Titel:
Kostenerstattung, Örtliche Zuständigkeit, Ruhen der Personensorge
Normenketten:
SGB VIII § 89c Abs. 1
SGB VIII § 86c Abs. 1
SGB VIII § 86 Abs. 5 S. 2
Schlagworte:
Kostenerstattung, Örtliche Zuständigkeit, Ruhen der Personensorge
Rechtsmittelinstanz:
BVerwG Leipzig, Urteil vom 25.04.2024 – 5 C 12.22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 15183
Tenor
I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
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Die Klägerin begehrt vom Beklagten Kostenerstattung für die dem Hilfeempfänger A. im Zeitraum vom … … 2017 bis … … 2018 gewährten Jugendhilfeleistungen zuletzt in Höhe von 98.056,82 EUR nebst Zinsen.
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Die Klägerin gewährte zugunsten des am … … 2002 geborenen Hilfeempfängers A. im Zeitraum vom … … 2007 bis zum … … 2018 verschiedene Leistungen der Jugendhilfe.
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Der Hilfeempfänger lebte zunächst bei seiner Mutter in … Sein Vater befand sich seit Februar 2006 in Haft im Landkreis … Mit Bescheid vom 13. März 2007 bewilligte die Klägerin den zu diesem Zeitpunkt gemeinsam sorgeberechtigten Eltern des Hilfeempfängers erstmals Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung gemäß §§ 27, 34 SGB VIII in der Wohngruppe E.
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Im Folgenden wechselte A. mehrfach die Einrichtung. Ab dem 1. März 2012 wurde die bisher als Hilfe zur Erziehung erbrachte Heimunterbringung von der Klägerin im Rahmen des § 35a SGB VIII weitergeführt.
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Mit Beschluss des AG Esslingen - Familiengericht - vom 27. April 2012 wurde das Ruhen der Personensorge der Kindsmutter angeordnet.
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Nachdem der Hilfeempfänger am … … 2017 die Jugendhilfeeinrichtung, in welcher er zu diesem Zeitpunkt wohnte, wegen verschiedener Regelverstöße verlassen musste, wurde er am selben Tag vom Jugendamt … in Obhut genommen und in der Jugendhilfeeinrichtung M. untergebracht.
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Mit Beschluss des AG … - Familiengericht - vom … … 2017 wurde das Ruhen der Personensorge auch des Vaters des Hilfeempfängers angeordnet und das Jugendamt … als Vormund eingesetzt. Der Vater des Hilfeempfängers befand sich zu diesem Zeitpunkt in der JVA … im Landkreis … Die Mutter des Hilfeempfängers wohnte in … im Kreisgebiet des Beklagten.
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Am 31. Mai 2017 wurde die Inobhutnahme durch das Jugendamt … beendet. Auf Antrag des Vormundes wurde A. mit Bescheid der Klägerin vom 21. Juli 2017 rückwirkend ab 1. Juni 2017 Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in Form der (weiteren) Unterbringung in der Jugendhilfeeinrichtung M. bewilligt. Ab 9. August 2017 erhielt A. des Weiteren eine intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung nach §§ 27, 35 SGB VIII.
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Mit Schreiben vom 21. Juli 2017 bat die Klägerin den Beklagten um Übernahme des Hilfefalls und Erstattung der ab dem … … 2017 anfallenden Kosten. Nach dem Beschluss des AG … - Familiengericht - vom … … 2017 liege die örtliche Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII beim Beklagten, da die Kindsmutter in dessen Zuständigkeitsbereich wohnhaft sei.
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Mit Schreiben vom 27. Oktober 2017 lehnte der Beklagte die Fallübernahme ab und führte aus, dass die Klägerin weiterhin nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt.1 SGB VIII zuständig sei. Das Ruhen des Sorgerechts komme einem Entzug nicht gleich.
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Erneute Aufforderungen zur Kostenerstattung lehnte der Beklagte im Folgenden ab.
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Am … … 2018 wurden die erbrachten Jugendhilfeleistungen wegen der Inhaftierung von A. beendet.
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Mit Schriftsatz vom 15. Mai 2018, eingegangen am 23. Mai 2018, erhob die Klägerin Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München mit dem Antrag:
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Der Beklagte wird verpflichtet, die der Klägerin für Jugendhilfeleistungen nach § 35a SGB VIII in der Zeit ab dem … … 2017 bis … … 2018 entstandenen Jugendhilfekosten in Höhe von 98.358,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass ein Anspruch der Klägerin auf Kostenerstattung nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII bestehe. Es habe ursprünglich eine örtliche Zuständigkeit der Klägerin nach § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII bestanden, da beide Elternteile des Hilfeempfängers über verschiedene gewöhnliche Aufenthalte verfügt hätten, indes der allein personensorgeberechtigte Vater seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich der Klägerin gehabt habe. Diese Zuständigkeit sei mit dem Ruhen der bislang alleinigen elterlichen Sorge des Kindsvaters mit Beschluss des Amtsgerichts … - Familiengericht - vom … … 2017 nachträglich entfallen. Hätten nämlich die Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte und stehe die Personensorge keinem Elternteil zu, gelte § 86 Abs. 2 und 3 SGB VIII entsprechend. Somit habe sich vorliegend eine Änderung der örtlichen Zuständigkeit für die Hilfegewährung ab dem Zeitpunkt der familiengerichtlichen Entscheidung ergeben. Die zuständigkeitsrechtlich maßgebliche Kindsmutter sei bereits am … … 2015 in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten gezogen. § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII greife vorliegend nicht, da die Eltern bereits zu Beginn der Hilfeleistung im Jahr 2007 verschiedene gewöhnliche Aufenthalte gehabt hätten. Denn mit der Neufassung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII zum 1. Januar 2014 werde nun in vollem Umfang auf die Voraussetzungen des § 86 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII Bezug genommen, welcher ein (erstmaliges) Begründen verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte nach Leistungsbeginn vorsehe. Im Übrigen bestehe Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren.
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Mit Schriftsatz vom 12. September 2018 nahm der Beklagte zur Klage Stellung und beantragte,
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Zur Begründung wurde vorgetragen, dass sich die örtliche Zuständigkeit entgegen der Auffassung der Klägerin seit dem … … 2017 aus § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII ergebe und die Klägerin demnach auch weiterhin zur Gewährung der Hilfe verpflichtet sei. Ein Erstattungsanspruch gemäß § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII scheide somit aus.
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Mit Schriftsatz vom 18. November 2021 erklärte der Beklagte sein Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren.
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Mit Schriftsatz vom 20. Januar 2022 teilte die Klägerin mit, dass sich nach nochmaliger Berechnung der mit der Klage geltend gemachte Betrag insgesamt auf nur 98.056,82 EUR belaufe. Nach der von der Klägerin vorgelegten Kostenaufstellung setzt sich dieser Betrag aus den Kosten für die Unterbringung in der Jugendhilfeeinrichtung, den Kosten für die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung sowie für die Erstattung der Inobhutnahmekosten an das Jugendamt … abzüglich Kindergeld zusammen.
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Mit Schriftsatz vom 7. Februar 2022 machte der Beklagte ergänzende Ausführungen zur Klageerwiderung.
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Mit Schreiben vom 12. Mai 2022 wies das Gericht die Beteiligten auf die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zu § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alternative SGB VIII (U.v. 10.2.2022 - 12 BV 20.217 - juris) hin.
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Mit Schriftsatz vom 7. Juni 2022 führte die Klägerin aus, die vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vertretene weite Auslegung des § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alternative SGB VIII abzulehnen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie auf die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage, über die das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist unbegründet.
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Nach sachdienlicher Auslegung des klägerischen Begehrens gemäß § 88 VwGO ist davon auszugehen, dass sich die Erstattungsforderung des Klägers auf alle Kosten bezieht, die im Zeitraum vom … … 2017 bis … … 2018 für den streitgegenständlichen Hilfefall angefallen sind. Zwar wurde in der Klageschrift lediglich Erstattung für „nach § 35a SGB entstandene Jugendhilfekosten“ beantragt, jedoch ergibt sich aus der weiteren Klagebegründung, insbesondere der mit Schriftsatz vom 20. Januar 2022 vorgelegten Kostenaufstellung, dass auch eine Erstattung der daneben geleisteten intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung gemäß §§ 27, 35 SGB VIII begehrt wird.
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Der so verstandene geltend gemachte Anspruch der Klägerin nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gegen den Beklagten auf Kostenerstattung in Bezug auf die im Zeitraum vom … … 2017 bis … … 2018 gewährten Jugendhilfeleistungen nach §§ 27, 35 sowie § 35a SGB VIII für den Hilfeempfänger A. besteht nicht, da der Beklagte für den streitgegenständlichen Jugendhilfefall nicht zuständig geworden ist.
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Nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist.
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Ein Zuständigkeitswechsel hin zum Beklagten ist vorliegend jedoch nicht eingetreten, sodass dessen Kostenerstattungspflicht gegenüber der Klägerin abzulehnen ist.
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Mit dem Beschluss des Amtsgerichts … - Familiengericht - vom … … 2017, mit welchem im Wege der einstweiligen Anordnung das Ruhen der elterlichen Sorge des Kindsvaters angeordnet wurde, richtete sich die örtliche Zuständigkeit für die Hilfegewährung im streitgegenständlichen Zeitraum nach § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII.
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Das Gericht folgt der Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, wonach bei der 2. Fallgruppe in § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII - fehlendes Sorgerecht bei beiden Elternteilen - lediglich auf das „Bestehen“ verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte der Elternteile Bezug genommen wird, nicht hingegen auf das „Begründen“ verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte nach Leistungsbeginn (BayVGH, U.v 10.2.2022 - 12 BV 20.217 - juris Rn. 17 ff. unter Bezugnahme auf BVerwG, U.v. 14.11.2013 - 5 C 34.12 - juris Rn. 22 ff). Dementsprechend bleibt die bisherige örtliche Zuständigkeit eines Jugendhilfeträgers dann als „statische“ Zuständigkeit bestehen, wenn die Personensorge für den Hilfebedürftigen keinem Elternteil zusteht und die Elternteile nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besitzen.
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Diese Voraussetzungen sind im streitgegenständlichen Zeitraum gegeben. Die Mutter des Hilfeempfängers hatte ab Dezember 2015 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in … im Kreisgebiet des Beklagten, der Vater des Hilfeempfängers war seit 26. Oktober 2016 in der JVA … im … inhaftiert; es bestanden mithin verschiedene gewöhnliche Aufenthalte der Elternteile. Ab dem … … 2017 ruhte die Personensorge für den Hilfeempfänger bei beiden Elternteilen, was nach höchstrichterlicher Rechtsprechung im Rahmen der jugendhilferechtlichen Zuständigkeitsbestimmung einem Entzug der Personensorge gleichkommt (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2017 - 5 C 12/16 - juris Rn. 14; B. v. 13.9.2004 - 5 B 65/04 - juris Rn. 3; BeckOGK/Richter, 1.3.2022, SGB VIII § 86 Rn. 35).
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Nach § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alternative SGB VIII blieb demnach ab dem … … 2017 die örtliche Zuständigkeit des bis dahin örtlich zuständigen Jugendhilfeträgers bestehen. Ob diese bei dem Landkreis … lag, welcher den Hilfeempfänger ab dem … … 2017 in Obhut genommen hatte (§ 87 SGB VIII), oder beim …, wo der bis zum … … 2017 allein sorgeberechtigte Kindsvater seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (§ 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII) kann an dieser Stelle dahinstehen, da in keinem Fall eine Zuständigkeit des Beklagten begründet worden wäre. Den in den Hilfefall auf keine Weise eingebundenen Beklagten mit den Kosten der Hilfemaßnahme zu belasten, allein, weil die nicht sorgeberechtigte Mutter des Hilfeempfängers in seinem Zuständigkeitsbereich ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, erscheint im Übrigen auch nicht sachgerecht.
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Die Klage war demnach vollumfänglich abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis bestimmen sich nach § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
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Die Berufung wird gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (vgl. BayVGH, U.v 10.2.2022 - 12 BV 20.217 - juris Rn. 40).