Titel:
Kostenerstattung für Jugendhilfeleistungen für junge Volljährige
Normenketten:
SGB VIII § 86a, § 89, § 89d
SGB I § 30 Abs. 3 S. 2
Leitsätze:
1. § 89d Abs. 4 SGB VIII sieht vor, dass die Verpflichtung zur Erstattung der aufgewendeten Kosten entfällt, wenn inzwischen für einen zusammenhängenden Zeitraum von drei Monaten Jugendhilfe nicht zu gewähren war. Aus der Formulierung "nicht zu gewähren war" ist zu schließen, dass die Erstattungspflicht nicht schon dann wegfällt, wenn mehr als drei Monate lang keine Jugendhilfeleistungen gewährt wurden, sondern dass für die Annahme einer Unterbrechung im obigen Sinne im relevanten Zeitraum tatsächlich kein Anspruch auf Jugendhilfe bestanden haben muss, sprich die materiell-rechtlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach der auch iRd SGB VIII heranzuziehenden Definition des § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt ist dabei nicht erforderlich, es genügt vielmehr, dass der Betreffende sich an dem Ort oder in dem Gebiet bis auf Weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat. (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kostenerstattung, Jugendhilfeleistungen nach Einreise, Örtliche Zuständigkeit für Hilfe für junge Volljährige, Geschützter Einrichtungsort, Inobhutnahme, Zäsur, gewöhnlicher Aufenthalt, betreute Wohnform
Fundstelle:
BeckRS 2022, 15185
Tenor
I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt vom Beklagten Kostenerstattung für die dem Hilfeempfänger S.H. im Zeitraum vom … … 2014 bis … … 2015 gewährten Jugendhilfeleistungen in Höhe von 64.307,96 EUR zuzüglich Zinsen.
2
Der am … … 1994 geborene Hilfeempfänger, afghanischer Staatsangehöriger, reiste am … … 2012 über den Flughafen … nach Deutschland ein. Am selben Tag wurde er vom Kläger in Obhut genommen und in der Erstaufnahmeeinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (***) in der … … in … untergebracht. Wie sich aus den vom Kläger vorgelegten Behördenakten ergibt, wohnte der Kläger wohl ab … … 2012 in der Erstaufnahmeeinrichtung (EA) für … in der …
3
Am … … 2012 übersandte die in der EA … in der … für die Betreuung der Flüchtlinge zuständige Innere Mission … dem Kläger einen Antrag des Hilfeempfängers auf Hilfe für junge Volljährige.
4
Mit Erreichen der Volljährigkeit am … … 2012 wurde die Inobhutnahme des Hilfeempfängers beendet. Mit der Regierung von Oberbayern wurde seitens des Klägers vereinbart, dass der Hilfeempfänger bis zur Abklärung seines Jugendhilfebedarfs weiterhin in der EA … in der … verbleiben könne.
5
Mit Schreiben vom … … 2012 teilte das Bundesverwaltungsamt dem Kläger mit, dass für den Hilfeempfänger das Landesjugendamt Berlin gem. § 89d SGB VIII als überörtlicher Träger der Jugendhilfe bestimmt worden sei.
6
Im Rahmen eines Hilfeplangesprächs beim Kläger am … … 2012 wurde beim Hilfeempfänger ein Hilfebedarf für junge Volljährige festgestellt und eine Unterbringung in einer sozialpädagogisch begleiteten Wohnform für notwendig erachtet.
7
Am … … 2012 - nachträglich nach §§ 41, 34 SGB VIII bewilligt mit Bescheid des Klägers vom 13. November - wurde der Hilfeempfänger in einer teilbetreuten Wohngruppe bei … … … … aufgenommen. Mit Bescheid vom 9. Oktober 2012 hatte die Regierung von Oberbayern ihm bereits seinen Wohnsitz entsprechend zugewiesen.
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Mit Schreiben vom 25. Oktober 2012 wandte sich der Kläger erstmals an den Beklagten und bat um Anerkennung von dessen Kostenerstattungspflicht gemäß § 89 SGB VIII für die Zeit ab Beginn der für S.H. erbrachten Jugendhilfeleistung am … … 2012. Der Hilfeempfänger habe vor Beginn der Leistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt in München gehabt. Dieser Aufenthalt sei jedoch in einer Einrichtung gewesen, sodass sich die Zuständigkeit nach dem Aufenthalt vor Aufnahme in die Einrichtung richte. Vor Aufnahme habe der Hilfeempfänger lediglich einen tatsächlichen Aufenthalt im Kreisgebiet des Klägers gehabt, weswegen dieser für die Hilfe für junge Volljährige gemäß § 86a Abs. 3 SGB VIII zuständig sei.
9
Mit Schreiben vom 19. Dezember 2012 teilte der Beklagte dem Kläger mit, seine Kostenerstattungspflicht für die von diesem gewährte Jugendhilfe für den Zeitraum vom … … 2012 bis … … 2013 auf Grundlage des § 89 SGB VIII anzuerkennen.
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Auf Mitteilung des Klägers vom 14. April 2014 hin, dass im Zeitraum vom … … 2012 bis zum … … 2014 für den Hilfeempfänger Kosten in Höhe von 65.307,94 EUR entstanden seien, überwies der Beklagte diesem am 9. Mai 2014 den entsprechenden Betrag.
11
Mit Bescheiden vom 23. Juni 2014 sowie vom 17. September 2014 verlängerte der Kläger die Hilfe für junge Volljährige für S.H. zunächst bis zum … … 2014 und sodann bis zum … … 2015.
12
Mit Schreiben vom … … 2014 meldete der Kläger beim Beklagten erneut Kostenerstattung an und bat um Überweisung von 24.305,64 EUR für die in der Zeit vom … … 2014 bis … … 2014 entstandenen Gesamtaufwendungen für den Hilfeempfänger.
13
Mit Schreiben vom 29. Januar 2015 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass das Kostenanerkenntnis vom 19. Dezember 2012 zurückgenommen werde. Die Voraussetzungen für eine Kostenerstattung gemäß § 89 SGB VIII hätten ab dem … … 2012 nicht mehr vorgelegen, da die örtliche Zuständigkeit auf der Zuweisungsentscheidung der Regierung von Oberbayern vom 9. Oktober 2012 und nicht auf dem tatsächlichen Aufenthalt beruht habe.
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Der Kläger erwiderte hierauf mit Schreiben vom 11. Februar 2015 dass sich die Zuständigkeit für die Inobhutnahme vom … … 2012 bis … … 2012 durch den Kläger aus § 87 SGB VIII ergeben habe, da der Hilfeempfänger über den Flughafen … eingereist und dort vom Kläger in Obhut genommen worden sei. Der Hilfeempfänger sei sodann in der … in … untergebracht worden. Im Zeitraum vom … … 2012 bis 2** … 2012 habe der Hilfeempfänger keine Jugendhilfe erhalten, er sei jedoch im …Bereich der Erstaufnahmeeinrichtung … durch die Innere Mission betreut worden. Im Hinblick auf die ab dem … … 2012 gewährte Hilfe für junge Volljährige in Form der Heimerziehung gemäß §§ 41, 34 SGB VIII richte sich die örtliche Zuständigkeit nach § 86a SGB VIII. Grundsätzlich sei gemäß dessen Abs. 1 der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich der junge Volljährige vor Beginn der Leistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe. Der Hilfeempfänger S.H. sei in der Erstaufnahmeeinrichtung … in der … … untergebracht worden. Unterstelle man dort einen gewöhnlichen Aufenthalt, gelte der Schutz der Einrichtungsorte aus Abs. 2, womit der tatsächliche Aufenthalt vor Aufnahme in eine Einrichtung maßgeblich sei. Dieser sei am Flughafen … im Kreisgebiet des Klägers gewesen. Unterstelle man, dass der Hilfeempfänger in der Erstaufnahmeeinrichtung keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet habe, komme es auf den tatsächlichen Aufenthalt vor Beginn der Leistung an. Da gemäß Abs. 3 2. HS. auch hier der Schutz der Einrichtungsorte gelte, komme man wieder zum Flughafen … Gemäß § 89 SGB VIII sei der Beklagte daher weiter zu Kostenerstattung verpflichtet.
15
Die Hilfe für junge Volljährige in Form der Heimunterbringung für S.H. wurde im Folgenden vom Kläger mit Bescheid vom 19. Mai 2015 für die Zeit bis zum … … 2015 verlängert.
16
Mit Schreiben vom 18. Juni 2015 forderte der Beklagte vom Kläger die für S.H. für den Zeitraum … … 2012 bis … … 2014 erstatteten Aufwendungen in Höhe von 65.107,94 EUR gemäß § 112 SGB X zurück.
17
Mit Schreiben vom 24. Juli 2015 teilte der Kläger dem Beklagten daraufhin mit, dass eine Rückerstattung abgelehnt werde. Die ab … … 2012 erfolgte Zuweisung zur Landeshauptstadt München habe keine Auswirkungen auf die Zuständigkeit gehabt, da § 86 Abs. 7 SGB VIII auf Volljährige nicht anwendbar sei.
18
Mit Schreiben vom 9. März 2016 teilte der Kläger dem Beklagten mit, dass die Jugendhilfe für S.H. mit Wirkung ab … … 2015 beendet worden sei und forderte den Beklagten auf, die im Zeitraum vom … … 2014 bis … … 2015 entstandenen Gesamtaufwendungen in Höhe von 40.002,32 EUR zu erstatten.
19
Im Folgenden rief der Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 25. April 2016 sowie vom 8. und 20. Juni 2016 nochmals zur Rückerstattung auf.
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Nach weiterem Schriftverkehr lehnten die Beteiligten ihre wechselseitigen (Rück-)Erstattungsansprüche jeweils weiterhin ab.
21
Am 17. Dezember 2018 erhob der Beklagte Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München und beantragte, den Kläger zu verpflichten, dem Beklagten die für den Hilfeempfänger im Zeitraum vom … … 2012 bis … … 2014 erstatteten Jugendhilfeaufwendungen in Höhe von 65.307,94 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zurückzuerstatten (M 18 K 18.6147). Über das Verfahren wurde noch nicht entschieden.
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Am 18. Dezember 2017 erhob der Kläger ebenfalls Klage mit dem Antrag:
23
Der Beklagte wird verpflichtet, die im Fall S.H., geb. am … … 1994, in der Zeit vom … … 2014 bis … … 2015 dem Kläger entstandenen Jugendhilfekosten in Höhe von 64.307,96 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5% über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu erstatten.
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Unter Wiederholung der bereits vorgebrachten Argumente führte der Kläger zur Begründung aus, dass der betreute Aufenthalt des Hilfeempfängers im …-Bereich der … als Aufenthalt in einer Einrichtung, die im Sinne des § 86a Abs. 2 SGB VIII der Erziehung diene, gesehen werden könne. In Hinblick auf den Normzweck, solche kommunalen Gebietskörperschaften zu schützen, in deren Zuständigkeitsbereich Einrichtungen mit längerer Aufenthaltsdauer gelegen seien, sei der Begriff der „Einrichtung“ weit auszulegen. Voraussetzung sei, dass die Hilfe in einer Einrichtung/Wohnform nach einem vom Träger der Hilfe verantworteten (teil-)stationären Hilfekonzept erfolge, also keine selbstständige Lebensführung des Hilfeempfängers vorliege. Auch der Aufenthalt in der … falle demnach hierunter. Das Jugendamt des Klägers sei damit nach § 86a Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 SGB VIII örtlich für die Leistung an den jungen Volljährigen zuständig gewesen. Damit stehe dem Kläger gegenüber dem Beklagten im streitgegenständlichen Zeitraum ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 89 SGB VIII zu.
25
Mit Schriftsatz vom 10. Januar 2019 nahm der Beklagte zur Klage Stellung und beantragte,
27
Zur Begründung wurde vorgetragen, dass der Hilfeempfänger vor Aufnahme in die betreute Wohngemeinschaft seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Erstaufnahmeeinrichtung in München gehabt habe. Bei dieser handele es sich nicht um einen geschützten Einrichtungsort im Sinne von § 86a Abs. 2 SGB VIII. Maßgebend für eine Einrichtung oder sonstige Wohnform in diesem Sinne sei der Umstand, dass die dem jungen Volljährigen zugutekommende Hilfe und Betreuung auf einem vom Träger der Einrichtung verantworteten Hilfekonzept basiere, das über die reine Gewährung eines Obdachs und die bloße Vorhaltung von Beratungsangeboten, die nach Eigeninitiative der Bewohner freiwillig in Anspruch genommen werden könnten, hinausgehe. Ein solches Hilfekonzept sei in Bezug auf die … nicht ersichtlich. Die möglicherweise durch die Innere Mission erbrachten Leistungen würden zu keiner anderen Bewertung führen, da es sich bei dieser nicht um den Betreiber der Einrichtung, sondern um einen externen Dritten handele.
28
Mit Beschluss vom 18. Januar 2018 wurde die Landeshauptstadt München zum Verfahren beigeladen.
29
Die Beigeladene nahm mit Schriftsatz vom 4. März 2021 zum Verfahren Stellung und führte aus, dass sie sich der Rechtsauffassung des Klägers anschließe. Nach Ansicht der Beigeladenen handele es sich bei der … … in der … um eine geschützte Einrichtung im Sinne des § 86a Abs. 2 SGB VIII. Entscheidend sei diesbezüglich, dass sich die Wohnform auf ein in sich schlüssiges Konzept angebotener Maßnahmen stütze, das den Aufenthaltszweck einer Betreuung verfolge und dessen Umsetzung gewährleiste. Die Schaffung der … … habe ab dem Jahr 2005 dazu dienen sollen, für … im Alter von 16 und 17 Jahren im Großraum … ein neues Aufnahme- und Betreuungssystem einzurichten, das insbesondere die Inobhutnahme, die Erstversorgung und die Abklärung des Hilfebedarfs durch den Sozialdienst der Inneren Mission in Kooperation mit dem Jugendamt und anderen Behörden zur Aufgabe gehabt habe. Somit sei die … … als geschützte Einrichtung zu betrachten. Die Beigeladene verwies im Übrigen auf ein dem Schriftsatz beigefügtes „Vier-Stufen-Konzept …“ des StMAS vom … … 2005 sowie weitere Konzepte zu den Zielen und Aufgaben sowie Inhalt und Umfang der Leistungen in der … …
30
Mit Schriftsatz vom 18. November 2021 teilte der Beklagte sein Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren mit. Der Kläger sowie die Beigeladene erklärten ebenfalls mit Schreiben vom 24. November bzw. 22. November 2021, auf mündliche Verhandlung zu verzichten.
31
Mit Schreiben vom 24. Mai 2022 zu den beiden Verfahren M 18 K … und M 18 K … wies das Gericht die Beteiligten auf den grundsätzlichen Vorrang des § 89d SGB VIII hin.
32
Mit Schriftsatz vom 7. Juni 2022 zum Verfahren M 18 K … führte der Beklagte zu den Voraussetzungen des § 89d Abs. 4 SGB VIII aus, dass neben einem jugendhilferechtlichen Bedarf auch abrechenbare Unterstützungsleistungen im Sinne des SGB VIII vorliegen müssten, da nur tatsächlich angefallene Kosten übernommen werden könnten.
33
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakten im vorliegenden Verfahren und dem Verfahren M 18 K … sowie auf die vorgelegten Behördenakten zu den Verfahren verwiesen.
Entscheidungsgründe
34
Die zulässige Klage, über die das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist unbegründet.
35
Der geltend gemachte Anspruch des Klägers auf Kostenerstattung gegen den Beklagten gemäß § 89 SGB VIII besteht nicht. Dieser ist nach § 89d Abs. 5 SGB VIII vom vorrangigen Kostenerstattungsanspruch des § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII verdrängt, welcher nicht zu einem Erstattungsanspruch gegen den Beklagten führt.
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§ 89d Abs. 5 SGB VIII sieht vor, dass Kostenerstattungsansprüche nach den Absätzen 1 bis 3 Ansprüchen nach den §§ 89 bis 89c und § 89e SGB VIII vorgehen. Die Voraussetzungen des vorrangigen § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind hier gegeben.
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Gemäß § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher Träger aufwendet, vom Land zu erstatten, wenn innerhalb eines Monats nach der Einreise eines jungen Menschen oder eines Leistungsberechtigten nach § 19 SGB VIII Jugendhilfe gewährt wird (Nr. 1) und sich die örtliche Zuständigkeit nach dem tatsächlichen Aufenthalt dieser Person oder nach der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde richtet (Nr. 2).
38
Für - wie hier - vor dem 1. November 2015 entstandene Kosten (vgl. die Ausschlussregelung in § 42d Abs. 4 SGB VIII) wurde gemäß § 89d Abs. 3 SGB VIII in der hier maßgeblichen Fassung vom 11. September 2012 das erstattungspflichtige Land auf der Grundlage eines Belastungsvergleichs vom Bundesverwaltungsamt bestimmt. Laut Schreiben des Bundesverwaltungsamts vom … … 2012 lag die Erstattungspflicht hier beim Land Berlin.
39
Der Kläger hat vorliegend im Sinne des § 89d Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII Jugendhilfe nach der Einreise gewährt:
40
Der Leistungsempfänger wurde noch am Tag seiner Einreise nach Deutschland am … … 2012 gemäß § 42 SGB VIII vom Kläger in Obhut genommen. Als sog. andere Aufgabe nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII wird die Inobhutnahme neben den Leistungen der Jugendhilfe nach § 2 Abs. 2 SGB VIII ebenfalls von dem in § 89d Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII verwendeten Begriff „Jugendhilfe“ umfasst (vgl. Loos in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 89d Rn. 4; Streichsbier in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. Stand: 3.12.2020, § 89d Rn. 6). Ab … … 2012 wurde S.H. sodann Hilfe für junge Volljährige gewährt. Obgleich zwischen der Beendigung der Inobhutnahme am … … 2012 und dem Beginn der Hilfe für junge Volljährige ein Zeitraum von über vier Monaten liegt, in dem formal keine Leistungen der Jugendhilfe für S.H. erbracht wurden, ist auch die Hilfe für junge Volljährige noch als erstattungspflichtige Leistung nach der Einreise im Sinne des § 89d SGB VIII zu sehen. Eine Zäsur gemäß § 89d Abs. 4 SGB VIII, welche die Erstattungspflicht des Landes entfallen ließe, liegt hier entgegen der Auffassung beider Beteiligter nicht vor; vielmehr ist der Zeitraum vom … … 2012 bis zur Beendigung der Leistungsgewährung im Juli 2015 im Rahmen der Kostenerstattung nach § 89d SGB VIII als ein einheitlicher Zeitraum zu betrachten.
41
§ 89d Abs. 4 SGB VIII sieht vor, dass die Verpflichtung zur Erstattung der aufgewendeten Kosten entfällt, wenn inzwischen für einen zusammenhängenden Zeitraum von drei Monaten Jugendhilfe nicht zu gewähren war. Aus der Formulierung „nicht zu gewähren war“ ist zu schließen, dass die Erstattungspflicht nicht schon dann wegfällt, wenn mehr als drei Monate lang keine Jugendhilfeleistungen gewährt wurden, sondern dass für die Annahme einer Unterbrechung im obigen Sinne im relevanten Zeitraum tatsächlich kein Anspruch auf Jugendhilfe bestanden haben muss, sprich die materiell-rechtlichen Voraussetzungen nicht vorgelegen haben (vgl. Kunkel/Pattar in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 89d Rn. 10; Streichsbier in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., Stand: 3.12.2020, § 89d Rn. 18; OVG NW, U.v. 17.4.2002 - 12 A 4007/00 - juris Rn. 34).
42
Vorliegend dürfte unstreitig sein, dass bei S.H. im Zeitraum nach der Beendigung der Inobhutnahme ein jugendhilferechtlicher Bedarf bestand. Im Hilfeplanprotokoll vom … … 2012 wurde als notwendige und geeignete Art der Hilfe ausdrücklich Hilfe für junge Volljährige in Form der Heimerziehung bzw. der Unterbringung in einer sonstigen betreuten Wohnform festgestellt. Wie den vorgelegten Behördenakten des Klägers zu entnehmen ist, konnte dem Leistungsempfänger jedoch mangels Verfügbarkeiten erst ab … … 2012 ein Platz in einer geeigneten Einrichtung angeboten werden.
43
S. H. war demnach seit der Inobhutnahme unmittelbar nach seiner Einreise ununterbrochen Jugendhilfe zu gewähren. Entsprechend ist die ab … … 2012 bewilligte Hilfe für junge Volljährige immer noch dem Jugendhilfebedarf im Zusammenhang mit der Einreise des Hilfeempfängers zuzurechnen und ein zwischenzeitliches Entfallen der Kostenerstattungspflicht nach § 89d Abs. 4 SGB VIII zu verneinen. Der Einwand des Beklagten im Schriftsatz vom 7. Juni 2022, wonach für die Kostenerstattungspflicht nach § 89d SGB VIII abrechenbare Unterstützungsleistungen stattfinden müssten, da ohne tatsächliche Leistungserbringung auch keine Kosten hätten übernommen werden könnten, geht im Übrigen an der Sache vorbei. Es ist unbestritten, dass im Rahmen des § 89d SGB VIII nur Kosten - wie die streitgegenständlichen Kosten für die Hilfe für junge Volljährige ab … … 2012 - erstattet werden können, die auch tatsächlich angefallen sind. Sofern der Beklagte darüber hinaus zum Ausdruck bringen wollte, dass ein Zurechnungszusammenhang nur dann bestehe, wenn auch im „Unterbrechungszeitraum“ grundsätzlich abrechnungsfähige Jugendhilfeleistungen erbracht worden seien, findet diese Auslegung des § 89d Abs. 4 SGB VIII keine Stütze im Gesetz und kann auch sonst nicht nachvollzogen werden.
44
Des Weiteren richtete sich, wovon auch der Kläger ausgeht, die örtliche Zuständigkeit für die erbrachte Hilfe nach dem tatsächlichen Aufenthalt des Hilfeempfängers, § 89d Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII.
45
Unabhängig davon, ob man hierfür auf die Inobhutnahme des Leistungsempfängers nach § 42 SGB VIII am … … 2012 oder erst auf dessen Aufnahme in die betreute Wohnform gemäß §§ 41, 34 SGB VIII am … … 2012 abstellt, knüpft die Zuständigkeit in beiden Fällen an den tatsächlichen Aufenthalt des Leistungsempfängers im Zuständigkeitsbereich des Klägers an.
46
Die Zuständigkeit des Klägers für die Inobhutnahme des Leistungsempfängers ergab sich aus § 87 Satz 1 SGB VIII, welcher auf den tatsächlichen Aufenthalt abstellt (die Sonderregelung in § 88a SGB VIII trat erst zum 1.11.2015 in Kraft und ist damit auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, vgl. VG München, U.v. 10.11.2021 - M 18 K 17.3372 - unveröffentlicht, Rn. 39 ff.).
47
Die örtliche Zuständigkeit für die Unterbringung des Leistungsempfängers in der betreuten Wohnform im Rahmen der Hilfe für junge Volljährige bestimmt sich ebenfalls nach dem tatsächlichen Aufenthalt des Leistungsempfängers.
48
Für Leistungen an junge Volljährige nach § 41 SGB VIII ist gemäß § 86a Abs. 1 SGB VIII grundsätzlich der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich der junge Volljährige vor Beginn der Leistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Hält sich der junge Volljährige in einer Einrichtung oder sonstigen Wohnform auf, die der Erziehung, Pflege, Betreuung, Behandlung oder dem Strafvollzug dient, so richtet sich abweichend hiervon die örtliche Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt vor der Aufnahme in eine Einrichtung oder sonstige Wohnform, § 86a Abs. 2 SGB VIII. Hat der junge Volljährige keinen gewöhnlichen Aufenthalt, so richtet sich die Zuständigkeit gemäß § 86a Abs. 3 SGB VIII nach seinem tatsächlichen Aufenthalt zu dem in Absatz 1 genannten Zeitpunkt, wobei die Anwendung von Absatz 2 unberührt bleibt.
49
Vor der Aufnahme des Leistungsempfängers bei c. e.V. am … … 2012 bestand ein gewöhnlicher Aufenthalt des Leistungsempfängers in der … im Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen.
50
Nach der auch im Rahmen des SGB VIII heranzuziehenden Definition des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt ist dabei nicht erforderlich, es genügt vielmehr, dass der Betreffende sich an dem Ort oder in dem Gebiet bis auf weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (vgl. BVerwG, U.v. 2.4.2009 - 5 C 2/08 - juris, Rn. 22).
51
Der Leistungsempfänger lebte ab dem 29. Mai 2012 zunächst im Rahmen seiner Inobhutnahme und sodann auch im Folgenden bis zu seiner Aufnahme bei c. e.V.in der EA … in der …, durchlief dort die Clearingphase und hatte - er war ohne Begleitung seiner Familie alleine nach Deutschland gekommen - dort den Mittelpunkt seines neuen Lebens. Zwar war sein Verbleib nicht auf Dauer ausgelegt, jedoch stand zunächst eine Anschlussunterbringung noch nicht fest und sein Aufenthalt in der Unterkunft war zumindest zukunftsoffen. Ein gewöhnlicher Aufenthalt war demnach nach obigen Maßstäben anzunehmen.
52
Der gewöhnliche Aufenthalt bestand jedoch i.S.d. § 86a Abs. 2 SGB VIII in einer Einrichtung bzw. sonstigen Wohnform, die der Betreuung dient, sodass sich die örtliche Zuständigkeit grundsätzlich nach dem vorhergehenden gewöhnlichen Aufenthalt des Hilfeempfängers beurteilt.
53
Um einen umfassenden Schutz der für die Einrichtungsorte zuständigen Jugendhilfeträger zu erreichen, sind die Tatbestandvoraussetzungen des § 86a Abs. 2 SGB VIII grundsätzlich weit auszulegen. In Hinblick auf den in § 86a Abs. 2 SGB VIII genannten Aufenthaltszweck der Betreuung ist entscheidend, dass sich die Wohnform auf ein in sich schlüssiges Konzept angebotener Maßnahmen stützt, das den Aufenthaltszweck einer Betreuung verfolgt und dessen Umsetzung gewährleistet (vgl. BayVGH, U.v. 19.7.2006 - 12 BV 04.1238 - juris, Rn. 20). Kennzeichen einer solchen Einrichtung oder Wohnform ist es des Weiteren im Allgemeinen, dass die betroffene Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt an diesem Ort nicht im Rahmen eines regulären Umzugs dorthin, sondern auf andere Weise begründet hat (Eschelbach in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 89e Rn. 6, Loos in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 89e Rn. 6). Nicht erheblich ist es, ob in der Einrichtung bereits Jugendhilfeleistungen erbracht wurden; auch Einrichtungen, in denen keine Leistungen der Jugendhilfe gewährt werden, sind umfasst (Loos in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 86a Rn. 7; Kunkel/Kepert in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, Rn. 4).
54
Gemessen hieran dient die … … in der … der Betreuung der dort untergebrachten jungen Menschen. Dem von der Beigeladenen vorgelegten Konzept der Diakonie … und Oberbayern - Innere Mission … … zu den Zielen und Aufgaben sowie Inhalt und Umfang der Leistungen in den … … ist eine umfangreiche Hilfestruktur zu entnehmen. In den jeweiligen Aufnahmeeinrichtungen findet demnach die Inobhutnahme der ankommenden unbegleiteten Jugendlichen, die Erstversorgung, die Hilfebedarfsabklärung und im Anschluss die Verteilung nach einem Vierstufenkonzept des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales statt. Als Leistungen sind im Konzept des Weiteren die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt und dem Vormund, die Zusammenarbeit mit dem Ausländeramt und sonstigen Behörden, und die Sprachförderung genannt. Daneben würden SozialpädagogInnen die minderjährigen Flüchtlinge im Alltag betreuen, was unter anderem ein Bezugsbetreuersystem, sinnvolle Freizeitangebote, nächtliche Bereitschaft, Aufarbeitung der Fluchtereignisse, Betreuung im Krankheitsfall, Strukturierung des Alltags, Beratung und Betreuung während des Asylverfahrens etc. umfasse. Grundsätzlich finde eine „Rund-um-die Uhr-Betreuung“ statt. Eine Einrichtung im Sinne des § 86a Abs. 2 SGB VIII, die über die reine Gewährung von Obdach oder der bloßen Vorhaltung von Beratungsangeboten hinaus geht, liegt damit eindeutig vor. Dass es sich bei der Inneren Mission, die vorliegend die Betreuungsleistungen in der … … in der … erbracht hat, nicht - wie der Beklagte vorbringt - um den „Betreiber“/Träger der Einrichtung gehandelt haben dürfte, ist dabei unerheblich. Es ist ausreichend, dass das genannte Hilfekonzept, insbesondere die pädagogische Versorgung der Jugendlichen durch entsprechende Fachkräfte, wie hier von den freien Trägern als Leistungserbringern verantwortet und in eigener Regie umgesetzt wird. Da es im Rahmen des § 86a Abs. 2 SGB VIII nur darauf ankommt, ob die konkrete Unterbringung den Begriff einer geschützten Einrichtung als solchen erfüllt, ist es des Weiteren unerheblich, ob der Hilfeempfänger, nachdem er mit Erreichen der Volljährigkeit nicht mehr zur eigentlichen Zielgruppe der Einrichtung gehörte, die entsprechenden wohl fakultativen Betreuungsangebote auch wahrgenommen hat (vgl. BayVGH, U.v. 19.7.2006 - 12 BV 04.1238 - juris, Rn. 22).
55
Darüber hinaus spricht auch die Tatsache, dass der Kläger den Hilfeempfänger bereits für den Großteil des Inobhutnahmezeitraums in der … … in der … untergebracht hat, für die Einordnung derselben als nach § 86a Abs. 2 SGB VIII geschützter Einrichtungsort. In Hinblick auf die Unterbringung von Minderjährigen dürfte von einer nicht unerheblichen Betreuungsintensität, die jedenfalls über das reine Gewähren von Obdach hinausgeht, auszugehen sein.
56
Die örtliche Zuständigkeit bestimmt sich daher vorliegend nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Hilfeempfängers vor Aufnahme in die … … in der … Vor der Aufnahme besaß der Hilfeempfänger jedoch keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, da er erst kurz zuvor von Griechenland aus nach Deutschland eingereist war. Die Zuständigkeit richtet sich daher vorliegend gemäß § 86a Abs. 3 SGB VIII nach dem tatsächlichen Aufenthalt zu diesem Zeitpunkt. Dieser bestand im Zuständigkeitsbereich des Klägers bei Einreise über den Flughafen München.
57
Die Voraussetzungen des § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII liegen damit vor. Es bestand daher ein vorrangiger Erstattungsanspruch des Klägers gegen das vom Bundesverwaltungsamt gemäß § 89d Abs. 3 Satz 1 SGB VIII a.F. als Kostenerstattungsträger bestimmte Land Berlin. Der geltend gemachte Anspruch nach § 89 SGB VIII ist hingegen verdrängt. Andere Erstattungsansprüche gegen den Beklagten kommen vorliegend nicht in Betracht.
58
Die Klage war demnach abzuweisen.
59
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis bestimmen sich nach § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.