierende) Mängel bei den Verteidigungsmöglichkeiten und sonstige Repressionen (Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, Stand: April 2021, S. 12; VG Potsdam, U.v.7.4.2022 - 1 K 1139/19 - juris Rn. 53; vgl. zu den Einzelheiten: Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation vom 6.12.2021, Türkei, S. 41 ff.).
29
Zwar kann allein aus dem Akt der (drohenden) Strafverfolgung nicht darauf geschlossen werden, dass eine Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsrechts vorliegt. Nach obergerichtlicher Rechtsprechung ist bei staatlichen Maßnahmen, die allein dem - grundsätzlich legitimen - staatlichen Rechtsgüterschutz, etwa im Bereich der Terrorismusbekämpfung, dienen oder die nicht über das hinausgehen, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt wird, nicht von politischer Verfolgung auszugehen. Auch eine danach nicht asylerhebliche Strafverfolgung kann jedoch in politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet (sog. „Politmalus“; BVerfG, B.v. 27.4.2004 - 2 BvR 1318/03 - juris Rn. 16; B.v. 4.12.2012 - 2 BvR 2954/09 - juris Rn. 24). In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist insoweit geklärt, dass eine solche verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung aus politischen Gründen in der Türkei derzeit (nur) bei Personen besteht, bei denen Besonderheiten vorliegen, etwa weil sie in das Fahndungsregister eingetragen sind, gegen sie ein Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig ist oder sie sich - so wie im Falle des Klägers - in besonders exponierter Weise exilpolitisch betätigt haben und sie deshalb in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK, der Gülen-Bewegung oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden (OVG Lüneburg, U.v. 31.5.2016 - 11 LB 53/15 - juris Rn. 37; OVG LSA, B.v. 17.5.2016 - 3 L 177/15 - juris Rn. 18; SächsOVG, U.v. 7.4.2016 - 3 A 557/13.A - juris Rn. 34.).
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c) Die Beklagte hat mithin über den Asylfolgeantrag des Klägers nach dessen Anhörung - unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts - erneut zu entscheiden; da dem Kläger wesentliche formelle und materielle Verfahrensschritte und Garantien verloren gingen, ist ein „Durchentscheiden“ des Verwaltungsgerichts ist in dieser Konstellation rechtlich weder geboten noch zulässig (vgl. hierzu: BVerwG, U.v. 11.7.2018 - 1 C 18/17 - juris Rn. 37). Wegen § 31 Abs. 3 AsylG war auch Nummer 2 des streitgegenständlichen Bescheids als „verfrüht“ ergangen aufzuheben (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 - juris Rn. 21).
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4. Der (gerichtskostenfreien, § 83 b AsylG) Klage war deshalb stattzugeben.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.