Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 20.06.2022 – AN 11 K 20.01625
Titel:

Verfristete Klage gegen Versagung eines Aufenthaltstitels – Kein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht

Normenketten:
VwGO § 58 Abs. 2, § 60
AufenthG § 4 Abs. 2, § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3
EWG-Türkei Art. 6 Abs. 1, Abs. 2
Leitsätze:
1. Der EuGH hat in ständiger Rechtsprechung aus dem Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt ein implizites Aufenthaltsrecht abgeleitet und damit dem ARB 1/80 aufenthaltsrechtliche Regelungswirkung zuerkannt. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dieses assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht ist somit abgeleiteter Natur; es benötigt zu seinem Entstehen den Anknüpfungspunkt einer ordnungsgemäßen Beschäftigung und besteht bei türkischen Arbeitnehmern grundsätzlich nur so lange, wie sie dem regulären Arbeitsmarkt angehören. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (verneint), Klage auf Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis nach Art. 6 ARB, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, verfristete Klage, Aufenthaltserlaubnis, Vater-Kind-Beziehung, assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht, Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt, Arbeitslosigkeit, ARB 1/80
Fundstelle:
BeckRS 2022, 15807

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten über das Bestehen eines Aufenthaltsrechts des Klägers.
2
Der am … 1978 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Am … heiratete er in der Türkei die deutsche Staatsangehörige … Er reiste Anfang des Jahres 2014 mit einem Visum in das Bundesgebiet ein. Antragsgemäß erhielt er am 7. Juli 2014 von der Beklagten eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug, die regelmäßig, zuletzt bis 16. Juni 2017 verlängert wurde. Aus der Ehe gingen zwei deutsche Kinder hervor (geboren am … und …). Seit … lebt der Kläger von seiner Frau und den beiden Kindern getrennt.
3
Am 15. Mai 2017 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Ausübung der Personensorge. Der Kläger erhielt daraufhin von der Beklagten Fiktionsbescheinigungen, die letzte mit einem Gültigkeitsdatum bis 27. Dezember 2019.
4
Mit Bescheid vom 7. April 2020 lehnte die Beklagte die Erteilung/Verlängerung des Aufenthaltstitels ab (Ziff. I.), forderte den Kläger auf, das Bundesgebiet bis spätestens 31. Mai 2020 zu verlassen (Ziff. II.), drohte dem Kläger die zwangsweise Abschiebung insbesondere in die Türkei an (Ziff. III.) und verfügte für den Fall der Abschiebung ein Einreise- und Aufenthaltsverbot des Klägers für die Dauer von einem Jahr nach erfolgter Abschiebung. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Kläger seit … von seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern getrennt lebe. Der Kläger habe am 17. Mai 2017 die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis wegen der Ausübung des Sorgerechts für seine beiden deutschen Kinder beantragt. Nach Aufforderung habe der Bevollmächtigte eine Stellungnahme zur schützenswerten Vater-Kind-Beziehung abgegeben, zudem sei ein Nachweis des Jugendamts der Beklagten vom Kläger vorgelegt worden. Einer Terminvorladung seitens der Beklagten für den 11. Oktober 2018 sei der Kläger unentschuldigt nicht nachgekommen, um einen weiteren Termin habe sich der Kläger nicht bemüht. Die vom Kläger getrennt lebende Ehefrau habe am 21. November 2019 mitgeteilt, dass der Kläger seit September 2019 keinen Kontakt zu seinen Kindern pflege. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, da die eheliche Lebensgemeinschaft seit September 2016 nicht mehr geführt werde. Die zeitlichen Voraussetzungen (mindestens dreijähriger Bestand der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet) für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG seien beim Kläger nicht erfüllt. Ebenso sei eine besondere Härte beim Kläger nach § 31 Abs. 2 AufenthG nicht gegeben. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zum Zwecke der Ausübung der elterlichen Sorge könne nicht erteilt werden. Der Kläger besitze zwar die Personensorge für seine beiden minderjährigen Kinder, übe diese jedoch nicht aus. Es müsse nach der Mitteilung der Kindsmutter davon ausgegangen werden, dass der Kläger keinen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder habe. Die Geburt der jüngeren Tochter sei zudem erst nach Auflösung der familiären Lebensgemeinschaft erfolgt. Da die Ausreise des Klägers weder tatsächlich noch rechtlich unmöglich sei, käme keine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG in Betracht. Weitere Aufenthaltszwecke seien nicht geltend gemacht und auch nicht ersichtlich. Ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht, abgeleitet aus Art. 20 AEUV, stehe dem Kläger nicht zu. Insbesondere deswegen, da seine Beziehung zu den Kindern nicht über eine bloße Begegnungsgemeinschaft hinausgehe. Bei der Entscheidung über den Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet seien deren Folgen für die persönlichen Lebensverhältnisse zu berücksichtigen. Der Kläger sei im Alter von 36 Jahren ins Bundesgebiet eingereist, so dass davon auszugehen sei, dass er die Sprache seines Heimatlandes spreche und ihm die Kultur nicht fremd sei. Den Kontakt zu seinen Kindern könne der Kläger über Telefon, soziale Netzwerke und Besuchsaufenthalte erhalten.
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Der Kläger ließ mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 22. Juni 2020 bei der Beklagten die Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis beantragen. Es liege eine schützenswerte Eltern-Kind-Beziehung vor. Zudem sei der Kläger Berechtigter nach ARB 1/80, da er mehr als ein Jahr ununterbrochen bei der … in … gearbeitet habe. Er habe dort am 1. September 2016 die Beschäftigung aufgenommen, April 2019 sei der letzte Beschäftigungsmonat gewesen. Ein Lohnzettel für April 2019 wurde vorgelegt. Die Beklagte antwortete mit Schreiben vom 29. Juni 2019, dass kein Nachweis für eine schützenswerte Vater-Kind-Beziehung vorliege, zudem könne ein Recht nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 nicht erkannt werden.
6
Mit Schreiben vom 30. Juni 2020 wandte sich der Kläger mit Hilfe eines Beistands an die Beklagte und beantragte als türkischer Staatsangehöriger die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80. Das EU-Assoziationsrecht vermittele türkischen Staatsangehörigen besondere, an den EU-Freizügigkeitsrechten orientierte Rechte. Diese privilegierten die türkischen Staatsangehörigen gegenüber Drittstaatsangehörigen. Der Kläger sei rechtmäßig ins Bundesgebiet eingereist und habe mehr als ein Jahr, vom 1. April 2016 bis 31. August 2019, ununterbrochen bei der … in … gearbeitet, damit stehe ihm eine assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 zu. Der Europäische Gerichtshof gehe in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die nach dem Wortlaut beschäftigungsrechtlichen Regelungen des Art. 6 ARB 1/80 zwangsläufig ein Aufenthaltsrecht für die begünstigten Personen beinhalteten. Dieses assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht benötige zum Entstehen eine „ordnungsgemäße Beschäftigung“ und bestehe grundsätzlich nur so lange, wie die Person dem regulären Arbeitsmarkt angehöre. Zum Nachweis des sich aus dem Assoziationsrecht ergebenden und kraft Gesetzes entstehenden Aufenthaltsrechts bedürfe es lediglich einer deklaratorischen Aufenthaltserlaubnis (vgl. § 4 Abs. 5 AufenthG), die als feststellender begünstigender Verwaltungsakt zu betrachten sei. Die Ansprüche nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 seien von keiner weiteren Voraussetzung abhängig als der Arbeitnehmertätigkeit des türkischen Staatsangehörigen auf dem regulären Arbeitsmarkt. Nach Erfüllen der jeweiligen in den Spiegelstrichen genannten Voraussetzungen hänge die Rechtsstellung des Arbeitnehmers nicht mehr davon ab, dass diese Voraussetzungen weiterhin erfüllt seien.
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Mit Schreiben vom 11. August 2020, dem keine Rechtsbehelfsbelehrungbeigefügt war, erklärte die Beklagte, dass dem Kläger kein Recht nach dem Assoziationsabkommen ARB 1/80 zustehe. Der Kläger verfüge nach Aktenlage seit April 2019 nicht mehr über einen Arbeitsplatz. Zwar könne nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Aufenthaltserlaubnis nach dem Assoziationsabkommen zum Zwecke der Arbeitsplatzsuche für einen angemessenen Zeitraum verlängert werden, wenn die Arbeitsplatzsuche hinreichend erfolgversprechend verläuft und der Antragsteller nachweist, dass er sich um einen Arbeitsplatz bemüht. Jedoch sei der Kläger seit 15 Monaten arbeitslos und habe keine entsprechenden Nachweise vorgelegt. Zudem verfüge der Kläger aufgrund der Entscheidung vom 7. April 2020 nicht über einen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet.
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Mit Schreiben vom 20. August 2020, bei Gericht am gleichen Tag eingegangen, ließ der Kläger durch seinen Bevollmächtigten Klage erheben. Zur Begründung wurde vorgetragen, dass gegen den Bescheid vom 7. April 2020 keine Klage erhoben worden sei, dennoch sei dieser aufzuheben, da dem Kläger ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 zustehe. Mit Schreiben vom 30. Juni 2020 habe sich der Kläger an die Beklagte gewandt, daraufhin habe diese mit Schreiben vom 11. August 2020 abermals die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach ARB 1/80 rechtswidrig verneint. Der Kläger bemühe sich aktiv um einen Arbeitsplatz.
9
Der KIäger beantragte,
1.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach Artikel 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 zu erteilen.
2.
Der Bescheid der Beklagten vom 7. April 2020 wird aufgehoben.
10
Die Beklagte beantragte
Klageabweisung und bezog sich im Wesentlichen auf die Darstellung der Sach- und Rechtslage im Bescheid vom 7. April 2020 und auf die mehr als 15 Monate andauernde Arbeitslosigkeit des Klägers.
11
Mit Schreiben vom 3. September 2020 erklärte der Klägerbevollmächtigte gegenüber dem Gericht, dass er den Bescheid vom 7. April 2020 an diesem Tag erhalten und an den Kläger weitergeleitet habe. Dieser sei jedoch wegen multipler psychologischer Erkrankungen unverschuldet nicht in der Lage gewesen, auf Post aus der Kanzlei zu reagieren. Der Kläger leide an depressiven Störungen und suizidalen Neigungen. Er sei nicht in der Lage gewesen, und sei es auch immer noch nicht, sich um seine bürokratischen Angelegenheiten zu kümmern. Gegenwärtig würden sich Freunde und Bekannte um seine Papierangelegenheiten kümmern. Aus diesem Grund sei ein Wiedereisetzungsantrag an die Beklagte gerichtet worden, der auch zum Gegenstand des Verwaltungsstreitverfahrens gemacht werde. Er erweitere die Klage.
12
Er beantragte,
1.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bezüglich des Bescheids vom 7. April 2020 zu gewähren.
2.
Der Bescheid der Beklagten vom 7. April 2020 wird aufgehoben.
13
Beigefügt ist eine psychologische Stellungnahme der …, vom 23. Juli 2020. Danach befindet sich der Kläger seit Juli 2020 auf Empfehlung seines Nervenarztes im Beratungszentrum in psychologischer Behandlung. Als Diagnosen sind aufgeführt „Schwere depressive Episode“ und „Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“.
14
Im Rahmen einer Beschuldigtenvernehmung durch das … in … am 16. Juli 2020 gab der Kläger an, dass er den Bescheid vom 7. April 2020 erhalten, aber nicht gleich verstanden habe. Er habe sich den Bescheid etwa 10 bis 15 Tage nach dem Erhalt übersetzen lassen und dann verstanden, dass er Deutschland verlassen müsse. Er sei davon ausgegangen, dass es sich dabei um einen Fehler gehandelt habe. Er habe einen Anwalt beauftragt und sich um nichts mehr gekümmert, weil ihm alles über den Kopf gewachsen sei.
15
Die Beklagte legte eine Email der Kindsmutter vom 24. März 2021 vor, wonach der Kläger wieder seit circa einem Jahr keinen Kontakt zu seinen Kindern habe. Vor circa acht Wochen sei er wegen COVID-19 im Krankenhaus gewesen. Da habe er versprochen, nach der Entlassung zu seinen Töchtern zu kommen, jedoch sei er mittlerweile seit vier Wochen entlassen und arbeite, sei aber nicht gekommen.
16
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und beigezogene Behördenakte sowie auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Entscheidungsgründe

17
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Klägerseite in der mündlichen Verhandlung über die Sache verhandeln und entscheiden, da der zum damaligen Zeitpunkt nicht vertretene Kläger persönlich ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass auch ohne ihn verhandelt werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
18
1. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 7. April 2020 ist abzuweisen, da sie unzulässig ist.
19
Nach den vom Klägerbevollmächtigten in den Schriftsätzen vom 20. August 2020 und 3. September 2020 ausdrücklich gestellten Anträgen begehrt der Kläger die Aufhebung des Bescheids vom 7. April 2020, mit dem sein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt, der Kläger unter Abschiebungsandrohung zur Ausreise aufgefordert und ein einjähriges Einreise- und Aufenthaltsverbot für den Fall der Abschiebung verfügt wurde.
20
a) Zunächst ist klarzustellen, dass grundsätzlich hinsichtlich Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids von einem Vorrang der Verpflichtungsklage auszugehen ist, mit der Folge, dass Rechtsschutz gegen die Ablehnung eines (begünstigenden) Verwaltungsakts grundsätzlich (nur) durch eine Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage zu erstreiten ist, welche die Aufhebung des Versagungsbescheids umfasst, soweit er entgegensteht. Die Rechtsprechung erkennt aber an, dass allein die Aufhebung des Versagungsbescheids ausnahmsweise ein zulässiges - gegenüber der Verpflichtungsklage für den Kläger vorteilhafteres - Rechtsschutzziel sein kann, wenn eine mit diesem Bescheid verbundene Beschwer nur so oder besser abgewendet werden kann. In derartigen Fällen besteht ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis für eine (isolierte) Anfechtungsklage (vgl. BVerwG U.v. 21.11.2006 - 1 C 10.06 - juris Rn. 16; OVG LSA, U.v. 15.5.2014 - 2 L 136/12 - juris Rn. 27). Es kann dahinstehen, ob vorliegend eine Konstellation gegeben ist, in der ausnahmsweise eine Anfechtungsklage gegen Nr. 1 des Bescheids statthaft ist. Nach der Klagebegründung verfolgt der Kläger nicht das Ziel der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wegen familiärer oder humanitärer Gründe, sondern er beruft sich alleine auf seine Rechtsstellung als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger. Der Kläger ist jedoch - auch wenn er einen Aufenthaltstitel aufgrund des Aufenthaltsgesetzes nicht (mehr) anstrebt - durch den Bescheid vom 7. April 2020 insoweit beschwert, als durch die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis die Ausreisepflicht gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG begründet wird.
21
b) Die Klage wurde verfristet erhoben. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nicht zu gewähren.
22
aa) Der Bescheid vom 7. April 2020, dem eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrungbeigefügt war, wurde dem Klägerbevollmächtigten ausweislich des Empfangsbekenntnisses am gleichen Tag zugestellt. Die einmonatige Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO endete damit gemäß §§ 57 Abs. 2 VwGO, 222 Abs. 1 ZPO, 187 ff. BGB am Donnerstag, 7. Mai 2020. Die Klage ging bei Gericht erst am 20. August 2020, und damit nach Fristablauf ein.
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bb) Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 VwGO liegen nicht vor. Darüber ist im Urteil zu entscheiden (vgl. Hoppe in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Auflage 2019, § 60 Rn. 43). Vorliegend wäre entgegen der Ausführungen des Klägerbevollmächtigten nicht durch die Beklagte Wiedereinsetzung nach Art. 32 BayVwVfG zu gewähren, sondern direkt durch das Gericht, da die Versäumung einer gesetzlichen Klagefrist im Raum steht.
24
Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wurde mit Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 3. September 2020 gestellt. Die versäumte Rechtshandlung, die Erhebung der Klage, wurde mit am 20. August 2020 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz nachgeholt, so dass der Antrag nach § 60 Abs. 2 Satz 3 VwGO entbehrlich gewesen wäre. Nach § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist der Antrag auf Wiedereinsetzung binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Nach dem klägerischen Vorbringen war der Kläger aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung nicht in der Lage, auf Post aus der Kanzlei zu reagieren und sich um seine bürokratischen Angelegenheiten zu kümmern, so dass eine unverschuldete Fristversäumnis vorliege. Es erscheint schon zweifelhaft, ob der dargelegte Gesundheitszustand des Klägers diesen von der Einhaltung der Klagefrist abhalten konnte und dies im Sinne von § 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO glaubhaft gemacht wurde. Festzuhalten ist jedoch, dass sich der Kläger schon mit Schreiben vom 22. Juni 2020 und mit weiterem Schreiben vom 30. Juni 2022 nach Erlass des streitgegenständlichen Bescheids an die Beklagte gewandt hatte, um seinen aufenthaltsrechtlichen Status im Bundesgebiet zu klären. Spätestens zu diesen Zeitpunkten war also ein Hinderungsgrund für die rechtzeitige Klageerhebung - wenn er bestünde - weggefallen, so dass binnen zwei Wochen die Klage hätte erhoben werden müssen. Dies ist mit der Klage am 20. August 2020 nicht erfolgt. Zudem erklärte der Kläger bei einer Beschuldigtenvernehmung, dass er den erhaltenen Bescheid zunächst nicht verstanden habe, aber nach einer Übersetzung etwa 10 bis 15 Tage später schon und einen Rechtsanwalt beauftragt habe. Bei dieser Sachlage kann nicht von einer unverschuldeten Fristversäumnis ausgegangen werden.
25
c) Nur ergänzend ist anzuführen, dass nach Aktenlage die Ablehnung der beantragten Aufenthaltserlaubnis im Bescheid vom 7. April 2020 zu Recht ergangen sein dürfte. Insbesondere ist wohl nicht von einer schützenswerten Vater-Kind-Beziehung auszugehen, die Grundlage für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG sein könnte. Der Kläger lebt schon seit Jahren getrennt von seinen Töchtern, das jüngere Kind ist sogar erst nach der Trennung der Eltern geboren. Der Kontakt des Klägers zu seinen Kindern erfolgte nur in einem geringen Umfang. Auch nach Erlass des Bescheids vertiefte sich der Kontakt nach der schriftlichen Einlassung der Kindsmutter nicht. Im Gegenteil, danach hatte der Kläger - ausgehend von März 2021 - seit etwa einem Jahr gar keinen Kontakt zu seinen Kindern und hat sein Versprechen, die Töchter zu besuchen, nicht eingehalten.
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2. Die Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses des Assoziationsrats EWG/Türkei Nr. 1/80 (ARB 1/80) ist zulässig, aber nicht begründet. Dem Kläger steht kein sich aus dem Assoziationsrecht ergebendes Aufenthaltsrecht zu, § 113 Abs. 5 VwGO.
27
a) Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig.
28
Der Kläger begehrt den Erlass eines begünstigenden, feststellenden Verwaltungsakts, § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO, nämlich die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG aufgrund eines ihm zustehenden Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80. Ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 besteht kraft Gesetzes, es wird nicht konstitutiv durch die Ausländerbehörde erteilt. Die nach § 4 Abs. 2 Satz 2 VwGO erteilte Aufenthaltserlaubnis hat insoweit lediglich deklaratorischen Charakter (vgl. BVerwG, B.v. 2.12.2021 - 1 B 38/21 - juris Rn. 13). Mit dem Tatbestandsmerkmal „ausstellen“ in § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG wird - anders als mit dem Wort „erteilen“ - der deklaratorische Charakter der Aufenthaltserlaubnis hervorgehoben (vgl. Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 4 AufenthG Rn. 60). Jedoch ist aus Gründen der Rechtssicherheit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 2 AufenthG eine feststellende Wirkung in dem Sinne zuerkennen, dass man dem türkischen Staatsangehörigen, solange er eine solche Aufenthaltserlaubnis besitzt, regelmäßig nicht entgegenhalten kann, sein Aufenthalt sei gleichwohl nicht rechtmäßig, weil er in Wahrheit kein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht innehabe (vgl. BVerwG, B.v. 23.5.2001 - 1 B 125.00 - juris Rn. 5, zu einer früheren Aufenthaltserlaubnis-EG; VG München, U.v. 23.8.2007 - M 12 K 06.4629 - juris Rn. 41). Bei Weigerung der Ausländerbehörde, die Aufenthaltserlaubnis auszustellen, kann hiergegen verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz im Wege der Verpflichtungsklage erlangt werden (vgl. Kurzidem in BeckOK, Ausländerrecht, Stand:1.7.2021, Art. 6 ARB 1/80 Rn. 35).
29
Das Schreiben der Beklagten vom 11. August 2020, wonach dem Kläger keine Berechtigung nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 zusteht, dürfte als Verwaltungsakt nach Art. 35 BayVwVfG zu qualifizieren sein. Zwar fehlt eine Rechtsbehelfsbelehrungund auch das äußere Erscheinungsbild, insbesondere das Fehlen eines Tenors, könnte auf ein formloses Schreiben schließen lassen. Jedoch hat die Beklagte nach dem Inhalt des Schreibens eindeutig eine hoheitliche Regelung eines Einzelfalls mit Außenwirkung getroffen, nämlich die Feststellung, dass dem Kläger kein Recht nach dem Assoziationsabkommen zusteht; sie war demnach nicht untätig. Nachdem der Kläger schon am 20. August 2020, also innerhalb der mangels Rechtsbehelfsbelehrunglaufenden Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 VwGO Klage erhoben hat, kann es jedoch letztlich dahinstehen, ob darin ein Verwaltungsakt zu sehen ist.
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b) Die Verpflichtungsklage ist unbegründet, da dem Kläger das geltend gemachte Aufenthaltsrecht nicht zusteht.
31
Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz (stRSpr. vgl. BVerwG, U.v. 10.12.2014 - 1 C 15/14 - NVwZ-RR 2015, 313, juris Rn. 11). Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ist - neben weiteren Regelungen des Assoziationsratsbeschlusses - nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ein verbindlicher Teil des EU-Rechts. Die Mitgliedstaaten sind an die assoziationsrechtlichen Regelungen unmittelbar gebunden. Auch wenn die Bestimmungen nicht in nationales Recht umgesetzt wurden, sind sie daher als verbindlich anzusehen. Türkische Staatsangehörige, die die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllen, können sich unmittelbar auf die in dieser Vorschrift gewährten Rechte berufen (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, a.a.O., Vorb. zu ARB 1/80 Anm. 2.5).
32
Nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 hat ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt. Ausgehend vom Wortlaut des ARB 1/80 liegen in den Regelungen der Art. 6 ff. primär Arbeitsmarktzugangsrechte für türkische Staatsangehörige und ihre Familienangehörigen. Unter der Auslegungsprämisse der praktischen Wirksamkeit (effet utile) hat der Europäische Gerichthof indes aus dem Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt in ständiger Rechtsprechung ein implizites Aufenthaltsrecht abgeleitet und damit dem ARB 1/80 aufenthaltsrechtliche Regelungswirkung zuerkannt. Mit dem Recht, als Arbeitnehmer jede beliebige Beschäftigung annehmen zu können, korrespondiert damit zugleich das Recht, sich im Aufnahmemitgliedstaat zur Ausübung der Beschäftigung aufhalten zu dürfen (vgl. Kurzidem in BeckOK, Ausländerrecht, Stand: 1.7.2021, Art. 6 ARB 1/80 Rn. 4). Dieses vom Europäischen Gerichtshof im Wege der Rechtsfortbildung entwickelte assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht ist somit abgeleiteter Natur. Es benötigt zu seinem Entstehen des Anknüpfungspunktes einer „ordnungsgemäßen Beschäftigung“ und besteht bei türkischen Arbeitnehmern grundsätzlich nur so lange, wie sie dem regulären Arbeitsmarkt angehören (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, a.a.O., Vorb. zu ARB 1/80 Anm. 2.6).
33
Der Kläger als türkischer Staatsangehöriger unterfällt grundsätzlich dem Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80. Jedoch erfüllt er die weiteren Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 nicht. Selbst wenn möglicherweise aufgrund einer Beschäftigung des Klägers im Zeitraum 1. September 2016 bis April 2019 ein Recht nach Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 entstanden sein sollte, besteht es mittlerweile nicht mehr. Der Kläger legte eine letzte Verdienstbescheinigung für April 2019 vor. Daher ist davon auszugehen, dass er seit Mai 2019 keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgeht und damit nicht mehr dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaates angehört. Nachweise für eine unverschuldete Arbeitslosigkeit oder Bewerbungen liegen nicht vor. Damit kann sich der Kläger auch nicht auf Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80 berufen, wonach ein erworbenes Recht aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erhalten bleibt, wenn sich Betroffene innerhalb eines angemessenen Zeitraums um eine Arbeitsstelle zu bemühen. Nach Ablauf eines angemessenen Zeitraums ist die Arbeitssuche als gescheitert anzusehen mit der Folge, dass der Betroffene den Arbeitsmarkt endgültig verlassen hat. Die Rechte aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erlöschen (vgl. BayVGH U.v. 29.10.2002 - 24 B 00.3274 - juris Rn. 33). Da keinerlei Bewerbungsbemühungen des Klägers ersichtlich sind, braucht in diesem Zusammenhang nicht geklärt werden, welcher Zeitraum im Falle des Klägers als angemessen anzusehen wäre (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, a.a.O, ARB 1/80 Art. 6 Rn. 91 ff.) Demnach ist insbesondere auch für ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich kein Raum (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2012 - 1 C 10/11 - BVerwGE 143, 38 juris Rn. 13 f. und 24). . Hinzu kommt, dass der Kläger aufgrund der Ablehnung seiner beantragten Aufenthaltserlaubnis mit dem Bescheid vom 7. April 2020 vollziehbar ausreisepflichtig wurde §§ 58 Abs. 2 Satz 2, 84 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AufenthG) und keinen legalen Aufenthalt in der Bundesrepublik nehmen konnte.
34
Nach alledem ist die Klage vollumfänglich abzuweisen.
35
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
36
Die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt geht zurück auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.