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VG München, Urteil v. 14.07.2022 – M 27 K 22.30330
Titel:

Asyl, Nigeria: Erfolglose Klage eines in Deutschland geborenen Kindes eines deutschen Staatsangehörigen

Normenketten:
GG Art. 11, Art. 16
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60, § 85a
StAG § 4 Abs. 1
VwGO § 42 Abs. 2
Leitsätze:
1. Keine Abschiebung einer deutschen Staatsangehörigen nach Nigeria. Der Erlass einer Ausreiseaufforderung, einer Abschiebungsandrohung sowie eines Einreise- und Aufenthaltsverbotes durch das Bundesamt gegenüber einer deutschen Staatsangehörigen verstößt gegen Art. 11 Abs. 1 GG und ist daher rechtswidrig. (Rn. 18)
2. Die Verpflichtungsanträge einer deutschen Staatsangehörigen auf Anerkennung als Asylberechtigte, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, des subsidiären Schutzstatus sowie auf eine Feststellung von Abschiebungsverboten sind mangels Klagebefugnis unzulässig. (Rn. 16)
Soweit sich die Klage des deutschen Staatsangehörigen gegen eine Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung richtet, ist sie zulässig. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Deutsche Staatsangehörige, Vaterschaft anerkannt und humangenetisch nachgewiesen, Verpflichtungsanträge mangels Klagebefugnis unzulässig, Isolierte Anfechtungsklage gegen Ausreiseaufforderung, Abschiebungsandrohung sowie Einreise- und Aufenthaltsverbot zulässig und begründet, Flüchtlingsanerkennung
Fundstellen:
LSK 2022, 17890
NVwZ-RR 2023, 75
BeckRS 2022, 17890

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 1. Februar 2022 wird in den Nrn. 5 und 6 aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

Tatbestand

1
Die 2020 im Bundesgebiet geborene Klägerin wendet sich gegen die Ablehnung ihres Asylantrages mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 1. Februar 2022. Sie begehrt mit ihrer Klage die Anerkennung als Asylberechtigte, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung subsidiären Schutzes und wiederum hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten sowie die Aufhebung des Bescheids im Übrigen.
2
Die Mutter der Klägerin, Frau J., ist nigerianische Staatsangehörige. Mit Erklärung vom ...) hat der deutsche Staatsangehörige nigerianischer Herkunft, Herr A., vor dem Jugendamt … die Vaterschaft für die Klägerin anerkannt. In der Folge kam es zu weiterer Korrespondenz zwischen dem Bundesamt und der zuständigen Ausländerbehörde, welche darauf hinwies, dass Herr A. bereits in der Vergangenheit durch zahlreiche Vaterschaftsanerkennungen aufgefallen sei. Daher sei auch im vorliegenden Fall bei der Staatsanwaltschaft … gegen Herrn A. und Frau J. ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden (115 Js 377/21 A).
3
Mit Bescheid vom 1. Februar 2022 wurden die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung sowie auf subsidiären Schutz abgelehnt (Nr. 1-3). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen; die Abschiebung nach Nigeria wurde angedroht (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). In dem Bescheid wurde insbesondere ausgeführt, dass die Klägerin „nach derzeitigen Erkenntnissen nigerianische Staatsangehörige“ sei.
4
Am 11. Februar 2022 hat die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten zunächst - ohne weitere Anträge - Klage „gegen den Bescheid“ zum Verwaltungsgericht München erheben und dann zuletzt mit Schriftsatz vom 8. März 2022 beantragen lassen,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes vom 1. Februar 2022, Az. 8428132-232, zu verpflichten, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen und ihr die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen und weiter hilfsweise das Vorliegen von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Nigeria festzustellen.
5
Zur Begründung bezieht sich die Klagepartei auf ihre Angaben beim Bundesamt.
6
Das Bundesamt hat die Akten vorgelegt und beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Mit Beschluss vom 15. Februar 2022 ist der Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG auf den Einzelrichter übertragen worden.
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Mit Beschluss vom 14. März 2022 hat das Gericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Klägerbevollmächtigten abgelehnt, weil eine isolierte Anfechtungsklage voraussichtlich unzulässig sei und sich die Klage im Übrigen voraussichtlich als verfristet erweisen werde. Dem trat die Klagepartei mit Schriftsatz vom 28. März 2022 entgegen.
9
Mit Schriftsatz vom 9. Juni 2022 hat die Klagepartei ein Abstammungsgutachten vom … … … vorgelegt, wonach Herr A. mit einer Wahrscheinlichkeit von über 99,99% der biologische Vater der Klägerin ist, sodass dessen Vaterschaft „praktisch erwiesen“ und die Vaterschaft eines anderen Mannes ausgeschlossen sei. Mit Schreiben vom 15. Juni 2022 hat das humangenetische Labor gegenüber dem Gericht außerdem die Authentizität des Gutachtens vom … … … bestätigt.
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Mit Erklärungen vom 23. Juni 2022 und 30. Juni 2022 haben die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
11
Unter dem 24. Juni 2022 teilte die Staatsanwaltschaft … dem Gericht mit, dass das Strafverfahren gegen Herrn A. und Frau J. mangels hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO aufgrund nicht strafbaren Verhaltens eingestellt worden sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie auf die vorgelegten und beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Über die Klage konnte aufgrund der übereinstimmenden Verzichtserklärungen der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
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Die Klage ist größtenteils unzulässig. Soweit sie zulässig ist, ist sie begründet, weil der angegriffene Bescheid in den Nrn. 5 und 6 rechtswidrig ist und die Klägerin daher in eigenen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Die Klägerin hat nach § 4 Abs. 1 Satz 2 StAG bereits durch Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erworben, weil der Vater deutscher Staatsangehöriger ist und er die Vaterschaft für die Klägerin anerkannt hat. Zwar tritt diese Wirkung solange nicht ein, wie ein Verfahren wegen missbräuchlicher Vaterschaftsanerkennung nach § 85a AufenthG noch andauert (vgl. Hailbronner in Hailbronner/Kau/Gnatzy/Weber/Kau, Staatsangehörigkeitsrecht, 7. Aufl. 2022, § 4 StAG Rn. 38a), vorliegend ist aber nicht ersichtlich, dass ein solches Verfahren überhaupt eingeleitet worden war. Jedenfalls steht aber nach den Ermittlungen des Gerichts aufgrund des von der Klagepartei vorgelegten Abstammungsgutachtens, dessen Authentizität bestätigt worden ist, fest, dass Herr A. tatsächlich der biologische Vater der Klägerin ist, mithin diese von einem deutschen Staatsangehörigen abstammt, der auch die Vaterschaft anerkannt hat.
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2. Hinsichtlich der Verpflichtungsanträge ist die Klage allerdings bereits unzulässig, weil der Klägerin die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO fehlt. Denn als deutsche Staatsangehörige hat sie unter keinerlei rechtlichem Gesichtspunkt einen möglichen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a GG, auf Zuerkennung einer Rechtsstellung als Flüchtling nach § 3 AsylG oder subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG sowie auf die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG. Denn das Grundrecht aus Art. 16a GG steht nur Nichtdeutschen zu (vgl. statt aller Gärditz in Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, 96. Lfg. November 2021, Art. 16a GG Rn. 193). Auch knüpfen die übrigen Anspruchsnormen §§ 3, 4 AsylG sowie § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG stets an die Eigenschaft als „Ausländer“ an, welche die Klägerin als Deutsche nicht besitzt. Es kann daher vor dem Hintergrund der fehlenden Klagebefugnis dahinstehen, ob die Verpflichtungsanträge mit Schriftsatz vom 8. März 2022 fristgerecht i.S.d § 74 Abs. 1 AsylG gestellt wurden.
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3. Die Klage ist jedoch zulässig, soweit sie sich gegen die Nrn. 5 und 6 des Bescheids richtet. Insbesondere hat die Klägerin nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung insoweit auch ausnahmsweise ein Rechtsschutzbedürfnis für eine isolierte Anfechtungsklage, die zudem am 11. Februar 2022 mit der Klage (nur) „gegen den Bescheid“ fristgerecht erhoben wurde.
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Die Klage gegen die Nrn. 5 und 6 des Bescheids ist zudem begründet, denn die vom Bundesamt erlassene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (Nr. 5) und die Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 AufenthG (Nr. 6) ist nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) offensichtlich rechtswidrig, weil solche Anordnungen gegenüber einer deutschen Staatsangehörigen gegen Art. 11 Abs. 1 GG verstoßen. Denn das Grundrecht auf Freizügigkeit beinhaltet auch das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen und zu diesem Zweck in das Bundesgebiet einzureisen (vgl. nur BVerfG, B.v. 7.5.1953 - 1 BvL 104/52 - BVerfGE 2, 266 - juris Rn 23). Die Klägerin kann demzufolge das aus Art. 11 Abs. 1 GG folgende „Recht auf dauerhaften Verbleib im Bundesgebiet“ (Durner in Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, 96. Lfg. November 2021, Art. 11 GG Rn. 91) für sich beanspruchen, zumal ein Anwendungsfall der Grundrechtsschranke des Art. 11 Abs. 2 GG hier nicht ersichtlich ist.
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 VwGO, wobei zu berücksichtigen ist, dass der Asylantrag nach § 14a Abs. 2 AsylG als gestellt galt, die Klägerin andererseits jedoch trotz ihrer deutschen Staatsangehörigkeit das Asylverfahren weiterbetrieben und dadurch maßgeblichen Anlass für die Anordnungen des Bundesamts gegeben hat. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Aufgrund der Kostenaufhebung war eine Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt nicht veranlasst.