Titel:
Titelerteilungssperre bei nicht abgeschlossenem Asylverfahren
Normenketten:
AufenthG § 5 Abs. 2, § 10 Abs. 1, § 27 Abs. 3, § 28 Abs. 1
GG Art. 6
EMRK Art. 8
Leitsätze:
1. Ein gesetzlicher Anspruch i.S.v. § 10 Abs. 1 AufenthG setzt einen "strikten Rechtsanspruch" voraus, wonach alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sein müssen, weil nur dann der Gesetzgeber selbst eine Entscheidung über das zu erteilende Aufenthaltsrecht getroffen hat (BVerwG BeckRS 2016, 41159). (Rn. 22) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Steht die Erteilung eines Aufenthaltstitels infolge eines bestehenden Ausweisungsinteresses nach § 27 Abs. 3 S. 2 AufenthG bzw. der Nichtabsolvierung des Visumverfahrens nach § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde, liegt kein "strikter Rechtsanspruch" auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis vor. (Rn. 22) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der Personensorge eines minderjährigen Deutschen, Ausweisungsinteresse, Erfordernis des Visumverfahrens, Titelerteilungssperre (bejaht), Strikter Rechtsanspruch auf den Aufenthaltstitel (verneint), Vater-Kind-Beziehung, gambischer Staatsangehöriger, Asylverfahren, deutsches Kind, familiäre Lebensgemeinschaft, Titelerteilungssperre, strikter Rechtsanspruch, Visumverfahren
Fundstelle:
BeckRS 2022, 14439
Tenor
I.Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen einen ihm am 30. Januar 2021 zugestellten Bescheid der Beklagten vom 28. Januar 2021, mit welchem sein Antrag auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG abgelehnt wurde.
2
Der am … November 1987 geborene Kläger ist gambischer Staatsangehöriger und reiste erstmals am 1. April 2014 nach Deutschland ein. Sein am gleichen Tag gestellter Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 4. Oktober 2018 gem. § 30 Abs. 1, Abs. 2 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Gegen diesen Bescheid ist beim Verwaltungsgericht München noch ein Asylhauptsacheverfahren aus dem Jahr 2018 anhängig (M 10 K 18.33968).
3
Der Kläger ist der Vater des am … Oktober 2015 geborenen Kindes … …, welches die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Zum Kind gibt es eine Sorgerechtserklärung vom 25. September 2015, nach welcher die Vaterschaft am 24. September 2015 anerkannt wurde und es ein gemeinsames Sorgerecht gibt.
4
Der Kläger erhielt erstmals von der Ausländerbehörde am 7. Juni 2016 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG wegen der familiären Lebensgemeinschaft zu einem deutschen Kind, welche bis 6. Juni 2019 befristet war.
5
Am 31. Mai 2019 stellte der Kläger einen Antrag auf Verlängerung dieser Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen. Dieser wurde damals zunächst zurückgestellt wegen fehlender Unterlagen und eines offenen Strafverfahrens. Strafrechtlich ist der Kläger in Erscheinung getreten wegen Erwerbs von Betäubungsmitteln (7,81 Gramm Cannabis, Urteil des Amtsgerichts München vom 12.5.2016 in Höhe von 50 Tagessätzen), wegen Hausfriedensbruchs (Aufenthalt in Asylaufnahmeeinrichtung trotz Hausverbots, Strafbefehl des Amtsgerichts Rosenheim vom 17.7.2019 in Höhe von 50 Tagessätzen) und wegen Leistungserschleichung (Strafbefehl des Amtsgerichts Rosenheim vom 17.3.2020 in Höhe von 20 Tagessätzen). In der Zwischenzeit erhielt der Kläger Fiktionsbescheinigungen, zuletzt am 9. Dezember 2020 bis 8. März 2021.
6
Mit E-Mails vom 4. August 2020 und 10. August 2020 wandte sich der Kläger an die Beklagte und erläuterte seine Lebensumstände und den Kontakt zu seinem Sohn. Aus der E-Mail vom 4. August 2020 geht ansatzweise hervor, dass der Kläger zum damaligen Zeitpunkt soziale Probleme habe, er sich in seinem Leben durchkämpfen müsse, um seinen Sohn besuchen und ihn glücklich machen zu können, wie es jedes Kind es sich wünsche. Aus der E-Mail vom 10. August 2020 geht hervor, dass der Kläger über das Wochenende manchmal seinen Sohn bei sich in seiner Wohnung zu Besuch gehabt habe, sofern es die Mutter - wohl im Hinblick auf eigene zeitliche Umstände („[n]ur die Wochenden, an denen sie sein konnte“) - erlaubt habe.
7
Nach weiteren Aufforderungen der Beklagten, Nachweise über die bestehende familiäre Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seinem Kind vorzulegen, wurde der Kläger zur beabsichtigten Ablehnung seines Antrages angehört. Eine schriftliche Stellungnahme erfolgte nicht.
8
Mit Bescheid vom 28. Januar 2021 lehnte die Beklagte den Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab (Nr. 1) und forderte den Kläger auf, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids zu verlassen (Nr. 2). Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Gambia angedroht, diese könne auch in einen anderen Staat erfolgen, in den der Kläger einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei (Nr. 3).
9
Die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG wurde maßgeblich damit begründet, dass nachweislich eine familiäre Lebensgemeinschaft, wie sie als Grundvoraussetzung für eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug gegeben sein müsse, nicht vorläge. Eine Vater-Kind-Beziehung sei trotz mehrfacher Aufforderung nicht nachgewiesen worden, noch habe die Kindsmutter eine solche bestätigt. Es lägen keinerlei Nachweise vor, dass der Kläger in den letzten Monaten (und Jahren) mit seinem Kind Kontakt gehabt habe, geschweige denn intensiven Kontakt. Es sei weder qualitativ noch quantitativ ersichtlich, dass ein Umgang und „sich-sorgen“ um das Kind des Klägers stattgefunden habe. Der Kläger habe nie mit seinem Kind in häuslicher Gemeinschaft gelebt, weshalb zusätzliche Anhaltspunkte vorliegen müssten, die eine gelebte Vater-Kind-Beziehung bestätigen könnten. Da aber (offenbar) gar kein Kontakt bestehe, gäbe es sowieso keine Grundlage für eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis.
10
Gegen den Bescheid vom 28. Januar 2021 hat der Kläger über seinen Bevollmächtigten Klage erheben lassen. Er beantragt,
11
den Bescheid der Beklagten vom 28.01.2021, Aktenzeichen …, aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die beantragte Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
12
Zur Begründung wurde insbesondere angeführt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG vorlägen. Von einer familiären Beziehung des Klägers zu seinem Sohn sei nach den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätzen zu Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG im ausländerrechtlichen Kontext auszugehen. Dass der Kläger Kontakt zu seinem Sohn habe, habe er ausreichend belegt und würde im Übrigen durch eine vorgelegte eidesstattliche Versicherung der Kindsmutter bestätigt.
13
Die Beklagte beantragt,
15
Mit Schriftsatz vom 31. März 2021 hinterfragte die Beklagte primär die Umstände um das Zustandekommen der eidesstattlichen Versicherung der Kindsmutter, die nicht nachvollziehbar seien. Die bisherigen Angaben der Kindsmutter seien nur sehr vage und oberflächlich gewesen.
16
Mit Beschluss vom 22. März 2022 ordnete das Gericht auf Antrag des Klägers nach § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung seiner Klage an und bewilligte ihm für das Eil- und Hauptsacheverfahren Prozesskostenhilfe. Aufgrund weiteren Aufklärungsbedarfs hinsichtlich der Vater-Kind-Beziehung ging das Gericht unter Berücksichtigung der Rechtspositionen aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK von offenen Erfolgsaussichten aus, weshalb im Wege einer Folgenabwägung zugunsten des Klägers entschieden wurde (VG München, B.v. 22.3.2022 - M 10 S 21.1104 - bisher nicht veröffentlicht).
17
Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung vom 12. Mai 2022 Beweis erhoben durch Einvernahme der Kindsmutter als Zeugin zur Frage des Bestehens und der Intensität der Vater-Kind-Beziehung. Der Kläger wurde hierzu informatorisch angehört.
18
Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf das Protokoll zur mündlichen Verhandlung vom 12. Mai 2022, den Beschluss vom 22. März 2022, die vorgelegte Behördenakte sowie die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
Entscheidungsgründe
19
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Die Ablehnung der beantragten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ist im Ergebnis rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, da er keinen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
20
1. Der beantragten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG steht im vorliegenden Fall die Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 1 AufenthG entgegen. Nach § 10 Abs. 1 AufenthG kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, vor dem bestandskräftigen Abschluss des Asylverfahrens ein Aufenthaltstitel außer in den Fällen eines gesetzlichen Anspruchs nur mit Zustimmung der obersten Landesbehörde und nur dann erteilt werden, wenn wichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland es erfordern.
21
a) Das Asylverfahren des Klägers ist noch nicht bestandskräftig abgeschlossen, da gegen den negativen Bescheid des BAMF vom 4. Oktober 2018 noch ein Klageverfahren beim Verwaltungsgericht München anhängig ist. Die noch anhängige Asylklage des Klägers sperrt nach § 10 Abs. 1 AufenthG die Erteilung dieser Aufenthaltserlaubnis.
22
b) Eine Ausnahme von der Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 1 AufenthG aufgrund eines „gesetzlichen Anspruchs“ auf den Aufenthaltstitel liegt nicht vor. Ein gesetzlicher Anspruch im Sinne des § 10 Abs. 1 AufenthG setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einen „strikten Rechtsanspruch“ voraus, wonach alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sein müssen, weil nur dann der Gesetzgeber selbst eine Entscheidung über das zu erteilende Aufenthaltsrecht getroffen hat (BVerwG, U.v. 17.12.2015 - 1 C 31/14 - juris Rn. 20). Ein solcher Fall ist vorliegend nicht gegeben. Von dem hier nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG anzunehmenden Ausweisungsinteresse wegen der strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers zu zweimal 50 bzw. 20 Tagessätzen (vgl. dazu Katzer in BeckOK MigR, Stand 15.4.2022, AufenthG, § 54 Rn. 95 ff.) kann zwar nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG abgesehen werden, gleiches gilt nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG für das grundsätzlich erforderliche Visumverfahren (§ 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Damit ist allerdings nicht mehr von einem strikten Rechtsanspruch auf die begehrte Aufenthaltserlaubnis auszugehen, weil deren Erteilung nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bzw. § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG im Ermessen der Beklagten steht.
23
Ob das Ermessen der Beklagten im Hinblick auf die Rechtspositionen des Klägers (und auch die des Kindes) aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK auf Null reduziert ist, kann offenbleiben, da nach der genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts auch im Falle einer Ermessensreduktion auf Null kein strikter Rechtsanspruch auf den Aufenthaltstitel besteht (BVerwG, a.a.O., Rn. 21).
24
2. Da der Kläger mit der Ablehnung der beantragten Aufenthaltserlaubnis zur Ausreise verpflichtet ist, war ihm nach § 50 Abs. 1 AufenthG die Abschiebung nach Gambia anzudrohen. Die (in der mündlichen Verhandlung geänderte) Ausreisefrist von 4 Wochen nach Bestandskraft des Bescheids begegnet keinen rechtlichen Bedenken; sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.
25
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.