Inhalt

VGH München, Urteil v. 22.06.2022 – 12 BV 20.1934
Titel:

Kostenerstattungsanspruch eines Jugendhilfeträgers nach dem Aufnahmegesetz

Normenketten:
BayAufnG Art. 7, Art. 8
SGB VIII § 42, § 89d
Leitsätze:
1. Entweicht ein in Obhut genommener unbegleiteter minderjähriger Ausländer aus einer Einrichtung und taucht er daraufhin unter, liegen die Voraussetzungen für eine weitere Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII nicht mehr vor, sodass der Jugendhilfeträger die Maßnahme beenden kann. (Rn. 40)
2. Das Fristenregime des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII für die Geltendmachung eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gilt ungeachtet der Einführung des Systems der vorläufigen Inobhutnahme von unbegleiteten minderjährigen Ausländern in §§ 42a ff. SGB VIII fort. Verwaltungsanweisungen, die den Fristbeginn auf die erstmalige Kenntniserlangung des Jugendhilfeträgers von der Einreise eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers verschieben, sind rechtswidrig und folglich außer Anwendung zu lassen. (Rn. 49 und 52)
3. Der Kostenerstattungsanspruch des Art. 7 Abs. 1 des Gesetzes über die Aufnahme und Unterbringung der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (Aufnahmegesetz - AufnG) setzt keinen Zusammenhang zwischen der Einreise eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers und der Gewährung von Jugendhilfe voraus. Es handelt sich insoweit um einen eigenständigen, nicht an § 89d Abs. 1 SGB VIII orientierten Erstattungsanspruch. (Rn. 43 und 47)
Schlagworte:
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Kostenerstattung für Jugendhilfemaßnahmen, Beendigung einer Jugendhilfemaßnahme bei Entweichen, Keine Geltung von Verwaltungsvereinbarungen contra legem, Kostenerstattung, Jugendhilfe, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Entweichen, Fristbeginn, Kenntnis, Verwaltungsvereinbarung, contra legem
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 25.06.2020 – AN 6 K 18.396
Fundstellen:
BayVBl 2023, 159
LSK 2022, 15809
BeckRS 2022, 15809

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Der Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 27.715,84 € festgesetzt.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten über die Erstattung der für Khader H.B. von der Klägerin im Zeitraum vom 17. März 2016 bis 20. September 2016 aufgewandten Jugendhilfekosten.
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1. Khader H.B., am ... 1998 in Somalia geboren, reiste am 18. September 2015 unbegleitet ins Bundesgebiet ein und wurde daraufhin vom Stadtjugendamt München sowie anschließend durch die Klägerin im Wege der Amtshilfe zunächst bis 29. November 2015 in Obhut genommen. Am 28. Oktober 2015 stellte er einen Asylantrag. Vom 30. November 2015 bis einschließlich 16. März 2016 war Khader unbekannten Aufenthalts. Nach eigenen Angaben hielt er sich während dieses Zeitraums - ohne dort Unterstützung erfahren zu haben - in Bremen auf. Nach seiner Rückkehr nach Nürnberg wurde er von der Klägerin vom 17. März 2016 bis 20. September 2016 erneut in Obhut genommen; ab dem 21. September 2016 erhielt er Hilfe für junge Volljährige.
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2. In der Folge beantragte die Klägerin beim Beklagten die Erstattung der aufgewendeten Jugendhilfekosten nach Art. 7 Abs. 1, Art. 8 des Gesetzes über die Aufnahme und Unterbringung der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (Aufnahmegesetz - AufnG) über ein EDVgestütztes, quartalsweises Sammelanmeldeverfahren, wonach zeitnah nach Quartalsende alle als „Erstattungsfälle nach AufnG“ gekennzeichneten Jugendhilfefälle im Wege eines Erstanschreibens „in Rohform“ dem Beklagten übermittelt wurden, insbesondere um die Frist des § 12 Abs. 4 der Verordnung zur Durchführung des Asylgesetzes, des Asylbewerberleistungsgesetzes, des Aufnahmegesetzes und des § 12a des Aufenthaltsgesetzes (Asyldurchführungsverordnung - DVAsyl) zu wahren, gefolgt von weiteren abschließenden Quartalsabrechnungen. Im Rahmen dieses Systems machte die Klägerin mit Schreiben vom 5. September 2016, 26. Oktober 2016, 7. Dezember 2016, 18. Juli 2017, 27. November 2017, 6. Dezember 2017 und 7. Dezember 2017 beim Beklagten quartalsweise Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1, Art. 8 AufnG für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge geltend, darunter auch für Khader H.B..
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3. Mit Sammelbescheid vom 31. Januar 2018 lehnte die Regierung von Mittelfranken die Erstattung der Jugendhilfekosten u.a. für Khader H.B. (Nr. 11 des Sammelbescheids) ab. Hinsichtlich der in Listenform übermittelten Daten zu den einzelnen Erstattungsfällen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Art. 7, 8 AufnG sei eine Entscheidung zur Kostenerstattung dem Grunde nach „unter Berücksichtigung der geänderten Rechtsauslegung“ von Art. 7 Abs. 1 AufnG getroffen worden, die sich auf die der Klägerin bekannten Entscheidungen der „Arbeitsgruppe Kostenerstattungsverfahren“ bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern am Zentrum Bayern Familie und Soziales - Bayerisches Landesjugendamt (ZFBS), auf die Weisungslage des Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration (StMAS, Referat V 4), die „Punktuation“ vom 9. Dezember 2015 und die Auslegungshilfe vom 14. April 2016 des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) für den Rechtsbereich der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher stütze. Den vorgenannten Entscheidungen und Weisungen nach erfordere die Kostenerstattung insbesondere einen direkten Bezug der gewährten Jugendhilfe zur Einreise. Maßgebend sei die Entscheidung des Jugendamts bei erstmaliger Kenntnis des Aufenthalts eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers nach der Einreise. Ferner müsse in diesem Zusammenhang beachtet werden, dass die subsidiäre Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1, Art. 8 AufnG im „Hauptanwendungsfall“ seit jeher dafür konzipiert gewesen sei, im Falle der unverschuldeten Versäumung der Monatsfrist des § 89d Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) ab dem Zeitpunkt der Einreise dennoch eine Erstattung für die betroffenen Kommunen vom Freistaat Bayern zu ermöglichen, soweit der vom Bundesverwaltungsamt bestimmte Träger seinerseits die Zahlung berechtigt nach § 89d SGB VIII verweigert habe, weil die Kenntnis des Jugendamts erst nach Monatsfrist ab Einreise erfolgt sei. Als Beginn der Monatsfrist in § 89d Abs. 1 SGB VIII „gelte“ seit dem 1. Juni 2015 die erstmalige Kenntnis des zuständigen Jugendamts von der Einreise. Infolge der grundlegenden Gesetzesänderung im Achten Buch Sozialgesetzbuch zum 1. November 2015 finde diese Rechtsauslegung für den Zeitraum vom 1. Juni 2015 bis 31. Oktober 2015 Bestätigung durch Nr. 3 der „Punktuation“ des BMFSFJ, für den Zeitraum seit 1. November 2015 entsprechend Nr. 4 der „Punktuation“ des BMFSFJ sowie durch die vom StMAS genehmigte Niederschrift zu den Entscheidungen der 4. Sitzung der Arbeitsgruppe Kostenerstattungsverfahren bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern am ZBSF. Die Definition des Tatbestandsmerkmals „unbegleitet“ sei in Nr. 2.1 dieser Niederschrift der Arbeitsgruppe am ZBFS entsprechend der Auslegungshilfe des BMFSFJ vom 14. April 2016 Nrn. 1 bis 3 einheitlich angeglichen worden. Ein nachträgliches „unbegleitet werden“ sei gemäß den kostenerstattungsrechtlichen Normen des Art. 7 Abs. 1 AufnG nicht möglich. Das diesbezüglich noch anderslautende AMS vom 6. Februar 2006 besitze insoweit keine Geltung mehr. Infolge der für die betroffenen Jugendämter positiven „Änderungen“ zum Beginn der Monatsfrist des § 89d SGB VIII (mit Kenntniserlangung statt Einreisezeitpunkt) bestehe für Art. 7 Abs. 1 AufnG entsprechend den Ausführungen des StMAS weder ein Anwendungsbereich noch Bedarf. Inzwischen sei Art. 7 Abs. 1 AufnG für Altfälle geschlossen worden, indem Kosten, die ab dem 1. Januar 2018 anfallen, nach Art. 10 Abs. 2 Satz 1 AufnG nicht mehr erstattungsfähig seien.
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Ausgehend hiervon sei im Falle von Khader H.B. eine Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1 AufnG bereits dem Grunde nach ausgeschlossen. Khader verfüge aktuell über eine Aufenthaltsgestattung. Nach der Einreise am 18. September 2015 sei umgehend „Kenntnisnahme und Inobhutnahme durch das Jugendamt der Stadt Nürnberg“ bis 29. November 2015 erfolgt. Für diesen Zeitraum sei Kostenerstattung nach § 89d SGB VIII geleistet worden. Anschließend sei die Jugendhilfe bis 16. März 2016 unterbrochen worden. Die ab 17. März 2016 erneut erfolgte Inobhutnahme stehe in keinem hinreichenden Zusammenhang mehr zur Einreise des Jugendlichen. Demnach könne Kostenerstattung nach Art. 7 AufnG für den Zeitraum ab 17. März 2016 nicht erfolgen.
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4. Der daraufhin von der Klägerin erhobenen Klage gab das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 25. Juni 2020 in vollem Umfang statt.
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4.1 Grundlage des geltend gemachten Kostenerstattungsanspruchs bilde Art. 7 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1 Satz 1 AufnG. Nach Art. 7 Abs. 1 AufnG sei der Freistaat Bayern den Trägern der Jugendhilfe erstattungspflichtig, soweit unbegleitete minderjährige Personen im Sinne von Art. 1 AufnG Anspruch auf Jugendhilfeleistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch besäßen. Diese Erstattungspflicht bestehe nach Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG nur subsidiär gegenüber der Erstattungspflicht nach § 89d Abs. 1 SGB VIII. Im vorliegenden Fall könne die Klägerin nicht auf eine vorrangige Kostenerstattung nach § 89d Abs. 1 SGB VIII verwiesen werden, da die Gewährung von Jugendhilfe mehr als drei Monate unterbrochen gewesen sei, was nach § 89d Abs. 4 SGB VIII zum Entfallen des Kostenerstattungsanspruchs geführt habe. Weiterhin sei Khader H.B. während des streitgegenständlichen Zeitraums der Gewährung von Jugendhilfe minderjährig gewesen, er habe sich im Asylverfahren befunden und sei damit nach § 1 AsylbLG leistungsberechtigt gewesen. Khader H.B. sei auch als unbegleiteter Minderjähriger im Sinne von Art. 7 Abs. 1 AufnG anzusehen, da er ohne Begleitung eines Personensorge- oder Erziehungsberechtigten am 18. September 2015 in die Bundesrepublik eingereist sei. Eine Familienzusammenführung habe mangels in Deutschland aufhältiger Verwandten nicht stattgefunden.
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4.2 Die Unterbrechung der Jugendhilfegewährung von etwas mehr als drei Monaten stehe der Geltendmachung des Kostenerstattungsanspruchs aus Art. 7 Abs. 1 AufnG nicht entgegen. Die Anspruchsnorm setze keinen Zusammenhang zwischen der Einreise, dem Unbegleitetsein und der Jugendhilfegewährung voraus. Die Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1 AufnG erfolge vielmehr auch dann, wenn der Begünstigte erst nach der Einreise unbegleitet wird (nachträgliche Unbegleitetheit), wenn die Jugendhilfemaßnahme später als einen Monat nach der Einreise beginnt oder wenn die Jugendhilfe für einen zusammenhängenden Zeitraum von mehr als drei Monaten unterbrochen gewesen ist. Das Erfordernis eines Zusammenhangs zwischen Einreise, Jugendhilfegewährung und Unbegleitetheit könne Art. 7 Abs. 1 AufnG nicht entnommen werden. Es folge weder aus dem Wortlaut der Vorschrift, noch aus der Systematik und dem systematischen Vergleich des Kostenerstattungsrechts im Bericht der Kinder- und Jugendhilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, der Entstehungsgeschichte der Norm und dem Zweck dieser Vorschrift.
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4.2.1 Der Wortlaut von Art. 7 und Art. 8 AufnG biete keinen Anhaltspunkt für das Erfordernis eines Zusammenhangs zwischen unbegleiteter Einreise und Jugendhilfegewährung. Art. 7 Abs. 1 AufnG knüpfe die Anspruchsberechtigung lediglich an die Gewährung von Jugendhilfe an unbegleitete minderjährige Personen. Seien diese nach Art. 1 AufnG und § 1 AsylbLG leistungsberechtigt und besäßen sie einen Anspruch auf Kinder- und Jugendhilfeleistungen, könne der Jugendhilfeträger Kostenerstattung verlangen. An die „Einreise“ knüpfe die Vorschrift hingegen nicht an. Auch der Wortlaut von Art. 8 AufnG, der die Höhe des Kostenerstattungsanspruchs regle, biete keinen Anhaltspunkt für eine einschränkende Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG. Dass ein Kostenerstattungsanspruch durch eine längere Unterbrechung einer Jugendhilfemaßnahme, durch einen späteren Beginn oder durch ein zwischenzeitliches „Begleitetwerden“ des Jugendlichen ausgeschlossen sein könnte, ergebe sich aus Art. 7 und Art. 8 AufnG nicht andeutungsweise.
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4.2.2 Auch der systematische Vergleich spreche gegen eine einschränkende Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG. Erfordere eine bestimmte Jugendhilfemaßnahme einen Bezug zur Einreise, regelten dies die einschlägigen Vorschriften des Kinder- und Jugendhilferechts ausdrücklich. So spreche § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII explizit von einem ausländischen Kind oder Jugendlichen, der „unbegleitet nach Deutschland kommt“. Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII werde auf die „unbegleitete Einreise nach Deutschland“ abgestellt, ebenso in § 42a Abs. 1 Satz 2 HS 2 SGB VIII auf die „Einreise“. Zudem seien die Fälle der Unterbrechung der Jugendhilfeleistung und des Beginns mehr als einen Monat nach der Einreise in § 89d Abs. 1 Nr. 1 bzw. § 89d Abs. 3 SGB VIII für den Kostenerstattungsanspruch ausdrücklich geregelt. Fehlen daher derartige Bezüge zur Einreise in Art. 7 Abs. 1 AufnG, könne dies nur so verstanden werden, dass ein Bezug zur unbegleiteten Einreise, der sich in einem baldigen Beginn der Jugendhilfemaßnahme oder ihrer höchstens kurz unterbrochenen Dauer zeige, gerade keine Voraussetzung der Kostenerstattung bilde. Auch Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG spreche nicht dafür, die höchst unterschiedlich formulierten Kostenerstattungsvorschriften des § 89d SGB VIII und des Art. 7 Abs. 1 AufnG gleich zu verstehen. Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG bringe lediglich zum Ausdruck, dass die Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1 AufnG gegenüber derjenigen aus § 89d SGB VIII nachrangig sei. Dass die Anspruchsvoraussetzungen der derart nachrangigen Erstattungsnorm zugunsten des Jugendhilfeträgers großzügiger ausfallen, erweise sich bei Vorliegen eines Vorrangverhältnisses nicht als systemwidrig.
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4.2.3 Auch Entstehungsgeschichte und Zweck von Art. 7 Abs. 1 AufnG sprächen gegen das Erfordernis eines Zusammenhangs zwischen Einreise, Unbegleitetsein und Jugendhilfegewährung als Tatbestandsvoraussetzung des Erstattungsanspruchs. So habe der Entwurf der Neufassung des Aufnahmegesetzes von 2002 im Hinblick auf die Kosten für unbegleitete Minderjährige ausgeführt, dass, um auch in diesem Bereich eine konsequente Regelung zu schaffen, die Erstattung der Kosten der Kinder- und Jugendhilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nicht nur wie bisher bei asylsuchenden Personen, sondern bei allen unbegleiteten Minderjährigen, die zu den Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz rechneten, erfolgen solle. Demgegenüber lässt sich aus dem Gesetzentwurf weder ein besonderer Bezug der Jugendhilfemaßnahme zur Einreise noch die Absicht des Gesetzgebers entnehmen, einen Gleichlauf mit § 89d SGB VIII herzustellen.
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Die Begründung des Entwurfs des Gesetzes zur Ausführung des Berufsbildungsgesetzes und des Aufnahmegesetzes vom 15. Mai 2012, durch das mit Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG die Regelung zur Bestimmung des Verhältnisses von bundes- und landesrechtlicher Kostenerstattungsregelung neu aufgenommen wurde, beschreibe die Anspruchsgrundlagen des § 89d SGB VIII und des Art. 7 Abs. 1 AufnG als zwei nebeneinander stehende Kostenerstattungsverfahren, die unterschiedliche Voraussetzungen besäßen, sich dabei aber teilweise überschneiden würden. Die Gesetzesänderung bezwecke - als Reaktion auf eine entgegengesetzte Entscheidung des Verwaltungsgerichts Bayreuth - eine Klarstellung des Rangverhältnisses der Kostenträger, um eine Schlechterstellung Bayerns im bundesweiten Belastungsausgleich zu vermeiden. Dass mit der Gesetzesänderung zugleich eine Synchronisierung der Erstattungsnormen bzw. die Herstellung eines Bezugs zur Einreise des unbegleiteten Minderjährigen beabsichtigt gewesen sei, lasse sich den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen.
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Allein im Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze vom 21.2.2017 werde ausgeführt, dass mit den geplanten Änderungen auch eine Harmonisierung der Kostenerstattung nach § 89d Abs. 1 SGB VIII mit dem bisherigen Art. 7 Abs. 1 AufnG verbunden sei, was zu einer erheblichen Verwaltungsvereinfachung und Entbürokratisierung führen solle. Wortlaut und wesentlicher Inhalt des Änderungsgesetzes beabsichtigten indes keine völlige Harmonisierung aller Anspruchsvoraussetzungen. Die wesentliche Änderung sollte vielmehr in der Unabhängigkeit der landesrechtlichen Kostenerstattung vom Aufenthaltsstatus der minderjährigen Person liegen. Weiter werde in der Gesetzesbegründung darauf hingewiesen, dass häufiger Anwendungsfall der subsidiären Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1 AufnG das unverschuldete Versäumnis der Antragsfrist des § 89d Abs. 1 SGB VIII sei. Dies lasse den Schluss zu, dass die Voraussetzungen der beiden Kostenerstattungsnormen gerade nicht gleichlaufen sollten, solange Art. 7 Abs. 1 AufnG übergangsweise noch anzuwenden sei. Weiter ergebe sich daraus, dass das Verstreichenlassen der Monatsfrist nur einen häufigen, nicht hingegen den einzige Anwendungsfall des Art. 7 Abs. 1 AufnG bilden sollte.
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4.2.4 Zu keinem anderen Ergebnis führten die vom Beklagten vorgelegten Auslegungshinweise des BMFSFJ, die Ergebnisse der „Arbeitsgruppe Kostenerstattungsverfahren bei unbegleiteten Minderjährigen“ und die Ergebnisse der sog. „Punktuation“. Das Verwaltungsgericht sei an die in dieser Form niedergelegte Auffassung der Verwaltung zur Handhabung der Kostenerstattungsregelungen nicht gebunden.
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4.3 Der Erstattungsanspruch der Klägerin sei auch in der geltend gemachten Höhe entstanden. Nach Art. 8 Abs. 1 Satz 1 AufnG erstatte der Staat den Landkreisen und kreisfreien Gemeinden die unter Beachtung der Grundsätze der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit notwendigen Kosten der für Personen im Sinne von Art. 7 AufnG erbrachten Leistungen. Die geltend gemachten Kosten seien der Höhe nach unstreitig im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfegewährung entstanden. Der ebenfalls geltend gemachte Zinsanspruch ergebe sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB analog.
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4.4 Da der vorliegenden Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukomme und bei dem erkennenden Gericht eine größere Zahl ähnlich gelagerter Rechtsstreitigkeiten anhängig sei, sei nach § 124a Abs. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO die Berufung zuzulassen gewesen.
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5. Gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil hat der Beklagte, vertreten durch die Regierung von Mittelfranken, mit Schriftsatz vom 19. August 2020 die zugelassene Berufung eingelegt.
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5.1 Zur Begründung wird zunächst vorgetragen, die tatbestandlichen Voraussetzungen des Erstattungsanspruchs nach Art. 7 Abs. 1 AufnG lägen bereits deshalb nicht vor, weil eine Unterbrechung der Jugendhilfeleistung an Khader H.B. für mehr als drei Monate nach § 89d Abs. 4 SGB VIII nicht vorgelegen habe, sodass Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG eingreife und der Anspruch aus Art. 7 Abs. 1 AufnG hinter dem Erstattungsanspruch nach § 89d SGB VIII als subsidiär zurücktrete. Khader H.B. sei seit der Inobhutnahme im September 2015 ununterbrochen Jugendhilfe zu gewähren gewesen. In Anlehnung an § 108 Abs. 4 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) regele § 89d Abs. 4 SGB VIII, dass die Kostenerstattungspflicht nach § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erst dann ende, wenn die Notwendigkeit der Gewährung von Jugendhilfe entfallen sei. Dabei sei nicht entscheidend, dass für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten Jugendhilfe tatsächlich nicht gewährt wurde, sondern allein, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine Hilfegewähr nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch objektiv nicht vorgelegen hätten.
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Nachdem der aus der Inobhutnahme entwichene Khader H.B. sich nach eigenen Angaben in Bremen aufgehalten habe, ohne dass ihm dort Hilfeleistungen gewährt worden seien, habe auch während der Zeit der Abgängigkeit weiterhin ein Jugendhilfebedarf bestanden, der im Wege der Inobhutnahme zu befriedigen gewesen wäre. Der Anspruch auf Jugendhilfe sei daher bis zur erneuten Inobhutnahme durch die Klägerin objektiv nicht entfallen, sodass die Kostenerstattungspflicht nach § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII durch das Untertauchen Khaders nicht geendet habe. Folglich greife die Vorrangregelung des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG ein, die einen Erstattungsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 AufnG ausschließe.
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5.2 Ungeachtet dessen lägen auch die Voraussetzungen des Erstattungsanspruchs nach Art. 7 Abs. 1 AufnG nicht vor. Es fehle an der Fortdauer der Beziehung zwischen Ersteinreise, Unbegleitetheit und Jugendhilfegewährung im Sinne der kostenerstattungsrechtlichen Normen des § 89d SGB VIII und Art. 7 AufnG. Die erneute Inobhutnahme von Khader H.B. am 17. März 2016 fuße nicht auf dessen unbegleiteter Einreise ins Bundesgebiet, da er sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Inland aufgehalten habe, und sei deshalb über die allgemeinen Kostenerstattungsregelungen nach den §§ 89 ff. SGB VIII zu regeln, wie dies auch für sonstige Jugendliche ohne Einreisebezug und ohne Rücksicht auf deren Nationalität erfolge.
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Eine Kostenerstattung über Art. 7 AufnG komme vorliegend nicht in Betracht, da es sich bei der erneuten Inobhutnahme am 17. März 2016 nicht mehr um einen Fall unbegleiteter Einreise gehandelt habe, da sich Khader H.B. zu diesem Zeitpunkt bereits im Inland aufgehalten habe. Dies folge aus TOP 3.3.5 des Protokolls der 5. Sitzung der Arbeitsgruppe „Kostenerstattungsverfahren bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern“ vom 6. April 2017, an der auch ein Vertreter der Klägerin teilgenommen habe. Insoweit sei, auch wenn es sich nicht um die Umsetzung der jugendhilferechtlichen Vorschriften nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch handle, sondern auf sekundärer Ebene um eine rein innerbayerische Kostenerstattungsregelung, die vom Normgeber der Art. 7 und 8 AufnG gewollte Harmonisierung der Auslegung der tatbestandlichen Voraussetzungen zwischen § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII in Verbindung mit § 89d Abs. 1, Abs. 4 SGB VIII einerseits und Art. 7 Abs. 1 AufnG andererseits zu berücksichtigen. Art. 7, 8 AufnG sei einerseits weiter, andererseits auch wieder enger als § 89d SGB VIII gefasst. Die zwischen diesen Normen bestehende Schnittmenge habe zur Normierung des Vorrangs der bundesrechtlichen Regelung des § 89d SGB VIII in Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG geführt. Bei Art. 7 AufnG handle es sich mithin um einen rein subsidiären landesrechtlichen Annex zur Bundesregelung.
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Weiter sei in den Vollzugsvorschriften des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales vom 6.2.2006 (Gz. V 5/6551-40/1/05) geregelt worden, dass Unbegleitetheit im Sinne von Art. 7 AufnG dann vorliege, wenn der Minderjährige ohne Begleitung nach Deutschland eingereist sei und hier auch keine Verwandten lebten, denen die Personensorgeberechtigung übertragen werden könnte. Unbegleitet sei weiterhin auch derjenige Minderjährige, dessen Eltern die Sorgeberechtigung entzogen und ein Ergänzungspfleger bestellt worden sei. Dieses Rundschreiben habe nur bis zum 31. Dezember 2008 gegolten, sei aber durch den Beklagten mangels anderer Regelungen unter dem Vorbehalt neuer Vorgaben auch über diesen Termin hinaus angewandt worden.
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Wie sich anhand der Gesetzesnovellierung von Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG im Jahr 2012 sowie durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze und des Aufnahmegesetzes vom 5. Dezember 2017 zeige, habe der bayerische Gesetzgeber stets das bundeseinheitliche Verfahren im Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen im Blick gehabt und habe er dieses Verfahren als Maßstab angesehen. Mit der Neuregelung des bundesweiten Verteilverfahrens für unbegleitete Minderjährige nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch zum 1. November 2015 und den sich hieraus ergebenden „systemimmanenten Veränderungen“ habe sich neben der zuständigen Bundesbehörde das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales zu einer „Neubewertung“ und „Angleichung der bisherigen Gesetzesauslegung“ an die neuen materiell-rechtlichen Gegebenheiten veranlasst gesehen. Durch die Einführung des bundesweiten Verteilverfahrens unbegleiteter minderjähriger Ausländer sei der ursprüngliche Schutzzweck des § 89d SGB VIII, nämlich die Entlastung der Einrichtungsorte von den Kosten der Jugendhilfe, weggefallen. Ohne dass es neben dem Wegfall des Absatzes 3 einer Änderung des Gesetzeswortlauts des § 89d SGB VIII bedurft hätte, habe sich durch das neu eingeführte Verteilverfahren nach § 42b SGB VIII auch die Auslegung der Kostenerstattungsnorm des § 89d SGB VIII verändert. Dies habe das Bundesfamilienministerium zum Anlass genommen, die Intention des Bundesgesetzgebers durch Auslegungshinweise näher darzustellen. In den sog. „FAQ“ vom 14. April 2016 werde erläutert, dass nur ein Minderjähriger, der bei seiner Einreise nach Deutschland unbegleitet gewesen sei, als unbegleitet gelte und unter das neue Verteilverfahren falle. Dieser Rechtsauslegung habe sich auch das Staatsministerium in der 4. Sitzung der Arbeitsgruppe „Kostenerstattungsverfahren bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern“ vom 27. Juli 2016 für den Bereich des Art. 7 AufnG angeschlossen und dabei ausdrücklich die früheren Anwendungshinweise vom 6.2.2006 für nicht mehr anwendbar erklärt, da sie der seit dem 1. November 2015 geltenden Rechtslage nicht mehr entsprächen.
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Den Hauptanwendungsfall für den subsidiären Kostenerstattungsanspruch nach Art. 7 AufnG hätten in der Vergangenheit diejenigen Fälle gebildet, in denen der Kostenträger im bis zum 31. Oktober 2015 geltenden bundesweiten Kostenerstattungsverfahren die Kostenerstattung verweigert hatte, weil das Jugendamt die Frist des § 89d SGB VIII schuldlos nicht eingehalten habe. Mit der Abschaffung des bundesweiten Erstattungssystems und dem durch die Auslegungshinweise des Bundesfamilienministeriums bestätigten „Wegfall der starren Monatsfrist des § 89d SGB VIII“ gäbe es diese Anwendungsfälle nicht mehr und bestehe mithin für die Kostenerstattung nach Art. 7 AufnG „kein Bedarf“. Durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze und des Aufnahmegesetzes sei daher folgerichtig auch der Anwendungsbereich des Art. 7 AufnG zunächst weiter eingeschränkt worden und werde mit Wirkung zum 31. Oktober 2022 ganz entfallen.
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Entgegen der Auffassung der Klägerin und des Verwaltungsgerichts lasse sich weder der Gesetzesbegründung der ursprünglichen Fassung des Art. 7 AufnG vom 1. Juli 2002 noch der geänderten Fassung vom 1. November 2012 eine Aussage dahingehend entnehmen, dass ausländische Minderjährige, die über einen längeren Zeitraum ohne Jugendhilfe zugebracht haben, nach erneuter Feststellung eines Jugendhilfebedarfs in den Anwendungsbereich des Art. 7 AufnG fallen sollten. Sowohl dem Bundesgesetzgeber bei § 89d SGB VIII wie auch dem bayerischen Gesetzgeber bei Art. 7 AufnG sei es um den Schutz der Einreiseorte vor einer unverhältnismäßigen Belastung mit Jugendhilfekosten gegangen. Dieser Schutzgedanke entfalle jedoch, wenn nicht im konkreten Zusammenhang mit der Einreise ein jugendhilferechtlicher Bedarf festgestellt werde. Folglich würden weder § 89d SGB VIII noch Art. 7 AufnG eingreifen, wenn für einen zusammenhängenden Zeitraum von drei Monaten weder Leistungen der Jugendhilfe noch andere Aufgaben der Jugendhilfe erbracht worden seien, selbst wenn später erneut ein Jugendhilfebedarf aufgetreten wäre. Das subsidiäre innerbayerische Kostenerstattungsverfahren nach Art. 7 AufnG sei historisch, systematisch und teleologisch stets mit dem bundeseinheitlichen Verteilungsverfahren und der Kostenerstattung nach § 89d SGB VIII verknüpft gewesen. Habe eine Gesetzesänderung im Achten Buch Sozialgesetzbuch eine „Anpassung der Auslegung der Normen des SGB VIII erforderlich“ gemacht, würde auch bei der Anwendung des Aufnahmegesetzes „eine teleologische und systematische Anpassung der Auslegung der jeweils betroffenen Rechtsnormen im Lichte der geänderten Bundesgesetze notwendig“. Die unmittelbare Verknüpfung zwischen den tatbestandlichen Anwendungsbereichen des § 89d SGB VIII und Art. 7 AufnG und die gesetzgeberisch gewollte Harmonisierung beider Normen werde auch in der Begründung des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze und des Aufnahmegesetzes noch einmal deutlich hervorgehoben. Komme eine Kostenerstattung nach § 89d SGB VIII nur für ausländische Minderjährige in Betracht, die bei ihrer Einreise unbegleitet gewesen und durchgehend unbegleitet geblieben seien und für die Jugendhilfe ohne eine längere Unterbrechung als drei Monate geleistet worden sei, so sei auch im Rahmen der Anwendung von Art. 7 Abs. 1 AufnG maßgeblich auf diese gleichsam ununterbrochene Unbegleitetheit und Gewährung von Jugendhilfe abzustellen.
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Das Verwaltungsgericht verkenne ebenso wie die Klägerin bei der Auslegung von Art. 7 AufnG die Bedeutung der seit Entstehung der Erstattungsnorm vollzogenen tiefgreifenden Gesetzesänderungen im materiell-rechtlichen Bezugssystem dieser Norm sowohl auf bundes- als auch auf landesrechtlicher Ebene, die die ursprünglich gegebene Schutzwürdigkeit der grenznahen örtlichen Träger der Jugendhilfe aufgrund der besonderen Konstellation der Fürsorge für unbegleitete Minderjährige habe entfallen lassen. Sowohl im Rahmen der historisch-genetischen als auch der systematischen Interpretation von Art. 7 AufnG sei im Zusammenhang mit der aktuellen Gesetzeslage eine restriktive Auslegung des sich aus dem allgemeinen Sprachgebrauch ergebenden Wortsinns vorzunehmen. Nur so werde dem „Prinzip der inneren Kohärenz“ genügt.
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Der Beklagte beantragt daher,
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das Urteil vom 25.6.2020 dahingehend abzuändern, dass die Klage abgewiesen wird.
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6. Demgegenüber beantragt die Klägerin,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung. Unzutreffend gehe der Beklagte davon aus, dass die Kostenerstattungspflicht nicht nach § 89d Abs. 4 SGB VIII entfallen sei. Ausweislich der Jugendamtsakte sei die Inobhutnahme mit dem Entweichen von Khader H.B. am 29. November 2015 beendet worden. In Fällen des Entweichens des Jugendlichen aus der Einrichtung sei anerkannt, dass in diesen Fällen die Inobhutnahme formell für beendet zu erklären sei. Mangels weiterer Kenntnis des Aufenthalts und vor allem mangels der Mitwirkung des Betroffenen sei die Gewährung weiterer Jugendhilfeleistungen ausgeschlossen. Daher liege im vorliegenden Fall eine Unterbrechung der Jugendhilfegewährung von mehr als drei Monaten im Sinne von § 89d Abs. 4 SGB VIII vor, sodass der Anwendungsbereich des Art. 7 AufnG eröffnet sei.
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Entgegen der Auffassung des Beklagten komme es im Anwendungsbereich des Art. 7 AufnG nicht auf einen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Einreise des unbegleiteten Minderjährigen und der Gewährung von Jugendhilfeleistungen an. Art. 7 AufnG stehe vielmehr unabhängig neben § 89d SGB VIII und habe eigene Tatbestandsvoraussetzungen, die vorliegend alle gegeben seien. Sofern der Beklagte die Auffassung vertrete, bei der Gewährung von Jugendhilfeleistungen ab dem 17. März 2016 sei Khader H.B. nicht mehr als „unbegleitet“ anzusehen gewesen, stehe dem schon der Wortlaut des Art. 7 AufnG entgegen. Die Vorschrift enthalte keine Regelung dahingehend, wann die Unbegleitetheit vorliegen müsse. Das Postulat eines zeitlichen Zusammenhangs zwischen Einreise und Unbegleitetheit lasse sich auch nicht der Gesetzesbegründung entnehmen. Das dort formulierte Ziel der Entlastung des kommunalen Bereichs wie auch der Verwaltungsvereinfachung lasse sich nicht dadurch erreichen, dass in die Norm ungeschriebene Tatbestandsmerkmale hineingelesen würden, die im Ergebnis dazu führten, den Anwendungsbereich der Norm im Bereich der Leistungen nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch stark einzuschränken. Art. 7 sei gerade vor dem Hintergrund in das Aufnahmegesetz eingefügt worden, dass eine Kostenerstattung nach § 89d SGB VIII häufig durch Zeitablauf ausgeschlossen sei. Auch aus der Gesetzesnovelle 2012, mit der als Reaktion auf eine anderslautende verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung der Vorrang der bundesgesetzlichen Erstattungsnorm des § 89d SGB VIII gegenüber Art. 7 AufnG in Art. 7 Abs. 3 AufnG eingefügt wurde, lasse sich der behauptete Gleichlauf der beiden Normen nicht ableiten. Die Gesetzesbegründung habe vielmehr klargemacht, dass die beiden Erstattungsansprüche unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen besäßen.
33
Soweit sich der Beklagte in der Berufungsbegründung vor allem auf Vollzugsvorschriften und Arbeitsgruppenabsprachen berufe, seien diese Vollzugshinweise für die Rechtsprechung nicht bindend. Hinzu komme, dass im vorliegenden Fall bereits kein Raum für eine „erweiternde Interpretation des Gesetzes“ bestehe, da es an einem zweifelhaften, Auslegungsspielräume eröffnenden Wortsinn der Bestimmung fehle. Art. 7 AufnG sei geschaffen worden, um die öffentlichen Jugendhilfeträger finanziell zu entlasten. Wenn nun der Beklagte durch „Auslegung“ der Norm versuche, beim ursprünglichen Zweck von § 89d SGB VIII anzusetzen und daraus zu konstruieren, Art. 7 AufnG sei in dem Sinne zu verstehen, dass auch hier ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Einreise und Unbegleitetheit erforderlich sei, setze er am falschen Ende der Argumentationskette an. Der Umstand, dass Art. 7 AufnG am 31. Oktober 2022 außer Kraft treten werde, dürfe nicht schon „quasi rückwirkend“ bei der aktuellen Auslegung der Norm berücksichtigt werden. Hintergrund der Abschaffung des Art. 7 AufnG bilde vielmehr die Abschaffung des bundesweiten Kostenerstattungsverfahrens.
34
Hinzu komme, dass der Beklagte vorliegend anerkenne, dass der begünstigte Khader H.B. unbegleitet ins Bundesgebiet eingereist sei und kein Fall des nachträglichen Unbegleitetwerdens vorliege. Vielmehr werde die Kostenerstattung mit der Begründung abgelehnt, dass eine Unterbrechung der Jugendhilfeleistung von mehr als drei Monaten vorgelegen habe. Aufgrund des behaupteten „Gleichklangs“ von § 89d SGB VIII und Art. 7 AufnG sei daher diese Unterbrechung anspruchsvernichtend. Hierzu fänden sich in den Gesetzesmaterialien zu Art. 7 AufnG keinerlei Aussagen. Gegenteiligen Auffassungen in Verwaltungsvorschriften, FAQs oder Arbeitsgruppenpapieren komme hingegen keine rechtliche Bindungswirkung zu. Für die Anwendung von Art. 7 AufnG komme es daher weder darauf an, dass die Unbegleitetheit bei der Einreise bestanden habe noch sei eine Unterbrechung der Leistungserbringung schädlich, weil der Jugendliche untergetaucht sei. Auch nach der erneuten Inobhutnahme habe es sich bei Khader H.B. immer noch um einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gehandelt, der nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leistungsberechtigt gewesen sei. Folglich seien der Klägerin vom Beklagten die aufgewandten Jugendhilfekosten zu erstatten.
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7. Mit Schriftsätzen vom 16. und 21. Dezember 2021 haben die Verfahrensbeteiligten auf Anfrage des Senats auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren verzichtet.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung des Beklagten, über die der Senat nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist unbegründet. Der Klägerin kommt der geltend gemachte Erstattungsanspruch für die für die Inobhutnahme von Khader H.B. im Zeitraum zwischen dem 17. März 2016 und dem 20. September 2016 aufgewandten Jugendhilfekosten nach Art. 7 Abs. 1 AufnG, Art. 8 AufnG offensichtlich zu.
38
1. Der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch ist nicht bereits nach Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG ausgeschlossen, da der Klägerin für den streitgegenständlichen Zeitraum kein - vorrangiger - Erstattungsanspruch nach § 89d SGB VIII zustand. Vielmehr greift bei der vorliegenden Fallkonstellation § 89d Abs. 4 SGB VIII ein, wonach die Verpflichtung zur Erstattung der aufgewandten Jugendhilfekosten dann entfällt, wenn für einen zusammenhängenden Zeitraum von drei Monaten Jugendhilfe nicht zu gewähren war. Zwar soll dies nicht bereits dann der Fall sein, wenn für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten Jugendhilfe tatsächlich nicht erbracht worden ist, sondern vielmehr erst dann, wenn für einen ununterbrochenen Zeitraum von mehr als drei Monaten kein Anspruch auf Jugendhilfeleistungen mehr bestanden hat (so insb. Streichsbier in jurisPK-SGB VIII, Stand 3.12.2020, § 89d Rn. 18; Schweigler in BeckOGK SGB VIII, § 89d Rn. 22).
39
Entgegen der Auffassung des Beklagten besaß Khader H.B. jedoch als Folge seines Entweichens aus der Einrichtung der Klägerin und des anschließenden Untertauchens in Bremen im Zeitraum zwischen dem 30. November 2015 und 16. März 2016 für mehr als drei Monate keinen Anspruch auf Jugendhilfe in Form der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII (mehr). Denn die Inobhutnahmepflicht der Klägerin ist jedenfalls nach Abwarten einer 48-stündigen Mindestfrist (vgl. hierzu etwa Kirchhoff in jurisPK-SGB VIII, Stand 14.4.2022, § 42 Rn. 242) für ein Wiederaufgreifen von Khader H.B. erloschen. Infolgedessen hat die Klägerin die Inobhutnahme zu Recht am 3. Dezember 2015 formell beendet.
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Anders als der Beklagte meint, liegen im Falle des Entweichens und Untertauchens eines zuvor in Obhut genommenen unbegleiteten ausländischen Minderjährigen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII nicht mehr vor, weil es an der Mitwirkungsbereitschaft des unbegleiteten Minderjährigen an der Jugendhilfemaßnahme offenkundig fehlt, die Inobhutnahme faktisch nicht mehr durchgeführt und dem Jugendlichen keine weiteren Hilfen mehr vermittelt werden können. Bei dieser Konstellation hat die Klägerin daher die Inobhutnahme von Khader H.B. zu Recht am 3. Dezember 2015 beendet und ihn erst nach seiner Rückkehr nach Nürnberg erneut in Obhut genommen (zu dieser Vorgehensweise vgl. Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 54; Kirchhoff in jurisPK-SGB VIII, Stand 14.4.2022, § 42 Rn. 242; Trenczek in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 42 Rn. 54; DIJuF-Rechtgutachten JAmt 2018, 147, 148; a.A. Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 106; Schmidt in BeckOGK SGB VIII, Stand 1.5.2022, § 42 Rn. 177 ff.). Folglich lagen im vorliegenden Fall die Voraussetzungen der Jugendhilfemaßnahme der Inobhutnahme im Sinne von § 89d Abs. 4 SGB VIII für einen zusammenhängenden Zeitraum von mehr als drei Monaten nicht vor (ebenso für den Fall des Entweichens Bohnert/Stähr in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand September 2020, § 89d Rn. 29). Nach der erneuten Inobhutnahme von Khader H.B. ab 17. März 2016 in Nürnberg bestand demnach kein vorrangiger bundesrechtlicher Kostenerstattungsanspruch nach § 89d SGB VIII (mehr), sodass in der Folge die Subsidiaritätsklausel des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG nicht greift.
41
2. Demgegenüber liegen, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, die Tatbestandsvoraussetzungen einer Erstattungspflicht des Freistaats Bayern gegenüber der Klägerin als Trägerin der öffentlichen Jugendhilfe nach Art. 7 Abs. 1 AufnG im vorliegenden Fall unproblematisch vor. Insoweit handelt es sich bei Khader H.B im streitgegenständlichen Zeitraum um eine unbegleitete minderjährige Person im Sinne von Art. 1 Abs. 1 AufnG. Khader war insoweit auch nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) leistungsberechtigt, da er infolge seiner Asylantragstellung im Besitz einer Aufenthaltsgestattung war. Weiter besaß Khader nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII als ausländischer Jugendlicher, der unbegleitet nach Deutschland eingereist war und bei dem sich weder seine Personensorge- noch andere Erziehungsberechtigte im Inland aufgehalten haben, einen Anspruch auf Inobhutnahme, den die Klägerin ihm gegenüber durch die Unterbringung in einer entsprechenden Einrichtung erfüllt hat. Mithin ist nach dem eindeutigen Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 AufnG der Beklagte der Klägerin zur Erstattung der aufgewandten Jugendhilfekosten im durch Art. 8 Abs. 1 AufnG festgelegten Umfang verpflichtet.
42
Soweit der Beklagte sich demgegenüber auf die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG durch die Einfügung „impliziter“ Tatbestandsmerkmale (2.1), den angeblich gewandelten Normkontext durch die Einführung des Verteilverfahrens für unbegleitete minderjährige Ausländer nach den §§ 42a ff. SGB VIII (2.2) sowie auf verschiedene Auslegungshilfen, FAQs, Arbeitsgruppenpapiere sowie „Punktuationen“ beruft (2.3), kann er damit gegenüber dem eindeutigen Wortlaut der Norm nicht durchdringen.
43
2.1 Die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG durch Herstellung eines „Gleichklangs“ mit § 89d SGB VIII dergestalt, dass der Kostenerstattungsanspruch sowohl einen zeitlichen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der unbegleiteten Einreise des minderjährigen Ausländers und der Jugendhilfegewährung erfordert bzw. bei einer länger als drei Monate andauernden zeitlichen Unterbrechung der Jugendhilfegewährung nicht mehr besteht, lässt sich mit den methodisch anerkannten Auslegungstopoi nicht begründen. Sie folgt insbesondere nicht aus dem systematischen Zusammenhang zwischen der bundesrechtlichen Erstattungsnorm des § 89d SGB VIII und der landesrechtlichen Erstattungsnorm des Art. 7 Abs. 1 AufnG unter Berücksichtigung der jeweiligen Normgenese.
44
2.1.1 Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der ursprünglichen Fassung von Art. 7 AufnG 2002 regelte § 89d SGB VIII (in der bis zum 31.12.2006 geltenden Fassung) bundesrechtlich die Kostenerstattung bei Gewährung von Jugendhilfe nach der Einreise. Nach § 89d Abs. 1 SGB VIII a.F. waren dem örtlichen Jugendhilfeträger vom Land die aufgewandten Jugendhilfekosten zu erstatten, wenn innerhalb eines Monats nach der Einreise eines jungen Menschen diesem Jugendhilfe gewährt wird und sich die örtliche Zuständigkeit nach dem tatsächlichen Aufenthalt der Person oder nach der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde richtet. Nach § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII a.F. galt dabei als Tag der Einreise der Tag des Grenzübertritts, sofern dieser amtlich festgestellt worden war, andernfalls der Tag, an dem der Aufenthalt im Inland erstmals festgestellt wurde bzw., falls es auch hieran gefehlt hatte, der Tag der ersten Vorsprache bei einem Jugendamt. War der Leistungsberechtigte im Ausland geboren und handelte es sich daher um einen unbegleiteten minderjährigen Ausländer bzw. Flüchtling, wurde nach § 89d Abs. 3 SGB VIII a.F. das nach § 89d Abs. 1 SGB VIII erstattungspflichtige Land auf der Grundlage eines Belastungsvergleichs nach § 89d Abs. 3 Satz 2 a.F. vom Bundesverwaltungsamt bestimmt. Dieses Verfahren diente - insoweit ist der Auffassung des Beklagten zuzustimmen - der Entlastung der in Grenznähe gelegenen Aufgriffsorte bzw. der jeweils örtlich zuständigen Jugendhilfeträger und damit einer bundesweiten Verteilung der Jugendhilfekosten für unbegleitet eingereiste, minderjährige Ausländer.
45
Der Kostenerstattungsanspruch nach § 89d SGB VIII a. F. erwies sich jedoch hinsichtlich verschiedener Fallgruppen als lückenhaft und unzureichend. So stand dem örtlichen Jugendhilfeträger dann kein Kostenerstattungsanspruch zu, wenn er die Monatsfrist zwischen Einreise und Jugendhilfegewährung nicht eingehalten hat, etwa, weil sich die Minderjährigkeit eines unbegleitet eingereisten Flüchtlings erst nach Ablauf der Frist des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII a.F. herausgestellt hat. Daneben bestand regelmäßig kein bundesrechtlicher Kostenerstattungsanspruch bei einem „nachträglichen Unbegleitetwerden“, wenn der zunächst begleitet ins Bundesgebiet eingereiste Minderjährige von seinen Personensorge- oder Erziehungsberechtigten im Bundesgebiet allein zurückgelassen wurde und er deshalb in Obhut genommen werden musste. Schließlich rechneten hierzu auch diejenigen Fälle, in denen nach § 89d Abs. 4 SGB VIII a.F. die Verpflichtung zur Kostenerstattung infolge einer mehr als drei Monate andauernden Unterbrechung der Jugendhilfegewährung entfallen war, wo aber nach der Unterbrechung ein erneuter Jugendhilfebedarf des unbegleiteten Minderjährigen aufgetreten war.
46
Demgegenüber sah die zunächst aufgrund eines bayerischen Ministerratsbeschlusses vom 12. Mai 1992 ergangenen Verwaltungsvorschrift vom 2. Februar 1993 eine volle Erstattung der Kosten der Kinder- und Jugendhilfe für asylsuchende unbegleitete minderjährige Flüchtlinge durch den Freistaat Bayern ab dem 1. Januar 1993 vor (vgl. hierzu und zum Folgenden den Gesetzentwurf über die Aufnahme und Unterbringung der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz [Aufnahmegesetz - AufnG], LT-Drucks. 14/8632 vom 5.2.2002). Da der Bayerische Oberste Rechnungshof in dieser Verwaltungsvorschrift keine hinreichende Rechtsgrundlage für die Kostenerstattung an die öffentlichen Jugendhilfeträger gesehen hatte, wurde mit Art. 7 Abs. 1 des Aufnahmegesetzes eine entsprechende Erstattungsnorm geschaffen, deren Normtext in der Folgezeit unverändert geblieben ist.
47
2.1.2 Dass es sich bei Art. 7 Abs. 1 AufnG um eine zur bundesrechtlichen Erstattungsnorm des § 89d SGB VIII komplementäre, in ihren Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen indes eigenständige landesrechtliche Erstattungsnorm handelt, die - um die vollständige Kostenerstattung zu gewährleisten - gerade diejenigen Fallgruppen abdecken soll, die bundesrechtlich von der Kostenerstattungspflicht nicht erfasst waren, zeigte sich insbesondere bei der Ergänzung von Art. 7 AufnG durch Art. 7 Abs. 3 AufnG durch das Gesetz zur Ausführung des Berufsbildungsgesetzes und des Aufnahmegesetzes 2012. Nachdem die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung den Kostenerstattungsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 AufnG, Art. 8 AufnG als vorrangig gegenüber dem bundesrechtlichen Erstattungsanspruch aus § 89d Abs. 1 SGB VIII angesehen hatte, führte dies zu Nachteilen beim bundesweiten Belastungsausgleich nach § 89d Abs. 3 SGB VIII a.F.. Als Konsequenz hat der Landesgesetzgeber durch die Einfügung von Art. 7 Abs. 3 AufnG den Nachrang der landesgesetzlichen Erstattungsregelung gesetzlich festgeschrieben (vgl. hierzu und zum Folgenden LT-Drucks. 16/12538 vom 15.5.2012). Danach „sind die Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII für die unbegleiteten minderjährigen Personen im Sinne des Art. 1 AufnG in Bayern, wenn sowohl die Voraussetzungen des § 89d SGB VIII als auch die der Art. 7 und 8 AufnG gegeben sind, über das Kostenausgleichsverfahren nach dem SGB VIII zu erstatten. Nur wenn die Voraussetzungen nach § 89d SGB VIII nicht gegeben sind, greift die Kostenerstattung nach Art. 7 und 8 AufnG“ (LT-Drucks. 16/12538, S. 5; Hervorhebung durch den Senat).
48
Aus der komplementären Funktion der Kostenerstattungsregelung der Art. 7 und 8 AufnG, durch die die volle Erstattung der Jugendhilfekosten bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern durch den Freistaat Bayern sichergestellt werden sollte, folgt jedoch zwangsläufig, dass die Tatbestandvoraussetzungen des § 89d SGB VIII - also der zeitliche Zusammenhang zwischen unbegleiteter Einreise und Jugendhilfegewährung - ebenso wie das Entfallen des Kostenerstattungsanspruchs nach dreimonatiger Unterbrechung der Jugendhilfegewährung gerade nicht implizite Tatbestandsvoraussetzungen des Erstattungsanspruchs aus Art. 7 Abs. 1 AufnG sein können. Andernfalls ließe sich der Regelungszweck der Art. 7, 8 AufnG - die Anordnung einer vollständigen Kostenerstattungspflicht für Jugendhilfekosten, nicht erreichen. Der vom Beklagten im vorliegenden Verfahren wiederholt postulierte „Gleichklang“ von § 89d SGB VIII und Art. 7 Abs. 1 AufnG steht demnach im Widerspruch zum systematischen Verhältnis von bundes- und landesrechtlicher Erstattungsregelung und zur Intention des Landesgesetzgebers. Bei Art. 7 Abs. 1 AufnG handelt es sich daher um eine eigenständige, gerade nicht an die Tatbestandsmerkmale der bundesrechtlichen Norm des § 89d SGB VIII gebundene Erstattungsvorschrift.
49
2.1.3 Hieran ändert entgegen der Ansicht des Beklagten auch die bundesrechtliche Einführung der vorläufigen Inobhutnahme und des sich daran anschließenden Verteilungsverfahrens für unbegleitete minderjährige Ausländer nach §§ 42a ff. SGB VIII mit Wirkung zum 1. November 2015 sowie die hieran anknüpfende Änderung des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze und des Aufnahmegesetzes vom 5.12.2017 (GVBl. 534 ff.) nichts. Zwar wurde insoweit bundesrechtlich das bisherige Kostenverteilungsverfahren nach § 89d Abs. 3 SGB VIII a.F. durch das Verfahren der vorläufigen Inobhutnahme und der anschließenden Verteilung der unbegleiteten minderjährigen Ausländer nach §§ 42a ff. SGB VIII ersetzt. Gleichwohl erfolgte in diesem Kontext keine Änderung von § 89d Abs. 1 SGB VIII (zur insoweit angeblich „gewandelten Auslegung“ der Bestimmung vgl. nachfolgend 2.2), sodass, ungeachtet des jeweils Kostenerstattungspflichtigen, die verschiedenen Fallgruppen, bei denen keine Kostenerstattung geleistet wird - „schuldlose“ Nichteinhaltung der Frist des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII, nachträgliches „Unbegleitetwerden“, erneutes Auftreten eines Jugendhilfebedarfs nach mehr als dreimonatiger Unterbrechung - nach wie vor bestehen geblieben sind (vgl. hierzu etwa Bohnert/Stähr in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand September 2020, § 89d Rn. 11a; Kunkel/Pattar in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 89d Rn. 12). Folglich ist ausgehend von der beabsichtigten vollständigen Freistellung der öffentlichen Jugendhilfeträger von den Jugendhilfekosten unbegleiteter minderjähriger Ausländer weder der Anwendungsbereich noch der Regelungszweck von Art. 7 Abs. 1 AufnG durch die Gesetzesänderung entfallen.
50
Demzufolge hat der Landesgesetzgeber durch das Gesetz zur Ausführung der Sozialgesetze und des Aufnahmegesetzes vom 5.12.2017 (GVBl. 534 ff.) auch lediglich den Anwendungsbereich von Art. 7 Abs. 1 AufnG durch Einfügung von Art. 10a Abs. 2 AufnG auf vor dem 1. Januar 2018 entstandene Jugendhilfekosten beschränkt. Wenn die Gesetzesbegründung (vgl. LT-Drucks. 17/15589, S. 10 f.) gleichwohl - ohne dass dies Ausdruck im Normtext gefunden hätte - postuliert, dass nach der Abschaffung des bundesweiten Kostenverteilverfahrens kein Erfordernis einer subsidiären landesrechtlichen Kostenerstattung mehr bestehe und der „häufige Anwendungsfall der subsidiären Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1 AufnG“ der unverschuldeten Versäumnis der Monatsfrist des § 89d Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII durch eine angebliche Änderung der „herrschenden Rechtsauffassung“ nicht mehr auftreten könne, da maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Ausschlussfrist nunmehr die Kenntnis des Jugendamts von der unbegleiteten Einreise sein soll, ist dies nicht nachvollziehbar, da die behauptete Änderung der „herrschenden Rechtsauffassung“ zur Frist des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII sich als unbeachtliche und gegen die eindeutige gesetzliche Regelung verstoßende Verwaltungsauffassung erweist und es - wie insbesondere das vorliegende Verfahrens zeigt - nach wie vor neben dem geschilderten „häufigen Anwendungsfall“ der schuldlosen Fristversäumnis weitere Fallkonstellationen gibt, in denen der subsidiäre Kostenerstattungsanspruch eingreifen muss, will man die Jugendhilfeträger von den Jugendhilfekosten unbegleiteter minderjähriger Ausländer freistellen. Die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG im „Gleichklang“ mit § 89d SGB VIII lässt sich demzufolge auch nicht mit der Änderung des bundesweiten Verteilverfahrens für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und der nachfolgenden Änderung des Aufnahmegesetzes begründen.
51
2.2 Entgegen der Auffassung des Beklagten lässt sich eine einschränkende Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG auch nicht aus dem gewandelten Kontext der Erstattungsregelungen, der Dynamik der Rechtsentwicklung sowie der „inneren Kohärenz“ der Erstattungsregelungen herleiten, nach denen angeblich der Bedarf für eine subsidiäre landesrechtliche Kostenerstattungsregelung entfallen sein soll.
52
Als rechtssystematisch verfehlt erweist sich dabei bereits der Ausgangspunkt, wonach § 89d Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 SGB VIII nunmehr - nach angeblich „herrschender Rechtsauffassung“ - so zu lesen sein soll, dass Ausgangspunkt des Fristlaufs - „innerhalb eines Monats nach der Einreise eines jungen Menschen“ - nicht mehr die eindeutige und normenklare Regelung des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII sein soll, sondern stattdessen die „Kenntnis des Jugendamts von der Einreise des unbegleiteten minderjährigen Ausländers“. Diese allein von der Verwaltung, insbesondere wohl des Bundesfamilienministeriums, geprägte Auffassung steht im Widerspruch zur gesetzlichen Regelung und erweist sich daher nicht nur als unverbindlich, sondern überdies, weil gegen die Gesetzesbindung der Verwaltung aus Art. 20 GG verstoßend, als rechtswidrig (so auch Kunkel/Pattar in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 89d Rn. 6, 12: „rechtswidrig“ und „contra legem“). Reine Verwaltungsanweisungen contra legem können eine Gesetzesänderung durch den hierzu allein berufenen parlamentarischen Gesetzgeber nicht ersetzen, mögen sie auch einer vorgeblichen „Verwaltungsvereinfachung“ geschuldet sein. Nachdem § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt unverändert den Fristlauf für die Geltendmachung des Kostenerstattungsanspruchs nach § 89d Abs. 1 SGB VIII regelt, ist die Verwaltung verpflichtet, die geltende gesetzliche Regelung anzuwenden.
53
Mit einer normtextkonformen Anwendung von § 89d Abs. 1 SGB VIII entfällt jedoch zugleich die wiederholt vom Beklagten vorgetragene Notwendigkeit einer „gewandelten Auslegung“ von Art. 7 Abs. 1 AufnG, da der behauptete Bedeutungsverlust der subsidiären Kostenerstattungsregelung durch das Entfallen des „Hauptanwendungsfalls“ durch die „geänderte Rechtsauffassung“ zu § 89d Abs. 1 SGB VIII tatsächlich nicht eingetreten ist. Eine vermeintliche Verwaltungspragmatik vermag geltendes Recht nicht zu derogieren. Für die vom Beklagten postulierte einschränkende Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG bleibt demnach kein Raum.
54
2.3 Soweit sich der Beklagte schließlich auf Vollzugsbekanntmachungen, Auslegungshinweise, FAQs, „Postulationen“ und Ergebnisse von Arbeitsgruppenbesprechungen beruft, sind diese, wie das Verwaltungsgericht zutreffend herausgearbeitet hat, für die Rechtsprechung unverbindlich. Sie verstoßen, wie vorstehend dargestellt, gegen die bestehende gesetzliche Regelung und greifen somit unzulässig in die Gesetzgebungskompetenz des parlamentarischen Gesetzgebers über. Der Verwaltung steht es nicht zu, abweichend von eindeutigen Normtexten eigene Kostenerstattungsregelungen zu generieren. Sie ist vielmehr an die normativen Vorgaben des § 89d Abs. 1 SGB VIII wie auch des Art. 7 Abs. 1 AufnG gebunden.
55
3. Das Verwaltungsgericht hat folglich, nachdem der nach Art. 8 Abs. 1 AufnG zu bestimmende Umfang des geltend gemachten Kostenerstattungsanspruchs vom Beklagten nicht infrage gestellt wurde, den Freistaat Bayern zu Recht zur Kostenerstattung verurteilt. Die Berufung gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil war daher als unbegründet zurückzuweisen.
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Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt daher nach § 154 Abs. 2 VwGO der Beklagte. Der Streitwert bemisst sich für das Berufungsverfahren nach §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 3 Satz 1 GKG. Gründe, nach § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.