Titel:
Erfolglose Asylklage eines äthiopischen Staatsangehörigen
Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1, § 4
AUfenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Die in Äthiopien derzeit bestehenden allgemeinen Gesundheitsgefahren, insbesondere im Hinblick auf COVID-19-Erkrankung, begründen kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot. (Rn. 65) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Äthiopischer Staatsangehöriger, geltend gemacht: Somalische, Staatsangehörigkeit, Volkszugehörigkeit, Somali, Vorfluchttatbestand, 2009 – 2012, Terrorismus-Verdacht, Al-Shabaab-Miliz, Fahndung, Kein Nachfluchttatbestand, Asyl, Äthiopien, Somalia, Abschiebungsverbot, Lebensbedingungen, Gesundheitsgefahren, SARS-CoV-2, COVID-19
Fundstelle:
BeckRS 2022, 13702
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Ziel des Klägers, eines am ... 1994 in Äthiopien geborenen, nach Auffassung des Bundesamtes äthiopischen, nach eigener Aussage hingegen somalischen Staatsangehörigen vom Volke der Somali, ist die Zuerkennung Internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiärer Schutz) durch die Beklagte, zumindest aber Schutz vor einer Abschiebung nach Äthiopien.
2
Der Kläger reiste am 6. Dezember 2015 auf dem Landweg ohne Ausweispapiere in das Bundesgebiet ein und stellte am 25. Februar 2016 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag.
3
Nach persönlicher Anhörung, durchgeführt am 5. April 2017, lehnte das Bundesamt mit streitgegenständlichem Bescheid vom 12. Mai 2017 die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurden zur Ausreise binnen 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens aufgefordert und ihm für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach Äthiopien oder einen anderen zur Rückübernahme bereiten oder verpflichteten Staat angedroht (Nr. 5). Das für den Fall der Abschiebung verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Hiergegen hat der Bevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 24. Mai 2017, eingegangen bei Gericht am 26. Mai 2017, Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt,
1. den Bescheid der Beklagten vom 12. Mai 2017 aufzuheben,
2. dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
3. hilfsweise dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen,
4. festzustellen, dass beim Kläger die Voraussetzungen betreffend Abschiebeschutz gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des AufenthG vorliegen,
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sowie die Klage mit Schriftsätzen vom 8. Juni 2017, vom 4. August 2017 und vom 19. September 2018 begründet.
6
Die Beklagte hat die Behördenakten auf elektronischem Weg vorgelegt, ohne einen Antrag zu stellen.
7
Mit Beschluss vom 24. Januar 2022 hat die Kammer, nachdem den Beteiligten zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden war, den Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
8
In der mündlichen Verhandlung am 15. Februar 2022 war der Kläger weder persönlich anwesend noch durch seinen Bevollmächtigten vertreten. Die Beklagte war ebenfalls nicht vertreten.
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Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt machte der Kläger zu seiner Herkunft und seinen familiären Verhältnissen, zu seinem Gesundheitszustand und seinen schulischen und beruflichen Qualifikationen, sowie zu den Gründen für seinen Asylantrag folgende Angaben:
10
Er stamme aus der Stadt Dolow Addow im Bundesstaat Somali, Verwaltungszone Liben Zone, welche teils auf äthiopischem Staatsgebiet, teils auf somalischen Staatsgebiet liegt, gehöre der Volksgruppe der Somali an und sei muslimischen Glaubens. Seine Muttersprache sei Somali.
11
Er sei nicht verheiratet und habe keine Kinder. Seine Eltern seien bereits verstorben, seine Schwester lebe in Somalia, ihren genauen Aufenthalt kenne er nicht. In Äthiopien lebe nur noch seine Tante.
12
Er habe die Schule in Äthiopien bis zur 11. Klasse besucht (kein Abschluss), danach eine Ausbildung zum Elektriker sowie eine Ausbildung zum Bäcker gemacht, diese Berufe danach jedoch nicht ausgeübt, sondern als Lkw-Fahrer gearbeitet.
13
Er habe keinerlei gesundheitliche Beeinträchtigungen.
14
Im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien fürchte er, auf Veranlassung der äthiopischen Sicherheitsbehörden getötet zu werden. Dies habe mit folgenden Vorgängen zu tun, die sich in Äthiopien sowie in Somalia vor seiner Ausreise aus Äthiopien ereignet und ihn zu seiner Ausreise bewegt hätten:
15
Im Jahr 2009 habe er in seiner Heimatstadt Dolow Addow, einer teils auf äthiopischen, teils auf somalischen Staatsgebiet liegenden Grenzstadt, mit dem Transport von Waren somalischer Flüchtlinge zwischen dem somalischen und dem äthiopischen Stadtgebiet seinen Lebensunterhalt verdient. Aufgrund dieser Tätigkeit hätte ihn die äthiopische Armee verdächtigt, in terroristische Aktivitäten verwickelt zu sein.
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Als ihn Freunde gewarnt hätten, dass bereits nach ihm gefahndet werde, sei er in den somalischen Teil des Grenzgebiets geflüchtet und habe sich dort ca. drei Jahre lang, von 2009 bis zum Januar 2012 aufgehalten und als Lkw-Fahrer auf der Strecke Dolow Addow (somalischer Teil) und Luuq gearbeitet.
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Zu einem von Kläger nicht näher benannten Zeitpunkt Ende 2011 sei er während einer der Fahrten in eine Straßensperre der Al-Shabaab-Miliz geraten. Als er hierbei als aus Äthiopien stammender somalischer Volksangehöriger identifiziert worden sei, habe die Miliz großes Interesse daran gezeigt, ihn zu rekrutieren, um ihn als ihren Spion auf äthiopischen Gebiet einzusetzen.
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Zunächst sei er jedoch unter dem Vorwurf der Spionagetätigkeit von der Miliz festgehalten worden. Nach drei Monaten habe man ihm angeboten, ihn freizulassen, sofern er als Spion für die Miliz arbeite. Der Kläger habe um Bedenkzeit gegeben. Diese sei ihm gewährt und er sogar freigelassen worden.
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Dies habe der Kläger jedoch dazu genützt, um am 26. Januar 2012 wieder zurück in den äthiopischen Teil des Grenzgebietes zu fliehen.
20
Nach seiner Rückkehr sei er jedoch von Nachbarn gewarnt worden, dass die äthiopischen Sicherheitskräfte ihn verdächtigten, als Al-Shabaab-Spion tätig zu sein, und erneut nach ihm fahndeten. Hieraufhin sei er zunächst zu seiner Tante geflohen, welche in einem Flüchtlingslager in der Nähe seiner Heimatstadt lebe, und habe schließlich im Februar 2012 Äthiopien verlassen.
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Bei Stellung seines Asylantrages gab der Kläger an, äthiopischer Staatsangehöriger zu sein. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt gab er zudem an, über einen äthiopischen Personalausweis verfügt zu haben, welcher ihm jedoch an der Grenze zwischen dem Sudan und Libyen von sudanesischen Grenzbeamten abgenommen worden sei.
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Das Bundesamt begründete seine Entscheidung, die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie subsidiären Schutzes abzulehnen, in seinem Bescheid vom 12. Mai 2017 im Wesentlichen damit, dass der seitens des Klägers geltend gemachte Vorfluchttatbestand bereits in tatsächlicher Hinsicht nicht glaubhaft sei.
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So habe u.a. der Kläger nicht plausibel und substantiiert darlegen können, weshalb er ins Visier der äthiopischen Sicherheitskräfte geraten sei, sei es 2009 durch seine Tätigkeit als Transporteur von Waren zwischen dem äthiopischen und dem somalischen Stadtgebiet seiner Heimatstadt, sei es nach seiner Rückkehr aus Somali im Januar 2012 nach seiner Zeit in der Haft der Al-Shabaab-Miliz:
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So gehöre der Transport von Waren in einer Stadt, deren Gebiet sich über zwei Staatsgebiete erstrecke, nach allgemeiner Lebenserfahrung zum alltäglichen Procedere und dürfte wohl nicht nur vom Kläger, sondern von vielen anderen Personen ausgeübt worden sein.
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Zudem habe der Kläger nicht plausibel darlegenkönnen, wie die äthiopischen Sicherheitskräfte von dem Kontakt des Klägers mit der Al-Shabaab-Miliz Kenntnis erlangt haben sollen.
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Darüber hinaus seien auch die Angaben des Klägers, die Umstände seiner Flucht aus Somalia zurück nach Äthiopien betreffend, nicht nachvollziehbar:
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So sei es bereits unrealistisch, dass der Kläger während seines dreijährigen Aufenthaltes und seiner Tätigkeit als Lkw-Fahrer zuvor niemals in eine Kontrolle der Al-Shabaab-Miliz geraten sei.
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Des Weiteren habe der Kläger - trotz mehrfacher Nachfrage - nicht plausibel darlegen können, weshalb ihn die Miliz - trotz noch fehlender Zusage des Klägers, für diese als Spion zu arbeiten - freigelassen habe.
29
Die Entscheidung, in Bezug auf den Kläger das Vorliegen nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Äthiopien zu verneinen, begründete das Bundesamt im Wesentlichen wie folgt:
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Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse im Zielstaat nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK sei im Falle des Klägers nicht gegeben. So sei er bis zu seiner Ausreise in der Lage gewesen, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Es sei ihm daher zuzumuten, zumindest sein Existenzminimum durch Aufbringung und Nutzung aller ihm zur Verfügung stehender Möglichkeiten, z.B. durch die Aufnahme von Gelegenheitsarbeiten, zu sichern.“
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Auch drohe dem Kläger nicht aus gesundheitlichen Gründe eine individuelle Gefahr für Leib und Leben i.S.v. § 60 Abs. 7 AufenthG.
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Erstmals im gerichtlichen Verfahren, mit Schriftsatz vom 8. Juni 2017, hat der Bevollmächtigte des Klägers geltend gemacht, der Kläger sei nicht äthiopischer, sondern somalischer Staatsangehöriger. Die Eltern des Klägers seien somalische Staatsangehörige, deshalb sei auch der Kläger somalischer Staatsangehöriger.
33
Mit Schriftsatz vom 19. September 2018 hat der Bevollmächtigte in diesem Zusammenhang eine von der Somalischen Botschaft in Berlin am 10. September 2018 ausgestellte Geburtsurkunde vorgelegt, laut derer der Kläger am 2. Februar 1994 in der Stadt Dolow in Somalia geboren sei, des Weiteren ein „Birth Certificate“ des Dolow District Hospitals vom 15. Februar 1994 sowie eine Bescheinigung der Somalischen Botschaft in Berlin vom 10. September 2018, in welcher bestätigt wurde, dass der Kläger die somalische Staatsangehörigkeit besitze und zugleich mitgeteilt wurde, dass derzeit keine Nationalpässe ausgestellt werden könnten.
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Ferner hat der Bevollmächtigte vorgetragen, der Kläger habe, nachdem er vom äthiopischen Militär 2012 verdächtigt worden sei, als Spion für die Somalis, insbesondere für die Al-Shabaab-Miliz tätig zu sein, nicht nach Somalia zurückkehren können, da er dort der Al-Shabaab-Miliz „Rede und Antwort“ hätte stehen müssen.
35
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
36
Über die Verwaltungsstreitsache konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 15. Februar 2022 entschieden werden, obwohl die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend oder vertreten waren. Die Beteiligten wurden zur mündlichen Verhandlung ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen, dass auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann, § 102 Abs. 2 VwGO.
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Die Klage ist zulässig, hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
38
Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes vom 12. Mai 2017 ist - in dem zur Entscheidung des Gerichts gestellten Umfang - rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 VwGO).
39
Der Kläger hat zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) - weder Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) noch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) - hierzu sogleich unter Ziffer 1.
40
Darüber hinaus hat das Bundesamt zu Recht festgestellt, dass keine zielstaatsbezogenen nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG zu Gunsten des Klägers bestehen - hierzu sogleich unter Ziffer 2.
41
Auch die verfügte Abschiebungsandrohung sowie die vorgenommene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbot sind rechtmäßig - hierzu sogleich unter Ziffer 3.
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Die Klage war daher vollumfänglich abzuweisen.
43
1. Der Kläger hat weder Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG noch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
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In diesem Zusammenhang kann dahinstehen, ob der Kläger - wie im Verlauf des Gerichtsverfahrens geltend gemacht - (auch) die somalische Staatsangehörigkeit besitzt, da das Gericht vorliegend überzeugt ist, dass der Kläger (zumindest auch) die äthiopische Staatsangehörigkeit besitzt - sogleich unter Ziffer a., und ihm zumindest in Äthiopien keine Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG bzw. ein ernsthafter Schaden i.S.v. § 4 AsylG droht - sogleich unter Ziffer b. a.
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Der - laut eigenen Angaben auf äthiopischem Staatsgebiet, wenn auch in einer, teils auf äthiopischen, teils somalischem Staatsgebiet liegenden Grenzstadt, aufgewachsene - Kläger hat selbst ausgeführt, über einen äthiopischen Personalausweis verfügt zu haben. Das Gericht ist daher überzeugt, dass der Kläger (zumindest auch) die äthiopische Staatsangehörigkeit besitzt.
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b. Der Kläger hat Äthiopien nach Überzeugung des Gerichts nicht vorverfolgt verlassen.
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Das Gericht folgt insoweit zunächst der Begründung des angefochtenen Bescheids und sieht von einer weiteren Darstellung der Gründe ab, § 77 Abs. 2 AsylG.
48
Andere nach seiner Ausreise entstandene Gründe, aus denen er Verfolgung befürchten müsste, sind nicht dargetan oder sonst ersichtlich.
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Vor diesem Hintergrund sieht das Gericht auch keinen Grund, aus dem der Kläger bei seiner Rückkehr nach Äthiopien erhebliche Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG oder einen erheblichen Schaden i.S.v. § 4 Abs. 1 AsylG befürchten müsste.
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2. Des Weiteren bestehen zu Gunsten des Klägers auch keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
51
Bei den nationalen Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - juris; BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30284 - juris).
52
Da das Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid allein eine Abschiebung nach Äthiopien angedroht hat, kommt es für die Feststellung von Abschiebungsverboten ausschließlich auf die Situation in Bezug auf Äthiopien an.
53
Einer Abschiebung des Klägers nach Äthiopien stehen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht entgegen.
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Insbesondere besteht vorliegend nicht die Gefahr, dass der Kläger nicht in der Lage sein wird, nach seiner Rückkehr nach Äthiopien sein Existenzminimum zu decken - sogleich unter a. sowie b. jeweils unter (1).
55
a. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht.
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(1) Eine Verletzung von Art. 3 EMRK (sowie von Art. 4 GRCh, der Art. 3 EMRK entspricht, vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh), kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei „nichtstaatlichen“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein „verfolgungsmächtiger Akteur“ (siehe § 3c AsylG), fehlt, wenn die humanitären Gründe mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Hygiene und Gesundheitsversorgung „zwingend“ sind (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris, Rn. 12 m.v.N.). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) aufweisen (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41 738/10, Paposhvili/Belgien - NVwZ 2017, 1187 Rn. 174; EuGH, U.v. 16.2.2017 - C-578/1, C. I. u.a. - NVwZ, 691, Rn. 68). Dieses Mindestmaß kann erreicht sein, wenn der Ausländer seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 - juris Rn. 11).
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Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer drohenden menschenunwürdigen Verelendung setzt dabei keine „Extremgefahr“ voraus, die für die Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG notwendig ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018, 1 B 25.18 - juris Rn. 13). Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner Rechtsprechung (EuGH, Urteile v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim - JZ 2019, 999, Rn. 89 ff., und C-163/17, Jawo, InfAuslR 201 9, 236, Rn. 90 ff.) unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (U.v. 21.1 .2 0 1 1, 30696/09, M.S.S. / Belgien und Griechenland, NVwZ 2011, 413, Rn. 252 ff.) darauf ab, ob sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris, Rn. 12; OVG Hamburg, U.v. 18.12.2019 - 1 Bf 132/17.A - juris, Rn. 39).
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Gemessen an diesen Grundsätzen besteht unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Äthiopien sowie den eigenen Angaben des Klägers in der Anhörung vor dem Bundesamt nach Überzeugung des Gerichts vorliegend nicht die Gefahr, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien nicht in der Lage sein wird, nach seiner Rückkehr nach Äthiopien sein Existenzminimum zu decken.
59
Das Gericht folgt insoweit zunächst der Begründung des angefochtenen Bescheids und sieht hinsichtlich der bereits dort berücksichtigten Punkte von einer weiteren Darstellung der Gründe ab, § 77 Abs. 2 AsylG.
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Auch bei Berücksichtigung von Umständen, die erst nach Erlass des angefochtenen Bescheids eingetreten sind, wie etwa die sich durch Heuschreckenplage, Dürrekatastrophe, Tigray-Konflikt und COVID-19-Pandemie / in diesem Zusammenhang national wie international ergriffener Maßnahmen ergebenden Auswirkungen auf die allgemeine Versorgungslage, Wirtschaft und Arbeitsmarkt in Äthiopien geht das Gericht davon aus, dass es dem Kläger weiterhin möglich sein wird, für sein Existenzminimum durch eigene Erwerbstätigkeit, gegebenenfalls mit zusätzlicher Unterstützung seiner Familie decken zu können.
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(2) Auch ist den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Äthiopien nicht zu entnehmen, dass derzeit in der Hauptstadt Addis Abeba, über dessen Internationalen Flughafen eine Abschiebung aus der Bundesrepublik nach Äthiopien in der Regel erfolgt (siehe AA, Lagebericht v. 14. Juni 2021, S. 20 f) oder im Bundesstaat Somali, aus welchem der Kläger stammt, derzeit eine Situation allgemeiner Gewalt herrscht.
62
b. Ebenso wenig besteht ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
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Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Für die Annahme einer „konkreten Gefahr“ im Sinne der Norm genügt nicht jede bloße Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in geschützte Rechtsgüter zu werden. Vielmehr ist auch hier der asylrechtliche Prognosemaßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ anzuwenden, und zwar unabhängig davon, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht.
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(1) Liegen - wie hier - die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbotes wegen schlechter humanitärer Bedingungen nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung allein relevante extreme Gefahrenlage aus (vgl. VGH Bad.-Württ., U.v. 9.11.2017 - A 11 S 789/17 - juris Rn. 282).
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(2) Auch in Äthiopien derzeit bestehende allgemeine Gesundheitsgefahren begründen vorliegend kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu Gunsten des Klägers. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Gefahr einer Ansteckung mit dem auch in Äthiopien grassierenden Sars-Cov-2-Virus und einer anschließenden COVID-19-Erkrankung.
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Beruft sich ein Ausländer auf allgemeine (hier: Gesundheits) Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, wie etwa die sämtliche Menschen in Äthiopien treffende Gefahr einer Ansteckung mit dem Sars-Cov-2-Virus und einer daran anschließenden COVID-19-Erkrankung, wird Abschiebungsschutz grundsätzlich ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt.
67
Allerdings kann ein Ausländer in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch bei Fehlen einer solchen generellen Regelung ausnahmsweise dann individuellen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund der im Zielstaat herrschenden allgemeinen Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn in diesem Fall gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V. m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren.
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Zwar besteht auch für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien, wie für jeden anderen Menschen in Äthiopien auch, die Gefahr, sich dort mit SARS-CoV-2 anzustecken und infolge dessen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden. Jedoch ist die Gefahr hinsichtlich des Klägers nicht derart extrem, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien „sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgesetzt würde (vgl. zu diesem Maßstab: BVerwG, U.v. 17.10.2006 - 1 C 18/05 -, juris Rn. 16) und deshalb aus verfassungsrechtlichen Gründen die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG entfällt.
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So kann eine COVID-19-Erkrankung zwar bei schwerem Verlauf zum Tod führen oder zumindest schwere, dauerhafte bzw. lange andauernde gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen. Auch hängt der Grad der Gefahr, im Falle eines schweren Verlaufes zu sterben, neben individuellen Faktoren wie etwa der gesundheitlichen Disposition des Erkrankten sowie der bei Ansteckung ausgesetzten Virusmenge u.a. auch von allgemeinen Umständen wie Qualität und Kapazitäten der vor Ort vorhandenen medizinischen Behandlung (Personal / Intensivbetten / Sauerstoff etc.) sowie den vor Ort ergriffenen Infektionsschutzmaßnahmen ab. Jedoch ist der Kläger jung, gesund und ohne Vorerkrankungen und weist auch im Übrigen keinen Risikofaktor für einen schweren Verlauf im Falle einer Infektion auf.
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(3) Individuelle gesundheitliche Gründe in der Person des Klägers, die einer Abschiebung nach Äthiopien entgegenstehen könnten, sind weder vorgetragen worden noch anderweitig ersichtlich.
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3. Auch die verfügte Abschiebungsandrohung sowie die vorgenommene Befristung des Einreiseund Aufenthaltsverbotes begegnen keinerlei rechtlichen Bedenken.
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Klarzustellen ist hierbei, dass die nach § 11 Abs. 1 AufenthG a. F. getroffene Entscheidung über die Befristung eines gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes unter Geltung des am 21.08.2019 in Kraft getretenen § 11 AufenthG in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.08.2019 (BGBl I, Satz 1294) als behördliche Anordnung eines solchen Verbots auszulegen ist (vgl. zur zuvor erfolgten Auslegung in Übereinstimmung mit der RL 2008/115/EG - Rückführungsrichtlinie - BVerwG, Beschluss v. 13.07.2017 - 1 VR 3/17, juris).
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Auch ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass das Bundesamt insoweit nicht (mehr) i. S. d. § 114 Satz 1 VwGO pflichtgemäß von dem ihm nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eröffneten Ermessen bezüglich der Länge der Frist Gebrauch gemacht hätte.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.