Inhalt

VGH München, Urteil v. 10.06.2022 – 10 B 22.244
Titel:

Aufenthaltsrecht des 35-jährigen Kindes eines türkischen Arbeitnehmers bei Unterhaltsgewährung

Normenketten:
AufenthG § 4 Abs. 2, § 4 Abs. 5 aF
EWG-Türkei Art. 7 S. 1
RL 2004/38/EG Art. 2 Abs. 2 lit. c
Leitsätze:
1. In der dauerhaften unentgeltlichen Aufnahme eines über 21-jährigen Kindes in den Haushalt eines dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angehörenden türkischen Arbeitnehmers bei freier Kost und Logis liegt eine Unterhaltsgewährung iSv Art. 2 Abs. 2 lit. c der Unionsbürgerrichtlinie (RL 2004/38/EG), die ein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 S. 1 EWG-Türkei vermitteln kann, wenn das Kind in Anbetracht seiner wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse aufkommt. (Rn. 24 – 32) (redaktioneller Leitsatz)
2. In der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG aF ist auch eine Nachzugsgenehmigung iSv Art. 7 S. 1 EWG-Türkei zu sehen. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Türkischer Staatsangehöriger, Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, Verwandter in absteigender gerader Linie, der das 21. Lebensjahr bereits vollendet hat, Unterhaltsgewährung, Nachzugsgenehmigung, ordnungsgemäßer Aufenthalt, Feststellungswirkung einer Bescheinigung nach § 4 Abs. 5 AufenthG a.F., türkischer Staatsangehöriger, Arbeitnehmer, Assoziationsabkommen, Familienangehöriger, Unterhalt
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 15.01.2020 – Au 6 K 19.1615
Fundstelle:
BeckRS 2022, 15344

Tenor

I. Unter Aufhebung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 15. Januar 2020 und des Bescheids des Beklagten vom 10. September 2019 wird der Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren auszustellen.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt mit seiner Berufung die Verpflichtung des Beklagten, seine Aufenthaltserlaubnis für die Dauer von fünf Jahren zu verlängern und ihm eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 AufenthG n.F. i.V.m. Art. 7 ARB 1/80 auszustellen.
2
Der 1987 in Deutschland geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Sein Vater war 1972 erstmals nach Deutschland eingereist und bis zum Renteneintritt im Mai 2022 durchgehend als Arbeitnehmer erwerbstätig. Der Kläger wohnte, abgesehen von Zeiten in Haft, immer im Haushalt seiner Eltern.
3
Der Kläger war zunächst bis zum 20. Juli 2006 im Besitz von befristeten Aufenthaltserlaubnissen, danach wurden ihm zunächst Fiktionsbescheinigungen erteilt. Seit seiner Jugend war er wiederholt straffällig und verbüßte mehrere Haftstrafen. Mit Bescheid vom 21. Januar 2008 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik ausgewiesen, der Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis wurde abgelehnt. In einem nachfolgenden Klageverfahren schlossen die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vom 8. Juli 2009 einen gerichtlichen Vergleich über eine sog. Bewährungsduldung. In diesem Vergleich nahm der Kläger die Klage zurück. Im Gegenzug verpflichtete sich der Beklagte, den Kläger unter bestimmten Voraussetzungen zu dulden und gegebenenfalls die Wirkungen der Ausweisung unter Verzicht auf eine vorherige Ausreise des Klägers zu „beschränken“. In der Folge wurden dem Kläger Duldungen erteilt.
4
Der Kläger absolvierte vom 14. September 2009 bis zum 30. Juni 2011 eine Ausbildung zum Fachlageristen und schloss diese ab. Über seine Anträge vom 27. April 2012 und vom 7. Juli 2014 auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis entschied der Beklagte wegen fehlender Lohnbescheinigungen und (im Falle des Antrags vom 7. Juli 2014) wegen eines ablaufenden Passes zunächst nicht. Nach Vorlage eines gültigen Reisepasses wurde dem Kläger eine vom 18. August 2015 bis zum 17. August 2018 gültige Aufenthaltsbescheinigung nach § 4 Abs. 5 AufenthG a.F. erteilt. In diesem Zeitraum (wie zuvor und danach) lebte der Kläger im Haushalt seines Vaters, Zeiten kurzfristiger Beschäftigungen von wenigen Monaten bei verschiedenen Zeitarbeitsfirmen wechselten mit Zeiten des Arbeitslosengeldbezugs und der Krankheit ab. Ab Juli 2018 ging er keiner Erwerbstätigkeit mehr nach. Ab 2016 war der Kläger erneut straffällig geworden und wurde (im Wesentlichen) wegen des Besitzes und der Abgabe von Betäubungsmitteln bzw. Leistungserschleichung zu mehreren Geldstrafen verurteilt. Seit dem 19. Juli 2019 steht er unter Betreuung.
5
Am 19. September 2018 und 2. Dezember 2018 beantragte der Kläger die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis. Nach Anhörung des Klägers lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 10. September 2019 den Antrag auf Verlängerung bzw. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab (Ziffer 1), verpflichtete den Kläger, die Bundesrepublik Deutschland bis zum 4. Oktober 2019 zu verlassen (Ziffer 2) und drohte die Abschiebung in die Türkei an (Ziffer 3). Aufschiebend bedingt für den Fall der Abschiebung wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet, das auf die Dauer von drei Jahren befristet wurde (Ziffer 4).
6
Hiergegen erhob der Kläger Klage, die das Verwaltungsgericht Augsburg mit Urteil vom 15. Januar 2020 abwies. Zur Begründung führte das Verwaltungsgericht aus, der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis stehe entgegen, dass der Lebensunterhalt des Klägers nicht gesichert sei und ein Ausweisungsinteresse bestehe. Dem Kläger stehe auch kein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei (ARB 1/80) zu. Sein ursprüngliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich ARB 1/80 sei durch die bestandskräftige Ausweisung erloschen. Ein neues Aufenthaltsrecht sei nicht entstanden. Ein Recht aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 scheitere daran, dass der Kläger kein ganzes Jahr bei demselben Arbeitgeber beschäftigt gewesen sei. Ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 sei nicht entstanden, da der Kläger das 21. Lebensjahr bereits vollendet habe und daher nicht mehr Angehöriger seines assoziationsberechtigten Vaters sei. Seine Ausbildung zum Lageristen verhelfe ihm schließlich nicht zu einem Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80, da er während der Ausbildung lediglich geduldet gewesen sei, ein Rechtserwerb nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 aber über den Wortlaut hinaus einen rechtmäßigen Aufenthalt voraussetze.
7
Seine vom Senat wegen besonderer tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zugelassene Berufung begründet der Kläger (durch vom Senat nachgelassene Verweisung auf sein Vorbringen im Zulassungsverfahren 10 ZB 20.480) im Wesentlichen damit, dass er sich auf ein Assoziationsrecht nach dem ARB 1/80 berufen könne. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Sache „Akman“ ergebe sich, dass Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 für einen Rechtserwerb ausschließlich zwei Voraussetzungen fordere. Eine dritte Voraussetzung, nämlich die eines rechtmäßigen Aufenthalts, sehe die Vorschrift entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht vor. Im Übrigen ergebe sich ein Anspruch des Klägers auf die Bescheinigung eines Aufenthaltsrechts auch aus dem gerichtlichen Vergleich vom 18. Juli 2009.
8
Der Kläger beantragt,
9
unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 15. Januar 2020 sowie des Bescheids des Beklagten vom 10. September 2019 den Beklagten zu verpflichten, die Aufenthaltserlaubnis des Klägers für fünf Jahre zu verlängern und ihm eine Aufenthaltsbescheinigung nach § 4 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 7 ARB 1/80 auszustellen,
10
hilfsweise, unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 15. Januar 2020 sowie des Bescheids des Beklagten vom 10. September 2019 den Beklagten zu verpflichten, den Antrag des Klägers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis vom 19. September 2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
11
Der Beklagte beantragt,
12
die Berufung zurückzuweisen.
13
Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Bescheinigung eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts. Der Prozessvergleich vom 18. Juli 2009 sei wirksam, das ursprüngliche assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht des Klägers damit erloschen. Danach sei ein Aufenthaltsrecht nicht wieder entstanden. Insbesondere seien die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 nicht erfüllt. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes insbesondere in der Rechtssache „Derin“ und einer systematischen Auslegung der Art. 6, 7, 9 und 14 ARB 1/80 ergebe sich, dass der Erwerb von Rechten nach Art. 7 ARB 1/80 über den Wortlaut hinaus einen rechtmäßigen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats voraussetze.
14
Am 28. September 2020 fand ein Erörterungstermin statt, in dem die Beteiligten übereinstimmend das Ruhen des Verfahrens für eine (letztlich gescheiterte) gütliche Einigung beantragten. Das Verfahren ruhte in Folge bis zum 27. Januar 2022.
15
Während des Berufungsverfahren wurde der Kläger erneut wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln bzw. wegen des Erschleichens von Leistungen strafrechtlich verurteilt. Nach einem vom Amtsgericht Günzburg im Strafverfahren eingeholten psychiatrischen Gutachten vom 28. Juni 2021 besteht beim Kläger eine langjährige Polytoxikomanie mit derzeit ärztlich überwachtem Substitutionsprogramm.
16
Am 25. April 2022 fand eine mündliche Verhandlung statt, in deren Folge der Senat am selben Tag einen Hinweisbeschluss zum möglichen Vorliegen eines Aufenthaltsrechts des Klägers nach Art. 7 Satz 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 fasste und den Beteiligten die Möglichkeit gab, hierzu Stellung zu nehmen. Der Beklagte hat hierzu geltend gemacht, der Kläger habe ein solches Recht nicht erwerben können, da er zu Beginn seines (wieder) ordnungsgemäßen Aufenthalts ab August 2015 seinen Lebensunterhalt durch eine eigene Erwerbstätigkeit habe sichern können und damit nicht wie erforderlich Angehöriger eines assoziationsberechtigten türkischen Arbeitnehmers sei, dem von dem Arbeitnehmer Unterhalt gewährt werde.
17
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf eine weitere mündliche Verhandlung verzichtet.
18
Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

19
Mit Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO ohne (weitere) mündliche Verhandlung.
20
Die zulässige Berufung des Klägers hat Erfolg.
21
Dabei kommt es letztlich nicht entscheidungserheblich darauf an, ob der Kläger sein ursprüngliches Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 1 ARB durch eine wirksame Rücknahme seiner Klage gegen die Ausweisungsverfügung vom 21. Januar 2008 verloren oder durch den Abschluss einer Berufsausbildung während seines geduldeten Aufenthalts eine neues Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 wieder erworben hat, und auch nicht darauf, ob der Kläger einen Anspruch auf die Erteilung bzw. Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis (allein) auf der Grundlage des nationalen Aufenthaltsrechts hat. Denn der Kläger hat jedenfalls (wieder) einen Anspruch auf die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 1 und 2 AufenthG i.d.F. des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes vom 15. Augsburg 2019 (BGBl. I S. 1307) i.V.m. Art. 7 Satz 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
22
1. Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 und 2 AufenthG wird einem Ausländer auf Antrag eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt, wenn ihm nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht. Nach Art. 7 Satz 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 können sich die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, auf jedes Stellenangebot im Aufnahmemitgliedstaat bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben. Nach einhelliger Auffassung folgt aus diesem Recht auch ein Aufenthaltsrecht (vgl. nur EuGH, U.v. 20.9.1990 - C-192/89 - Sevince - juris Rn. 29).
23
2. Die Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 waren im Fall des Klägers im (dreijährigen) Zeitraum zwischen dem 18. August 2015 und dem 17. August 2018 erfüllt.
24
a) Der Kläger war Familienangehöriger eines dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angehörenden türkischen Arbeitsnehmers.
25
Der Vater des Klägers war von 1972 bis zum Renteneintritt im Mai 2022 durchgehend ordnungsgemäß als Arbeitnehmer auf dem regulären Arbeitsmarkt beschäftigt.
26
Anders als vom Verwaltungsgericht angenommen, gibt es für den Begriff des Familienangehörigen in Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 keine starre Altersgrenze, vielmehr ist im Hinblick auf eine möglichst homogene Anwendung in den Mitgliedstaaten die Auslegung des gleichen Begriffs im Bereich der Freizügigkeit der Unionsbürger entsprechend heranzuziehen (EuGH, U.v. 30.9.2004 - C-275/02 - Ayaz - juris Rn 45). Hatte der Europäische Gerichtshof (a.a.O.) den Begriff des Familienangehörigen (ursprünglich) mit dem Familienbegriff des mittlerweile aufgehobenen Art. 10 Verordnung 1612/68/EWG gleichgestellt, kann heute zur Begriffsbestimmung Art. 2 Abs. 2 der RL 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) herangezogen werden (EuGH, U.v. 19.7.2012 - C-451/11 - Dülger - juris Rn. 49 ff.; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, ARB 1/80 Art. 7 Rn. 20). Familienangehörige sind demnach auch die Verwandten in gerader absteigender Linie, die zwar das 21. Lebensjahr bereits vollendet haben, denen aber noch Unterhalt gewährt wird (vgl. Art. 2 Abs. 2 Buchst. c) RL 2004/38/EG; vgl. auch § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c) FreizügG/EU).
27
Die Unterhaltsgewährung setzt in diesem Fall allerdings das Vorliegen eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses voraus (EuGH, U.v. 16.1.2014, C-423/12 - Reyes - juris Rn. 20). Um zu ermitteln, ob eine solche Abhängigkeit vorliegt, muss der Aufnahmemitgliedstaat prüfen, ob der 21 Jahre alte oder ältere Verwandte in gerader absteigender Linie in Anbetracht seiner wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse aufkommt (EuGH, U.v. 16.1.2014, C-423/12 - Reyes - juris Rn. 22). Weil die Vorschriften über die Freizügigkeit der Unionsbürger weit auszulegen sind, ist es dagegen nicht erforderlich, die Gründe für die Inanspruchnahme der entsprechenden Unterstützung zu ermitteln (EuGH, U.v. 16.1.2014, C-423/12 - Reyes - juris Rn. 23). Darüber hinaus kommt es hinsichtlich der Unterhaltsgewährung lediglich auf die tatsächlichen Verhältnisse an. Es muss ein dauerhafter, substantieller Beitrag zum Lebensunterhalt geleistet werden, die Gründe hierfür - insbesondere das Bestehen eines Unterhaltsanspruchs oder die grundsätzliche Möglichkeit des Angehörigen, sich selbst zu unterhalten - sind dabei nicht von Belang (EuGH, U.v. 18.6.1987 - 316/85 - Lebon - juris Rn. 19 ff.).
28
Gemessen daran liegt zur Überzeugung des Senats bereits in der - zwischen den Parteien unstreitigen - dauerhaften unentgeltlichen Aufnahme des Klägers in den Haushalt seines Vaters bei freier Kost und Logis eine Unterhaltsgewährung im Sinne der genannten Bestimmungen.
29
Soweit der Beklagte versucht, die Angehörigeneigenschaft des Klägers dadurch in Frage zu stellen, dass er mit Verweis auf den Sozialversicherungsverlauf und die Beschäftigungshistorie des Klägers dessen Unterhaltsbedarf und damit Abhängigkeit bestreitet, greift dies nicht durch. Ein isoliertes Abstellen auf die wirtschaftliche Lage des Klägers widerspräche der dargestellten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach für das Bestehen eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses neben der wirtschaftlichen Lage auch die soziale Situation des Angehörigen zu betrachten ist. Zudem setzt sich der Beklagte mit seinem Vortrag zur (zumindest phasenweisen) wirtschaftlichen Unabhängigkeit des Klägers in Widerspruch zu seinem eigenen Verhalten. Dem Kläger wurde vom Beklagten nach der Prüfung seiner Erwerbsituation (vgl. z.B. Bl. 647 der elektronischen Behördenakte) der Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 5 AufenthG als Familienangehörigem im Sinne des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erteilt (vgl. S. 22 des Ablehnungsbescheids, Bl. 868 der elektronischen Behördenakte sowie die Vermerke während der Bearbeitung des Antrags des Klägers auf Bl. 676 und 687 der elektronischen Behördenakte). Darüber hinaus hält der Beklagte dem Kläger noch im Ablehnungsbescheid vom 10. September 2019 entgegen, dass ihm eine nachhaltige Integration am deutschen Arbeitsmarkt nicht gelungen sei (vgl. 11 ff. des Bescheids, Bl. 857 ff. der elektronischen Behördenakte).
30
Tatsächlich bestand nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) zwischen dem Kläger und seinem Vater im Zeitraum der Gültigkeit seiner Aufenthaltserlaubnis vom 18. August 2015 und dem 17. August 2018 ein Abhängigkeitsverhältnis im dargestellten Sinn. Bei der insoweit erforderlichen Gesamtbetrachtung, die auch die bisherige (Erwerbs-)Biographie des Klägers mit zu berücksichtigen hat, war es dem Kläger in diesem Zeitraum auf Grund seiner wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht möglich, selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse zu sorgen. So war er bereits zwischen dem Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis am 7. Juli 2014 und ihrer Erteilung über annährend sechs Monate entweder gar nicht oder lediglich geringfügig beschäftigt. Auch in den folgenden Monaten und Jahren erzielte der Kläger lediglich monatsweise ein Einkommen bestenfalls in Höhe einer Vollzeitbeschäftigung im Mindestlohnbereich, wobei diese Erwerbstätigkeit immer wieder unterbrochen war durch Zeiten des Sozialleistungsbezugs und der Krankheit. Ab Januar 2016 ging der Kläger nur noch wochenweise einer Erwerbstätigkeit nach. Eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt während des gesamten Zeitraums der Gültigkeit seiner Aufenthaltserlaubnis lag offensichtlich nicht vor. Zum konkreten Unterhaltsbedarf des Klägers in dieser Zeit konnte der Senat zwar keine zuverlässigen Feststellungen treffen. Dass das Amtsgericht Günzburg im Urteil vom 10. Februar 2020 (Bl. 1208 der elektronischen Behördenakte) zu diesem Zeitpunkt Schulden des Klägers in Höhe von 4.000,- Euro festgestellt hat, spricht jedoch ebenso für die Annahme, dass der Kläger auch in den Jahren zuvor nicht in der Lage war, seinen Unterhaltsbedarf durch eine eigene Erwerbstätigkeit vollständig zu decken, wie einzelne aktenkundige Angaben des Klägers im Verfahren über die Erteilung seiner Aufenthaltserlaubnis (vgl. etwa Bl. 661 der elektronischen Verfahrensakte: „finanzielle Schwierigkeiten“).
31
Zudem hatte der Kläger auch in diesem Zeitraum keine von seinen Eltern unabhängige soziale Stellung. Der Kläger ist ledig und kinderlos und hat seit seiner Geburt (mit Ausnahme der Zeiten in Haft) zu keinem Zeitpunkt den elterlichen Haushalt verlassen. Spätestens ab dem 6. April 2016 befand er sich aufgrund einer (erneuten) Polytoxikomanie mit Opiatabhängigkeit in ärztlicher Behandlung (vgl. Bl. 1003 der elektronischen Behördenakte), seit dem 16. Juli 2019 steht er wegen dieser Erkrankung und einer schizophrenen Psychose unter Betreuung. Nach den Angaben seines Betreuers in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat die Notwendigkeit einer Betreuung bereits im Jahr 2011 bestanden.
32
Eine die Eigenschaft als Familienangehöriger, dem Unterhalt gewährt wird, ausschließende wirtschaftliche und soziale Stellung, die es ihm ermöglich hätte, seine Grundbedürfnisse selbst zu decken, hatte der Kläger damit im hier entscheidungserheblichen Zeitraum zwischen dem 18. August 2015 und 17. August 2018 nicht inne.
33
b) Der Kläger hat sich auch im Zeitraum vom 18. August 2015 bis zum 17. August 2018 für drei Jahre rechtmäßig und damit mit ordnungsgemäßem Wohnsitz im Sinne des Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 bei seinem Vater, der unstreitig Angehöriger des regulären Arbeitsmarktes in Deutschland war, aufgehalten. Für diesen Zeitraum war ihm vom Beklagten eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG a.F. erteilt worden. Selbst wenn die Voraussetzungen eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts nicht vorgelegen hätten, ergäbe sich die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im betreffenden Zeitraum schon aufgrund der Feststellungswirkung dieses Verwaltungsaktes (vgl. BVerwG, B.v. 2.12.2021 - 1 B 38.21 - juris Rn. 13; OVG Hamburg, B.v. 13.6.2019 - 4 Bs 110/19 - juris Rn. 16; SächsOVG, B.v. 13.10.2020 - 3 B 181/20 - juris Rn. 9; Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 4 Rn. 61 f.).
34
c) Schließlich liegt in dieser Aufenthaltserlaubnis auch die von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 verlangte Nachzugsgenehmigung. Zwar verlangte insbesondere die frühere Rechtsprechung hierfür eine Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung (vgl. etwa BayVGH, B.v. 4.2.1998 - 10 B 97.213 - juris Rn. 21 m.w.N.). Demnach solle es am Erfordernis der Nachzugsgenehmigung fehlen, wenn der Familienangehörige nur über ein fiktives, verfahrensmäßig begründetes Aufenthaltsrecht nach § 81 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 AufenthG verfügt, wenn er sich nur mit einem Visum bzw. visumfrei im Bundesgebiet aufhält oder er nur im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach §§ 23a und 25 Abs. 4 AufenthG ist (Übersicht bei Kurzidem, BeckOK AuslR, Stand 1.7.2021, EWG-Türkei Art. 7 Rn. 11 - m.w.N.). Ob hieran angesichts der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach „die Ausübung der Rechte, die den türkischen Staatsangehörigen nach dem Beschluss Nr. 1/80 zustehen, nicht davon ab(hängt), aus welchem Grund ihnen die Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung im Aufnahmemitgliedstaat ursprünglich erteilt wurde (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2016 - C-508/15 u. C-509/15 - Ucar u. Kilic - juris Rn 73 unter Verweis auf EuGH, U.v. 18.12.2008 - C-337/07 - Altun - juris Rn. 42 dort wiederum unter Verweis auf EuGH, U.v. 5.10.1994 - C-355/93 - Eroglu - juris Rn. 22), des Zwecks der Regelung, nur diejenigen Familienangehörigen auszuschließen, die unter Verstoß gegen die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaates in dessen Hoheitsgebiet eingereist sind und dort wohnen (EuGH, U.v. 21.12.2016 - C-508/15 u. C-509/15 - Ucar u. Kilic - juris Rn 58 f.; U.v. 11.11.2004 - C-467/02 - Cetinkaya - juris Rn 23.; vgl. zum Ganzen Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, ARB 1/80 Art. 7 Rn. 28 ff. m.w.N.) und offenerer Formulierungen in anderen Sprachfassungen (in der englischen Fassung: „who have been authorized to join him“) festzuhalten ist, kann dabei dahinstehen. Jedenfalls in der vorliegenden Konstellation, in der die Ausländerbehörde in Kenntnis des Umstandes, dass der Kläger aufgrund einer Duldung bei seinem ihm Unterhalt gewährenden assoziationsberechtigten Vater lebt, zuerst (mit Bescheid vom 17.1.2012) die Wirkungen einer Ausweisung unter Verzicht auf die vorherige Ausreise befristet und dann, ohne dass ein anderer Aufenthaltszweck ersichtlich wäre, den Aufenthalt bei seinem Vater durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG a.F. legalisiert, ist hierin auch eine Nachzugsgenehmigung im Sinne von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zu sehen. Die Gefahr der Umgehung der Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über die Einreise und den ersten Aufenthalt des Familienangehörigen besteht in dieser Konstellation nämlich nicht (ebenso VGH BW, U.v. 30.4.2008 - 11 S 1705/06 - juris Rn. 27).
35
3. Damit haben mit Ablauf des 17. August 2018 beim Kläger alle tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 7 Satz 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 vorgelegen. Da nicht ersichtlich ist, dass der Kläger dieses erworbene Recht in der Folge wieder verloren hätte, besteht es im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats unverändert fort. Demzufolge hat der Beklagte dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 Satz 1 und 2 AufenthG n.F. zu erteilen. Diese Aufenthaltserlaubnis muss eine Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren aufweisen (BVerwG, U.v. 22.5.2012 - 1 C 6.11 - juris Leitsatz 2 zu § 4 Abs. 5 AufenthG a.F.).
36
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
37
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff. ZPO.
38
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.