Titel:
Unzulässige Klage eines Asyl-Folgeantragstellers aus Nigeria
Normenketten:
GG Art. 19 Abs. 4
VwGO § 82 Abs. 1 S. 1, § 102 Abs. 2, § 117 Abs. 2 Nr. 1, § 173 S. 1
AsylG § 10 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 7, § 77 Abs. 1 S. 1
ZPO § 130 Nr. 1
Leitsätze:
1. Eine nicht nur vorübergehende Aufgabe des Wohnsitzes durch einen Kläger ohne Mitteilung des aktuellen Aufenthalts an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder das Gericht nach § 10 Abs. 1 AsylG lässt den Schluss zu, dass der Kläger entweder in sein Heimatland zurückgereist ist oder die Bundesrepublik verlassen hat und somit das Rechtsschutzbegehren nicht mehr weiter verfolgen will oder untergetaucht ist, wodurch sein Rechtsschutzinteresse ebenfalls entfällt. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Fehlen einer ladungsfähigen Anschrift des Klägers stellt rein formal einen Verstoß gegen die zwingende Verfahrensvorschrift des § 82 Abs. 1 S. 1 VwGO dar und führt zur Unzulässigkeit der Klage.(Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Herkunftsland: Nigeria, Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis bei Unzustellbarkeit der Ladung und Fortzug nach unbekannt, Asyl-Folgeantrag, Nigeria, Rechtsschutzbedürfnis, Aufgabe des Wohnsitzes, Untertauchen, Belehrung, landungsfähige Anschrift, zwingende Verfahrensvorschrift, Unzustellbarkeit der Ladung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 1733
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt Rechtsschutz gegen einen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) hinsichtlich eines asylrechtlichen Folgeantrags.
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Der Kläger, nigerianischer Staatsangehöriger, dem Volk der Ibo angehörig und christlichen Glaubens, reiste am 20. Januar 2016 in das Bundesgebiet ein und stellte am 19. April 2016 einen Asylantrag.
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Dieser wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 8. Juni 2017, Az. …-232, vollumfänglich als einfach unbegründet abgelehnt. Es wurde festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen und die Abschiebung nach Nigeria angedroht. Eine gegen den Bescheid gerichtete Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 13 K 17. …) wurde mit Urteil vom 22. September 2020 abgewiesen. Ein Antrag auf Zulassung der Berufung wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 25. Januar 2021 (7 ZB 20. …) abgelehnt. Im Verfahren wurde insbesondere vorgetragen, dass er vom Vater seiner damaligen Freundin bedroht worden sei. In Nigeria habe er keine Verwandte. Der Kläger habe acht Jahre lang die Schule besucht und anschließend als Schuhmacher und Straßenmusiker gearbeitet.
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Gegenüber dem Bundesamt stellte der Kläger am 17. März 2021 einen Folgeantrag und machte zur Begründung insbesondere geltend, dass eine Rückkehr gegenwärtig sehr gefährlich sei. Die Geschichte aus dem ersten Verfahren sei echt und sei auch im Internet. Die Ablehnung des Asylantrags habe bei ihm viel Stress ausgelöst. Er habe schlaflose Nächte und dies beeinflusse seine Gesundheit.
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Der Asylantrag seiner Lebensgefährtin, … O, geb. am … … 1993 in Benin City, Nigeria, wurde durch Bescheid des Bundesamtes vom 19. März 2019 (Az. …-232) vollumfänglich als einfach unbegründet abgelehnt. Es wurde festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen und die Abschiebung nach Nigeria angedroht. Der Asylantrag seines Sohnes, … … O, geb. am … … 2019 in N …, Deutschland wurden durch Bescheid des Bundesamts vom 14. Februar 2020 (Az. …-232) ebenfalls vollumfänglich als einfach unbegründet abgelehnt. Es wurde festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen und die Abschiebung nach Nigeria angedroht. Die gegen die Bescheide gerichtete Klage wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 26. Oktober 2020 (6 K …) abgewiesen. Ein Antrag auf Zulassung der Berufung wurde durch Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. März 2021 (13 A …) abgelehnt. Im Verfahren wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass die Lebensgefährtin des Klägers und ihre Familie in Nigeria von der Familie eines verstorbenen Lebensgefährten bedroht worden sei. Die Lebensgefährtin des Klägers sei mit der Hilfe einer Schlepperin nach Europa ausgereist und habe sich prostituieren müssen. Sie und ihre Familie würden durch die Schlepperin bedroht. Die Bedrohung gelte auch dem Sohn des Klägers.
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Mit gegenständlichem Bescheid des Bundesamtes vom 19. März 2021 (Az. …-232), ausweislich der Postzustellungsurkunde zugestellt am 27. März 2021, wurde der Antrag als unzulässig abgelehnt (Nr. 1). Eine Abänderung hinsichtlich der Feststellung zu den Abschiebungsverboten wurde abgelehnt (Nr. 2). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht vorlägen. Es gebe keine Sachlagenänderung. Der Kläger habe keine neuen Gründe, sondern seine als unglaubhaft bewertete Verfolgungsgeschichte vorgetragen. Auch Wiederaufgreifensgründe hinsichtlich der Abschiebungsverbote seien nicht gegeben. Eine durch einen Akteur verursachte neue Gefahr sei nicht vorgetragen. Auch hinsichtlich der allgemeine humanitären Lage sei keine Änderung vorgetragen oder ersichtlich. Das gelte auch für die Auswirkungen der COVID 19-Pandemie. Es seien auch keine beachtlichen gesundheitlichen Gründe ausreichend vorgetragen.
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Gegen den Bescheid hat der Kläger am 8. April 2021 zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben und gleichzeitig die einstweilige Anordnung beantragt (M 13 E …), die Beklagte zu verpflichten, von einer Mitteilung an die Ausländerbehörde abzusehen. Zur Begründung wurde Bezug genommen auf die Angaben gegenüber dem Bundesamt. Des Weiteren wolle er nicht von seiner Frau und dem gemeinsamen Kind getrennt werden. Der Kläger wolle Kontakt zu seiner Frau und seinem Kind halten können. Es wurde eine Vaterschaftsanerkennung vorgelegt.
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1. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 19.03.2021, Az.: …-232, zugestellt am 27.03.2021, wird aufgehoben.
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2. Die Beklagte wird verpflichtet, das Asylverfahren durchzuführen (fortzuführen) und festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vorliegen.
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Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 13. April 2021
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Zur Begründung wurde auf den Bescheid Bezug genommen.
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Das Gericht hat am 19. Januar 2022 mündlich zur Sache verhandelt.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten in diesem Verfahren, im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (M 13 E …) sowie im Verfahren zum Erstantrag (M 13 K …), auf die vorgelegten Behördenakten sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 19. Januar 2022.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist bereits unzulässig und somit abzuweisen.
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Über die Klage konnte trotz Ausbleiben der Beteiligten verhandelt und entschieden werden, da sie ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf die Folge des Ausbleibens gem. § 102 Abs. 2 VwGO hingewiesen worden sind. Der Kläger hat die Ladung trotz Unzustellbarkeit gem. § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG gegen sich gelten zu lassen. Über die Mitteilungspflicht nach § 10 Abs. 1 AsylG und die Folgen wurde er ausweislich des sich bei der Behördenakte befindlichen Empfangsbekenntnisses vom 17. März 2021 schriftlich belehrt.
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I. Die Klage ist unzulässig.
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1. Es besteht kein schützenswertes Interesse an einer Sachentscheidung.
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Im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz setzt jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Sachentscheidung ein rechtsschutzwürdiges Interesse an dem angestrengten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren voraus; fehlt es daran, ist das prozessuale Begehren als unzulässig abzuweisen (vgl. BVerfG, B. v. 27.10.1998 - 2 BvR 2662/95 - juris Rn. 16). Das Rechtsschutzbedürfnis kann im Laufe des Gerichtsverfahrens entfallen, wobei davon im Einzelfall davon ausgegangen werden kann, wenn das Verhalten des Rechtsschutzsuchenden Anlass zur Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung des Gerichts nicht mehr gelegen ist (vgl. BVerfG a.a.O., Rn. 17). Für eine Abweisung des Rechtsschutzbegehrens als unzulässig mangels Rechtsschutzinteresse bedarf es dabei konkreter Anhaltspunkte, die den sicheren Schluss zulassen, dass den Beteiligten an einer Sachentscheidung des Gerichts in Wahrheit nicht mehr gelegen ist, soweit nicht die Beteiligten vorher auf die Zweifel am fortbestehenden Rechtsschutzinteresse hingewiesen wurden und ihnen Gelegenheit gegeben wurde, diese Zweifel auszuräumen (vgl. BVerfG, a.a.O. Rn. 19).
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Eine nicht nur vorübergehende Aufgabe des Wohnsitzes durch den Kläger ohne Mitteilung seines aktuellen Aufenthalts an die Beklagte oder das Gericht nach § 10 Abs. 1 AsylG lässt den Schluss zu, dass der Kläger entweder in sein Heimatland zurückgereist ist oder die Bundesrepublik verlassen hat und somit das Rechtsschutzbegehren gegen die Beklagte nicht mehr weiter verfolgen will oder untergetaucht ist, wodurch sein Rechtsschutzinteresse ebenfalls entfällt (vgl. BayVGH, B.v. 13.11.2018 - 15 B 18.32145 - juris Rn. 4 m.w.N.).
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Der Kläger hat trotz der erfolgten Belehrung gem. § 10 Abs. 7 AsylG seinen Anschriftswechsel nicht mitgeteilt und ist ausweislich des Auszugs aus dem Ausländerzentralregister vom 17. Januar 2022 nach unbekannt verzogen. Somit liegen zum Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) hinreichend konkrete Anhaltspunkte für ein nicht länger bestehendes schutzwürdiges Rechtsschutzinteresse vor.
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2. Überdies ist die Klage, davon unabhängig und selbstständig tragend, auch mangels ladungsfähiger Anschrift des Klägers unzulässig.
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Das Fehlen einer ladungsfähigen Anschrift stellt rein formal einen Verstoß gegen die zwingende Verfahrensvorschrift gemäß § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO dar, wonach dem Gericht die aktuelle ladungsfähige Anschrift eines Antragstellers bekannt gegeben werden muss (vgl. § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 130 Nr. 1 ZPO). Dass dies auch dann gilt, wenn zwar in der Klageschrift zunächst eine ladungsfähige Anschrift genannt wurde, die Wohnungsanschrift des Klägers jedoch im Laufe des Verfahrens unbekannt geworden ist, ergibt sich aus § 117 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und im Hinblick auf die im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung notwendigerweise im Urteil enthaltenen Angaben zur Wohnanschrift des jeweiligen Verfahrensbeteiligten. Die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift, unter der der Kläger tatsächlich zu erreichen ist, ist erforderlich, um ihn zu individualisieren und seine Erreichbarkeit für das Gericht sicherzustellen. Es soll dadurch darüber hinaus auch gewährleistet werden, dass der Kläger nach entscheidungserheblichen Tatsachen befragt werden und sich im Fall des Unterliegens seiner Kostentragungspflicht nicht entziehen kann (vgl. BayVGH, B. v. 13.11.2018 - 15 B 18.32145 - juris Rn. 5).
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Aufgrund des Fortzugs nach unbekannt und der Unerreichbarkeit des Klägers unter der in der Klage angegebenen Anschrift ist von einem Wechsel der ladungsfähigen Anschrift auszugehen, die dem Gericht nicht bekannt gegeben wurde. Somit liegt zum Entscheidungszeitpunkt ein Verstoß gegen eine zwingende Verfahrensvorschrift vor.
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II. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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III. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 VwGO.