Titel:
Ausgangsbeschränkungen und sonstige Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, unzulässige Fortsetzungsfeststellungsklage, keine konkrete Wiederholungsgefahr für eine vergleichbare Allgemeinverfügung, kein Fortsetzungsfeststellungsinteresse in der Hauptsache bei Stattgabe im Eilverfahren
Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 4
IfSG § 28 Abs. 1
Schlagworte:
Ausgangsbeschränkungen und sonstige Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, unzulässige Fortsetzungsfeststellungsklage, keine konkrete Wiederholungsgefahr für eine vergleichbare Allgemeinverfügung, kein Fortsetzungsfeststellungsinteresse in der Hauptsache bei Stattgabe im Eilverfahren
Fundstelle:
BeckRS 2022, 17889
Tenor
I. Soweit die Klage übereinstimmend für erledigt erklärt wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Streitgegenständlich waren ursprünglich die in der Allgemeinverfügung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 20. März 2020, Az. Z6a-G8000-2020/122-98, BayMBl. 2020 Nr. 152, unter Nrn. 1 bis 5 verfügten Anordnungen. Die Allgemeinverfügung hatte folgenden Wortlaut:
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1. Jeder wird angehalten, die physischen und sozialen Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren. Wo immer möglich ist ein Mindestabstand zwischen zwei Personen von 1,5 m einzuhalten.
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2. Untersagt werden Gastronomiebetriebe jeder Art. Ausgenommen ist die Abgabe und Lieferung von mitnahmefähigen Speisen.
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3. Untersagt wird der Besuch von
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a) Krankenhäusern sowie Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, in denen eine den Krankenhäusern vergleichbare medizinische Versorgung erfolgt (Einrichtungen nach § 23 Abs. 3 Nr. 1 und 3 IfSG); ausgenommen hiervon sind Geburts- und Kinderstationen für engste Angehörige und Palliativstationen und Hospize,
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b) vollstationären Einrichtungen der Pflege gemäß § 71 Abs. 2 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI),
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c) Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen im Sinne des § 2 Abs. 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX), in denen Leistungen der Eingliederungshilfe über Tag und Nacht erbracht werden,
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d) ambulant betreuten Wohngemeinschaften nach Art. 2 Abs. 3 Pflegewohnqualitätsgesetz (PfleWoqG) zum Zwecke der außerklinischen Intensivpflege (IntensivpflegeWGs), in denen ambulante Pflegedienste gemäß § 23 Abs. 6a IfSG Dienstleistungen erbringen und
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e) Altenheimen und Seniorenresidenzen.
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4. Das Verlassen der eigenen Wohnung ist nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt.
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5. Triftige Gründe sind insbesondere:
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a) die Ausübung beruflicher Tätigkeiten,
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b) die Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen (z. B. Arztbesuch, medizinische Behandlungen; Blutspenden sind ausdrücklich erlaubt) sowie der Besuch bei Angehörigen helfender Berufe, soweit dies medizinisch dringend erforderlich ist (z. B. Psycho- und Physiotherapeuten),
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c) Versorgungsgänge für die Gegenstände des täglichen Bedarfs (z. B. Lebensmittelhandel, Getränkemärkte, Tierbedarfshandel, Brief- und Versandhandel, Apotheken, Drogerien, Sanitätshäuser, Optiker, Hörgeräteakustiker, Banken und Geldautomaten, Post, Tankstellen, Kfz-Werkstätten, Reinigungen sowie die Abgabe von Briefwahlunterlagen). Nicht zur Deckung des täglichen Bedarfs gehört die Inanspruchnahme sonstiger Dienstleistungen wie etwa der Besuch von Friseurbetrieben,
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d) der Besuch bei Lebenspartnern, Alten, Kranken oder Menschen mit Einschränkungen (außerhalb von Einrichtungen) und die Wahrnehmung des Sorgerechts im jeweiligen privaten Bereich,
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e) die Begleitung von unterstützungsbedürftigen Personen und Minderjährigen,
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f) die Begleitung Sterbender sowie Beerdigungen im engsten Familienkreis,
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g) Sport und Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes und ohne jede sonstige Gruppenbildung und
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h) Handlungen zur Versorgung von Tieren.
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6. Die Polizei ist angehalten, die Einhaltung der Ausgangsbeschränkung zu kontrollieren. Im Falle einer Kontrolle sind die triftigen Gründe durch den Betroffenen glaubhaft zu machen.
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7. Ein Verstoß gegen diese Allgemeinverfügung kann nach § 73 Abs. 1a Nr. 6 des Infektionsschutzgesetzes als Ordnungswidrigkeit geahndet werden.
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8. Weiter gehende Anordnungen der örtlichen Gesundheitsbehörden bleiben unberührt.
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9. Diese Allgemeinverfügung ist nach § 28 Abs. 3, § 16 Abs. 8 des Infektionsschutzgesetzes sofort vollziehbar.
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10. Diese Allgemeinverfügung tritt am 21. März 2020, 00:00 Uhr in Kraft und mit Ablauf des 3. April 2020 außer Kraft. Die Ausgangsbeschränkungen enden damit am 3. April 2020, 24:00 Uhr.
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Mit Schreiben vom 21. März 2020 erhob die Klägerin Klage mit dem Antrag,
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die Allgemeinverfügung „Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 20.03.2020, Az. Z6a-G8000-2020/122-98“ in Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3, Nr. 4 und Nr. 5 aufzuheben.
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Zugleich beantrage sie, die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage anzuordnen (M 26 S 20.1252).
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Zur Begründung führte die Klägerin aus, sie sei in Bayern wohnhaft und durch die Allgemeinverfügung jedenfalls in ihrer Allgemeinen Handlungsfreiheit eingeschränkt. Es fehle bereits an einer Rechtsgrundlage für den Erlass einer bayernweiten Ausgangsbeschränkung. Darüber hinaus sei der Bestimmtheitsgrundsatz verletzt und die Allgemeinverfügung unverhältnismäßig.
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Mit Beschluss vom 24. März 2020 (M 26 S 20.1252) wurde die aufschiebende Wirkung der Klage vom 21. März 2020 gegen Nrn. 1, 4 und 5 der Allgemeinverfügung vom 20. März 2020 angeordnet. Im Übrigen wurde der Antrag abgelehnt. Soweit der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage die Nrn. 2 und 3 der Allgemeinverfügung zum Gegenstand habe, sei der Antrag unstatthaft, da die Antragstellerin in der Hauptsache in Bezug auf diese Regelungen nicht nach § 42 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) klagebefugt sei. Sie habe nicht dargelegt, dass sie von den in Rede stehenden Regelungen in ihrer konkreten Situation mehr als nur reflexhaft und potentiell betroffen werde. Im Hinblick auf die Nrn. 1, 4 und 5 der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung sei der Antrag erfolgreich, da sich die dort getroffenen Regelungen nach der im Eilverfahren allein möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung als rechtswidrig erweisen und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzen würden. Jedenfalls die Nr. 1 der Allgemeinverfügung erweise sich bereits als formell rechtswidrig, weil die dort getroffenen Regelungen nicht in der Handlungsform der Allgemeinverfügung hätten getroffen werden dürfen, sondern als Rechtsnorm hätten ergehen müssen. Die in den Nrn. 4 und 5 der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung enthaltenen Ausgangsbeschränkungen seien ebenfalls rechtswidrig, da sie in der vom Staatsministerium für Gesundheit und Pflege angegebenen Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) keine hinreichende Rechtsgrundlage finden würden. Dabei könne offenbleiben, ob Ausgangsbeschränkungen bereits deshalb nicht auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gestützt werden könnten, weil diese für solch einschneidende Grundrechtseingriffe wegen fehlender hinreichender Bestimmtheit keine taugliche Rechtsgrundlage sein könne, so dass ein Verstoß gegen den Parlamentsvorbehalt vorläge. Denn jedenfalls könnten § 28 Abs. 1 Sätze 1 und 2 IfSG nach § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG keine Eingriffe in das Grundrecht auf Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 2 Grundgesetz (GG) rechtfertigen.
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Mit der „Bayerischen Verordnung über eine vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie“ vom 24. März 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 130), die nach § 2 bereits zum 21. März 2020 in Kraft trat und bis 3. April 2020 gültig sein sollte, erließ das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege unter § 1 (Vorläufige Ausgangsbeschränkungen anlässlich der Corona-Pandemie) in den Absätzen 1 bis 5 Anordnungen, die mit den in den Nrn. 1 bis 5 der Allgemeinverfügung vom 20. März 2020 verfügten Anordnungen wortgleich waren. Am 31. März 2020 trat die (erste) Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung - BayIfSMV - (BayMBl. 2020 Nr. 158) vom 27. März 2020 in Kraft, in die mit Verordnung zur Änderung der BayIfSMV vom 31. März 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 162) u.a. in § 3 Abs. 1 bis 3 Regelungen zur vorläufigen Ausgangsbeschränkung eingefügt wurden, die mit den Regelungen Nr. 1 und Nrn. 4 bis 5 der Allgemeinverfügung vom 20. März 2020 wortgleich waren.
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Mit am 8. April 2020 bei Gericht eingegangenem Schreiben vom … April 2020 verzichtete die Klägerin auf mündliche Verhandlung und beantragte,
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festzustellen, dass die streitgegenständliche Allgemeinverfügung des Beklagten hinsichtlich Ziffer 1, 4 und 5 rechtswidrig war und die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt wurde. Im Übrigen wurde der Rechtsstreit für erledigt erklärt.
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Das Fortsetzungsfeststellungsinteresse ergebe sich zum einen daraus, dass durchaus mit einer Wiederholung zu rechnen sei. Aufgrund des expliziten Festhaltens des Beklagten an der Allgemeinverfügung sei auch nicht ausgeschlossen, dass nicht noch einmal das Mittel der Allgemeinverfügung gewählt werde anstelle einer Verordnung. Zum anderen stelle die Allgemeinverfügung einen massiven Grundrechtseingriff dar.
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Mit Schreiben vom 4. Juni 2020 teilte der Beklagte mit, dass mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung Einverständnis bestehe. Der die Ziffern 2 und 3 der Klage betreffenden Erledigungserklärung werde zugestimmt. Der Klägerin seien insoweit die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen, da die Klage mangels Klagebefugnis i.S.d. § 42 Abs. 2 VwGO bereits unzulässig gewesen wäre; insoweit wurde auf die Ausführungen im Beschluss vom 24. März 2020 (M 26 S 20.1252) verwiesen. Für den noch anhängigen Teil der Klage wurde beantragt,
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Die Klägerin habe kein berechtigtes Interesse i.S.d. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO, die Rechtmäßigkeit der außer Kraft getretenen Allgemeinverfügung vom 20. März 2020 überprüfen zu lassen. Es bestehe weder eine konkrete Wiederholungsgefahr noch sei der Klage zu entnehmen, dass die Klägerin eine Amtshaftungsklage zu erheben plane. Auch der Vortrag eines möglicherweise massiven Grundrechtseingriffs begründe für sich betrachtet kein berechtigtes Interesse i.S.d. § 43 Abs. 1 VwGO. Es handele sich nicht um eine Sachlage, in der ein Fall des Rehabilitationsinteresses vorläge. Zudem scheide auch die Unterordnung unter den sich typischerweise kurzfristig erledigenden schwerwiegenden Grundrechtseingriff aus. Zwar sei den beiden zuletzt genannten Konstellationen gemein, dass der sich erledigende Akt mit einer besonderen Grundrechtsrelevanz einhergegangen sei. Zwar dürfte unstreitig sein, dass die mit der ehemaligen Allgemeinverfügung verknüpften Eingriffe die Grundrechtssphäre des Einzelnen berührt hätten. Jedoch sei in Fällen eines anerkannten Rehabilitationsinteresses eine besondere, den Rechtsschutzsuchenden belastende stigmatisierende Wirkung des sich erledigenden Aktes notwendig, die auch noch fortdauere. Wollte man der erledigten Allgemeinverfügung eine nicht zu rechtfertigende Grundrechtsrelevanz zuschreiben, so dauere diese jedenfalls nicht mehr an. Die Allgemeinverfügung habe keinerlei belastende Wirkung für die Klägerin mehr. Schließlich sei auch nicht erkennbar, dass die erledigte Allgemeinverfügung ausgerechnet die Klägerin besonders betroffen und insoweit diskriminiert haben sollte. Auch ein allein aus der Erwägung eines möglichen schwerwiegenden Grundrechtseingriffs gefolgertes berechtigte Interesse i.S.d. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO sei nicht gegeben. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. April 1997 - 2 BvR 817/90 - belege, dass die Fallgruppe des schwerwiegenden Grundrechtseingriffs sehr eng auszulegen sei. Es müsse sich um Maßnahmen handeln, die ihrer Natur nach häufig vor möglicher gerichtlicher Überprüfung beendet sein würden. Daneben müsse die mögliche gerichtliche Entscheidung überhaupt geeignet sein, die Position der Klägerin zu verbessern. Der angegriffene Rechtsakt habe insbesondere die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) sowie die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) beschränkt. So reglementierte
Nr. 4 der Allgemeinverfügung das Verlassen der Wohnung; allerdings sei das Grundrecht keineswegs aufgehoben gewesen - bei Vorliegen eines triftigen Grundes sei das Verlassen weiterhin zulässig gewesen. Die Allgemeinverfügung sei auch mehrere Tage in Kraft gewesen und bilde keinen ich typischerweise vor Klageerhebung erledigenden Akt.
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Mit Schriftsatz vom … Juni 2020 zeigten die Bevollmächtigten der Klägerin deren Vertretung an und machten vertiefende Ausführungen zum Vorliegen des Feststellungsinteresses im Hinblick auf die konkrete Wiederholungsgefahr und in Bezug auf das Vorliegen eines tiefgreifenden Grundrechtseingriffs und zur Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung. Dass mittlerweile im Hinblick auf die streitgegenständlichen Regelungen nur mehr Verordnungen erlassen worden seien, schließe nicht aus, dass nicht auch wieder eine Allgemeinverfügung erlassen werde. Eine dahingehende konkrete Unterlassensäußerung des Beklagten sei bisher unterblieben. Die massiven Grundrechtseingriffe seien auch befristet gewesen, so dass sie sich erledigt hätten, bevor Rechtsschutz in der Hauptsache möglich gewesen sei. Zu etwaigen Amtshaftungsansprüchen und einem Rehabilitationsinteresse sei keine Erwiderung veranlasst, da diese Fallgruppen ausweislich des letzten Schriftsatzes der Klägerin nicht geltend gemacht worden sei.
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Mit Schreiben vom 25. Juni 2020 äußerte sich der Beklagte erneut dahingehend, dass keine konkrete Wiederholungsgefahr vorliege und ein tiefgreifender Grundrechtseingriff gerade bei der Klägerin nicht dargelegt worden sei. Im Übrigen sei der Klägerin Eilrechtsschutz gewährt worden.
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Mit weiterem Schriftsatz vom … Juni 2020 nahmen die Bevollmächtigten der Klägerin ergänzend Stellung zur Rechtslage und führten mit weiterem Schriftsatz vom … Juli 2020 aus, dass für die Bejahung eines tiefgreifenden Grundrechtseingriffs ausreichend sei, dass dieser objektiv gegeben sei. Dies sei bei einem Verbot, die Wohnung zu verlassen, unproblematisch der Fall. Im Übrigen sei keine weitere Stellungnahme veranlasst.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 4. September 2020 wiesen die Bevollmächtigten der Klägerin darauf hin, dass auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Frage, ob eine Allgemeinverfügung habe erlassen werden dürfen, unter die materielle und nicht unter die formelle Rechtmäßigkeit subsumiere (BayVGH, B.v. 13.08.2020 - 20 CS 20.1821 - juris Rn. 23).
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten M 26a K 20.1251 und M 26 S 20.1252 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist, soweit sie noch anhängig ist, unzulässig und war daher abzuweisen.
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1. Das Gericht konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden, weil die Klägerin mit Schreiben vom … April 2020 und der Beklagte mit Schreiben vom 4. Juni 2020 klar, eindeutig und vorbehaltlos auf mündliche Verhandlung verzichtet haben.
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2. Der Klägerin hat die Klage mit Schreiben vom … April 2020 auf die Ziffern 1, 4 und 5 der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung beschränkt und im Übrigen - hinsichtlich der Ziffern 2 und 3 der Allgemeinverfügung - den Rechtsstreit für erledigt erklärt. Mit Schreiben vom 4. Juni 2020 hat der Beklagte der Erledigungserklärung zugestimmt. Insoweit ist das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
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3. Die Klage ist, soweit sie noch anhängig ist, unzulässig, da ihr das besondere Fortsetzungsfeststellungsinteresse nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO fehlt.
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Gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO spricht das Gericht, wenn sich der Verwaltungsakt vor der gerichtlichen Entscheidung durch Zurücknahme oder anders erledigt hat, auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
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Mit dem Außerkrafttreten der Allgemeinverfügung vom 20. März 2020 haben sich die streitgegenständlichen Anordnungen nach Klageerhebung erledigt. Die Klägerin hat daraufhin die Anfechtungsklage auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage umgestellt und einen entsprechenden Antrag gestellt. Der Fortsetzungsfeststellungsklage fehlt es aber am berechtigten Fortsetzungsfeststellungsinteresse.
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Für das Feststellungsinteresse genügt grundsätzlich jedes schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art. Entscheidend ist, dass die gerichtliche Entscheidung geeignet ist, die Position des Klägers in den genannten Bereichen zu verbessern. Als Sachentscheidungsvoraussetzung muss das Fortsetzungsfeststellungsinteresse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorliegen (st. Rspr., z.B. BVerwG, U.v. 16.5.2013 - 8 C 14/12 - juris Rn. 20 m.w.N.). Dabei ist es Sache der Klagepartei, die Umstände darzulegen, aus denen sich ein Feststellungsinteresse ergibt (BVerwGE 53, 134 (137); Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 113 Rn. 110).
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3.1. Im vorliegenden Fall begründet die Klägerin ihr Feststellungsinteresse mit einer konkreten Wiederholungsgefahr. Das berechtigte Interesse wegen Wiederholungsgefahr setzt nicht nur die konkrete Gefahr voraus, dass künftig ein vergleichbarer Verwaltungsakt erlassen wird, sondern auch, dass die für die Beurteilung maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Umstände im Wesentlichen unverändert geblieben sind (BVerwG, U.v. 16.5.2013 - 8 C 14/12 - juris Rn. 21 m.w.N.).
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Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Es ist nicht hinreichend wahrscheinlich, dass der Beklagte unter im Wesentlichen gleichen Umständen künftig eine vergleichbare Regelung in Form der Allgemeinverfügung treffen wird. Sowohl die tatsächlichen als auch die rechtlichen Umstände haben sich wesentlich verändert.
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In tatsächlicher Hinsicht ist festzustellen, dass die Pandemie fortgeschritten und in eine neue Phase eingetreten ist, die mit der Situation im März 2020 nicht mehr vergleichbar ist. Die Bevölkerung ist größtenteils grundimmunisiert, sei es durch Impfung oder aufgrund durchgemachter Infektionen. Die vorherrschende Virusvariante Omikron führt zu weniger schwerwiegenden Krankheitsverläufen als die zu Beginn der Pandemie grassierenden Varianten und das Gesundheitswesen ist in geringerem Ausmaß belastet.
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Auch in rechtlicher Hinsicht sind die Umstände nicht mehr mit der Situation im März 2020 vergleichbar. Nach derzeit geltender Rechtslage ist nach § 28a Abs. 8 Satz 1
Nr. 1 IfSG i.d.F. durch Gesetz vom 18. März 2022 (BGBl. I S. 473) nach dem Ende einer durch den Deutschen Bundestag nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite die Anordnung von Ausgangsbeschränkungen ausgeschlossen. Der Bundestag hat die epidemische Lage von nationaler Tragweite über den 25. November 2021 hinaus nicht mehr verlängert; dass dies aktuell beabsichtigt ist, ist nicht ersichtlich. Im Übrigen stellt die rein potentiell aktivierbare gesetzliche Grundlage keine erforderliche konkrete Wiederholungsgefahr dar.
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Zudem sind nach § 32 Satz 1 IfSG die Landesregierungen ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28, 28a und 29 bis 31 IfSG maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Seit der 1. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (BayIfSMV) vom 27. März 2020, mithin seit mehr als zwei Jahren, sind Gebote und Verbote aufgrund dieser Rechtsgrundlage durchgehend im Wege der Verordnung und nicht mehr als Allgemeinverfügung erlassen worden. Dafür, dass sich der Beklagte nunmehr der Rechtsform der Allgemeinverfügung bedienen würde, bestehen keinerlei Anhaltspunkte.
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Im Hinblick auf die Ziffer 1 der Allgemeinverfügung kommt hinzu, dass es sich dabei nicht um einen Verwaltungsakt gehandelt hat, sondern lediglich um einen „programmatischen Appell im Sinne einer Präambel, die dem regelnden Teil (der Verordnung) vorangestellt ist“ bzw. „um eine - wenn auch nachdrückliche und dringliche - Empfehlung“ (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 30.03.2020 - 20 NE 20.632 - juris Rn. 50, 51 im Rahmen des nach § 47 Abs. 6 VwGO auf Aussetzung des Vollzugs der - zur streitgegenständlichen Allgemeinverfügung inhaltsgleichen - Bayerischen Verordnung über eine vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie vom 24. März 2020 gerichteten Eilverfahrens). Selbst wenn man darin einen Scheinverwaltungsakt sehen und gegen diesen die identischen Rechtsbehelfe wie gegen einen Verwaltungsakt für statthaft erachten sollte, besteht das alleinige Ziel der Beseitigung des Rechtsscheins nach Erledigung durch Außerkrafttretens der Allgemeinverfügung nicht mehr. Ein besonderes Feststellungsinteresse, dass der Appell bzw. die Empfehlung rechtswidrig gewesen sind, kommt aus diesem Grund von vornherein nicht in Betracht.
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3.2. Des Weiteren begründet die Klägerin das besondere Fortsetzungsfeststellungsinteresse mit dem Vorliegen tiefgreifender Grundrechtseingriffe.
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Das im Einzelnen umstrittene Feststellungsinteresse wegen eines tiefgreifenden Grundrechtseingriffs betrifft vor allem Fälle, in denen die Erledigung bereits vor Klageerhebung eintritt und beruht auf der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 19 Abs. 4 GG. Die Problematik betrifft die Grundsatzfrage, inwieweit Gesetzgeber und - bei gesetzlichem Auslegungsbedarf - Gerichte den Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz begrenzen dürfen. Dem BVerfG zufolge kommt es hierbei auf zwei Kriterien an: den Zeitablauf bis zur Erledigung und das Gewicht des Eingriffs. Danach verlangt Art. 19 Abs. 4 GG trotz fehlender aktueller Beschwer eine gerichtliche Kontrolle in der Hauptsache, wenn sich die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung im Klageverfahren kaum mehr erlangen kann. Die Entscheidungen des BVerfG beziehen sich jedoch nur auf Fälle „gewichtiger, allerdings in tatsächlicher Hinsicht überholter Grundrechtseingriffe.“ Ob diese Voraussetzungen vorliegen, hängt vom Streitgegenstand und den Einzelfallumständen ab. Gegebenenfalls muss der Betroffene vorläufigen Rechtsschutz in Anspruch nehmen, bei dem die Gerichte der besonderen Bedeutung der betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen haben. Durch diese Rechtsprechung wird die gerichtliche Überprüfung der Verwaltungstätigkeit auf Konstellationen ausgeweitet, in denen der „gewichtige“ Eingriff oder die Belastung nicht mehr fortwirkt und ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse den bislang anerkannten Fallgruppen zufolge (berechtigtes rechtliches, wirtschaftliches oder ideelles Interesse) nicht vorliegt (SchochKoVwGO/Riese, 41. EL Juli 2021, VwGO § 113 Rn. 141).
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Da es sich - wie oben bereits dargelegt - bei der Aussage in Ziffer 1 der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung, dass jeder angehalten werde, die physischen Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren und, wo immer möglich, ein Mindestabstand zwischen zwei Personen von 1,5 m einzuhalten ist, lediglich um einen programmatischen Appell bzw. um eine nachdrückliche und dringliche Empfehlung gehandelt hat, liegt darin bereits kein Eingriff, der ein besonderes Feststellungsinteresse nach dieser Fallgruppe begründen könnte.
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Im Hinblick auf die Ziffern 4 und 5 der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung, wonach das Verlassen der Wohnung nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt wurde, die beispielshaft („insbesondere“) in acht Unterpunkten aufgeführt wurden, kann vorliegend dahingestellt bleiben, ob es sich dabei um einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff gehandelt hat. Denn jedenfalls fehlt es an der Voraussetzung, dass die direkte Belastung durch den Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung kaum erlangen kann (vgl. BVerfG, B.v. 3.3.2004 - 1 BvR 461/03 - juris Rn. 28).
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So ist das Fortsetzungsfeststellungsinteresse aus diesem Grunde anzunehmen bei einer Klage gegen die Anordnung von Abschiebehaft (BVerfGE 104, 220, 232 ff.), Abhörmaßnahmen (BVerwGE 87, 23, 25 [Gründe stellen nur auf Rehabilitation ab]), Freiheitsbeschränkungen (BVerwGE 45, 51, 54), Hausdurchsuchungen (BVerwGE 28, 285 ff.; 47, 31, 33), Durchsuchung von Vereinsheimen (OVG Greifswald NordÖR 2015, 283 ff.), körperliche Durchsuchungen (OVG Münster NVwZ 1982, 46), Demonstrationsverbote (BVerfGE 110, 77; VGH München BayVBl 1983, 434, 435), Schließung einer künstlerischen Ausstellung (OVG Münster NVwZ 1993, 75 f.) sowie bei der (ausdrücklichen oder konkludenten) Anordnung von unmittelbaren Zwangsmaßnamen der Vollzugspolizei (Polizeiknüppel); nicht dagegen bei Klagen auf Löschung von Daten, die die Verfassungsschutzbehörde gespeichert hat (Teilnahme an Demonstrationen), vgl. NK-VwGO/Heinrich Amadeus Wolff, 5. Aufl. 2018, VwGO § 113 Rn. 282, 283.
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Vorliegend könnte man zwar den Eingriff durch die Ziffern 4 und 5 der streitgegenständlichen Allgemeinverfügung vom 20. März 2020 angesichts der Befristung bis zum Ablauf des 3. April 2020 formal dem Wortlaut nach als ein sich typischer Weise schnell erledigenden Eingriff ansehen. Ziel dieser vom Bundesverfassungsgericht entwickelten und über die Fallgruppen der konkreten Wiederholungsgefahr, der Präjudizialität für einen nicht offensichtlich aussichtslosen Schadensersatz- oder Entschädigungsprozess und zur Rehabilitierung bei einer über die Erledigung hinaus bestehenden diskriminierenden Wirkung des Verwaltungsaktes hinausgehende Fallgruppe ist jedoch, ausschließlich die Wahrung effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG abzusichern. Das Vorliegen dieser Zielgruppe ist daher allein daran zu messen, ob die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG gewahrt wurde.
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Dies ist vorliegend der Fall. Über den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 21. März 2020 hat das Gericht mit Beschluss vom 24. März 2020, mithin vor Ablauf der Geltungsdauer der Allgemeinverfügung bis einschließlich 3. April 2020, entschieden und diesem im Hinblick auf die hier noch streitgegenständlichen Ziffern 1, 4 und 5 der Allgemeinverfügung stattgegeben. Insofern verfängt das Argument, dass Rechtsschutz im Eilverfahren angesichts des gegenüber der Hauptsache nur eingeschränkten summarischen Prüfungsmaßstabs nach § 80 Abs. 5 VwGO keinen effektiven Rechtsschutz darstellt, vorliegend nicht. Der Beschluss vom 24. März 2020 kommt dem Begehren der Klägerin, an die (vorliegend noch) streitgegenständlichen Maßnahmen der Allgemeinverfügung nicht mehr gebunden zu sein, umfassend nach, womit das Gericht effektiven Rechtsschutz gewährt hat (vgl. insoweit auch BVerfG, B.v. 3.3.2004 - 1 BvR 461/03 - juris Rn 39, wonach dann, wenn die verbotene Versammlung auf Grund einer im Eilrechtsschutzverfahren wiederhergestellten aufschiebenden Wirkung des eingelegte Rechtsbehelfs wie geplant - wenn auch ggf. unter den Versammlungszweck nicht gefährdenden Modalitäten - durchgeführt werden konnte, insofern kein Feststellungsinteresse besteht).
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3.3. Da das geforderte besondere Fortsetzungsfeststellungsinteresse nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO für die Fortsetzungsfeststellungsklage nicht vorliegt, ist diese unzulässig und war daher abzuweisen.
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4. Die Kostenentscheidung ergibt sich hinsichtlich des übereinstimmend für erledigt erklärten Teils der Klage aus § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO; da die Klage insoweit - unabhängig vom Vorliegen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses - schon mangels Vorliegens der Klagebefugnis im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO unzulässig gewesen ist, entspricht es billigem Ermessen, der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Soweit die Klage abgewiesen wurde, ergibt sich die Kostenentscheidung aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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5. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.