Titel:
Erfolgreiche Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung zur Sanierung eines Gebäudes: Fehlerhafte Ausübung des Ermessens bei Abweichung vom Abstandsflächenrecht
Normenketten:
BayVwVfG Art. 40
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 3, Art. 63 Abs. 1 S. 1, Art. 63 Abs. 1 S. 2
Leitsatz:
Wird im streitgegenständlichen Bescheid zur Begründung einer Abweichungsentscheidung (hier: in Bezug auf das Abstandsflächnerecht) in bloßer Wiedergabe des Gesetzeswortlauts ausgeführt, diese habe erteilt werden können, da sie unter Berücksichtigung der ausreichenden Belüftung und Belichtung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist und enthält die Begründung keine weiteren Ausführungen hierzu und ergeben sich im Bescheid dafür auch keine weiteren Anhaltspunkte, ist die gem. Art. 63 Abs. 1 BayBo erteilte Abweichung rechtswidrig, da die Anforderungen des Art. 40 BayVwVfG hinsichtlich der Ermessensausübung nicht beachtet wurden. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Erteilung einer Abweichung, Abstandsflächen, Ersatzbau, Ermessensausfall, Ermessensnichtgebrauch, Abstandsflächenrecht, Abweichung, Baugenehmigung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 13688
Tenor
I. Der Bescheid des Landratsamts Rosenheim vom 9. September 2019 wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen die Beklagte und die Beigeladene je zur Hälfte. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten über eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung.
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Der Kläger ist Eigentümer der Grundstücke FlNr. 1698/0 und FlNr. 2166/1 Gem. … FlNr. 2166/1 ist mit einem Wohnhaus bebaut. Südöstlich des Wohnhauses befindet sich ein ca. 11,70m langes Nebengebäude, das im Abstand von 0,8 m von der Grundstücksgrenze zu FlNr. 1662 Gem. … situiert ist.
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Das Vorhabengrundstück der Beigeladenen, FlNr. 1662 Gem. …, grenzt östlich an die klägerischen Grundstücke an. Es ist mit einem sog. Einfirsthof bebaut. Der Wirtschaftsteil wurde später erweitert und ein Quergiebel angebracht.
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Mit am 5. Dezember 2019 beim Landratsamt eingegangenem Antrag begehrte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für das Bauvorhaben „Sanierung des denkmalgeschützten Bauernhauses mit Teilerneuerung und Umnutzung des Wirtschaftsteils, Neubau eines Poolhauses mit Außenpool und Außensauna sowie Errichtung eines überdachten Freisitzes, Neubau einer Doppelgarage und Abbruch von zwei Bestandsgebäuden“. Zugleich beantragte sie die Erteilung einer Abweichung von den nach Südwesten und Nordwesten hin anfallenden Abstandsflächen des Hauptgebäudes. Es handle sich um ein Baudenkmal. Der neuzeitlich errichtete Teil des Wirtschaftsteils solle abgerissen und wieder in der ursprünglichen Kubatur - ohne Quergiebel - aufgebaut werden. Der Bestand im Abstand von 0,8m zur Grundstücksgrenze weise eine Gebäudelänge von 19,23m auf und einen Quergiebel. Die Planung sehe einen Grenzabstand von 1,0m bei gleicher Gebäudelänge, aber ein 0,2m niedrigeres Dach vor. Das Dach solle ohne Quergiebel lediglich als abgeschlepptes Satteldach ausgeführt werden. Dadurch verbessere sich die Abstandsflächensituation.
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Die Untere Denkmalbehörde nahm unter dem 8. März 2019 Stellung. Das Baudenkmal sei als „Bauernhaus, Einfirsthof, zweigeschossiger Flachsatteldachbau mit Hochlaube und hölzernem Kruzifix an der Giebelseite, 1. Hälfte 19. Jh.“ in die Denkmalliste eingetragen. Sämtliche Maßnahmen seien, sofern nicht durch anderslautende Nebenbestimmungen festgelegt, gemäß „Maßnahmenkonzept mit Raumbuch“ des Architekten M* … vom 10. Februar 2019 auszuführen.
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Unter dem 24. Mai 2019 ließ die Beigeladene eine Umplanung vorlegen, wonach auf die Fenster in der westlichen Außenwand des Hauptgebäudes verzichtet wird.
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Unter dem 9. September 2019 erteilte der Beklagte die streitgegenständliche Baugenehmigung. Zugleich wurde eine Abweichung von der Einhaltung der nach Südwesten und Nordwesten erforderlichen Abstandsflächen des Hauptgebäudes zugelassen. Zur Begründung ist insoweit im Bescheid ausgeführt: „Von der Einhaltung der Abstandsfläche nach Südwesten und Nordwesten konnte eine Abweichung zugelassen werden, da sie unter Berücksichtigung der ausreichenden Belüftung und Belichtung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist (Art. 63 Abs. 1 BayBO).“
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Mit am 9. Oktober 2019 eingegangenem Schriftsatz seines Bevollmächtigten hat der Kläger Klage erhoben und beantragt,
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den Bescheid des Landratsamts R. vom 9. September 2019, Az.: BG- … aufzuheben.
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Der wieder zu errichtende Teil des Hauptgebäudes, der, vormals landwirtschaftlich genutzt, nun zu Wohnzwecken dienen solle, halte die Abstandsflächen nicht ein. Zu Unrecht habe der Beklagte die Abweichung erteilt. Voraussetzung für eine Abweichung sei auch nach der Einfügung von Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO das Vorliegen eines atypischen, grundstücksbezogenen Sachverhalts. Diese sei nicht schon darin zu sehen, dass sich das Bestandsgebäude nahe an der Grundstücksgrenze befinde; vielmehr sei der Neubau selbstständig zu beurteilen. Dieser hätte auch unter Einhaltung der Abstandsflächen ohne weiteres errichtet werden können. Der Charakter eines Einfirsthofes ginge nicht verloren, wenn die Breite der ehemaligen Hofstelle von 12,05m erhalten und hinsichtlich des neu zu errichtenden Anbaus zumindest die halben Abstandsflächen H/2 beachtet würden. Bei einer Wandhöhe von 6,33m und einer Giebelfläche von 2,48m ergebe sich eine Wandhöhe H von 7,12m, mithin H/2 von 3,56m. Letztlich komme es hierauf nicht an, weil es im Rahmen der Ermessensentscheidung bereits an einer ordnungsgemäßen Abwägung fehle. Die Berücksichtigung nachbarlicher Interessen sei auf die pauschale Feststellung der Einhaltung von Belichtung und Belüftung reduziert worden. Insofern liege ein Ermessensfehlgebrauch vor. Bestehende Baurechte auf dem klägerischen Grundstück hätten keine Beachtung gefunden, insbesondere die Möglichkeit der Errichtung eines Bauvorhabens in unmittelbarer Grenznähe unter Berücksichtigung des Mindestabstands von 3m.
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Die Beigeladene hat mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 24. Februar 2020 Stellung genommen und beantragt,
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Für das Hauptgebäude sei die Abweichung zu Recht erteilt worden. Die hierfür erforderliche Atypik sei bereits deshalb gegeben, weil es explizite Vorgabe des Denkmalschutzes gewesen sei, die Länge der Traufansicht zu erhalten. Hinzu komme eine atypische örtliche Situation im Hinblick auf den zu erhaltenden Bestand. Bei einem Abrücken des neu zu errichtenden Baukörpers von der Grundstücksgrenze würden die Räume eine so geringe Breite aufweisen, dass diese nicht mehr sinnvoll nutzbar seien. Schließlich würde eine Verkürzung der Traufansicht und die damit einhergehende Schmälerung des abgeschleppten Dachs den Charakter des Einfirsthofs ruinieren. Ein nur ca. 5m breites abgeschlepptes Dach sähe unfreiwillig komisch aus. Nachbarliche Interessen seien ausreichend gewürdigt worden. Durch das Abrücken von der Grenze um ca. 40cm, die Absenkung des Dachs um ca. 20cm und den Wegfall des Quergiebels verbessere sich die Situation für den Kläger. Schließlich müsse der Kläger sich entgegenhalten lassen, dass sein Nebengebäude die Abstandsflächen zum Grundstück der Beigeladenen selbst nicht einhalte.
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Der Kläger ließ erwidern, es werde bestritten, dass der Erhalt der Traufsicht eine Vorgabe des Denkmalschutzes gewesen sei. Hiergegen spreche schon, dass die Beseitigung und Neuerrichtung eines wesentlichen Teils des Stall- bzw. Tennenteils genehmigt wurde. Der Gebäudecharakter eines Bauernhauses mit der vorliegenden denkmalpflegerischen Qualität entfiele wohl nicht, wenn die Wandlänge nicht 20,79m, sondern - bei Einhaltung des Mindestabstands von 3 m - z.B. 18,79m betrage. Denn auch dann wäre die Längsseite noch wesentlich länger als die Breitseite (12,07m). Im Übrigen sei der Anbau eines abgeschleppten Daches für einen Einfirsthof nicht notwendig. Im Rahmen der Erteilung der Abweichung hätte es schließlich auch einer Prüfung des Brandschutzes bedurft. Insofern liege ein vollständiger Ermessensausfall vor.
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Der Beklagte beantragt,
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Die Abweichungen hinsichtlich des Hauptgebäudes seinen rechtmäßig. Es trete keine Verschlechterung zulasten des Klägers ein. Die Atypik sei zwanglos aus der gegebenen Bestandssituation ableitbar, insbesondere mit Blick auf denkmalschutzfachliche Belange. Im Übrigen bleibe darauf hinzuweisen, dass der Kläger selbst ein Nebengebäude mit einer Länge von ca. 11,70m in einem Abstand von etwa 1m längsseitig parallel zur Grundstücksgrenze errichtet habe.
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Die Beigeladene ließ einen E-Mailaustausch mit dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege (LfD) vom Februar 2020 vorlegen betreffend ihre Anfrage, ob sie den neu zu errichtenden Teil des Hauptgebäudes auch verkürzt ausführen dürfe, um die Abstandsflächen einzuhalten. Die Antwort des LFD lautet wie folgt:
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„Derzeit ist davon auszugehen, dass die Westausdehnung des Gebäudes wohl seit um 1900 dem jetzigen Zustand entspricht. Zwar stellt sich das Gebäude auf der kartografischen Renovationsmessung des 19. Jahrhunderts kürzer dar, die letzte denkmalwürdige Redaktion des Gebäudes behandelt aber den Stallteil optisch wie einen Teil des Wohnhauses, so dass der rückwärtige Tennenanbau notwendig ist, um in der gestalterischen Wirkung des Gebäudes den tatsächlichen Wohnteil und den als Wohnteil „maskierten“ Stall nicht zu dominant wirken zu lassen. Aus rein denkmalfachlicher Sicht ist ein Ersatz des modernen Stalleinbaus im Westen durch einen angepassten Neubau zwar möglich, die Traufansicht sollte aber nicht kürzer werden und die Gesamtkubatur des Wohnstallhauses (ohne Widerkehr) muss tradiert werden.“
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Der Kläger ließ erwidern, das LfD habe einzig auf die Traufansicht abgestellt. Es stelle sich die Frage, ob die über die normale Hausbreite hinausgehende Abschleppung des Daches hiervon erfasst sein solle. Hinzu komme, dass die Länge des Anwesens (Traufsicht) nur deshalb gefordert werde, weil die letzte denkmalwürdige Redaktion des Gebäudes den Stallteil optisch wie einen Teil des Wohnhauses behandle, sodass der rückwärtige Tennenanbau notwendig sei. Dies lasse darauf schließen, dass das Gebäude auch verkürzt werden könne, wenn diese Umbauten entsprechend dem ursprünglichen Zustand des denkmalgeschützten Gebäudes wiederhergestellt werde. Weder für die Abschleppung des Dachs noch für die Länge des Gebäudes sprechen damit tatsächlich denkmalpflegerische Gründe. Letztlich komme es auf die Stellungnahme des LfD aber nicht an, da diese nicht zum Gegenstand der Abweichungsentscheidung gemacht worden sei. Hinsichtlich des klägerischen Nebengebäudes wurde ausführlich dargestellt, dass insofern die abstandsflächenrechtliche Relevanz deutlich geringer sei als die des streitgegenständlichen Vorhabens.“
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Die Beigeladene ließ erwidern, dass aus der E-Mail des LfD ausdrücklich die Forderung hervorgehe, die Gesamtkubatur zu erhalten, mithin auch die Länge des Gebäudes. Da der Stallteil optisch wie ein Teil des Wohnhauses behandelt werde, sei der rückwärtige Tennenausbau notwendig, um in der gestalterischen Wirkung des Gebäudes den tatsächlichen Wohnbau nicht zu dominant wirken zu lassen. Demzufolge beziehe sich der Klammerzusatz „ohne Widerkehr“ nicht auf die Gesamtkubatur, sondern auf Ausführung des rückwärtigen Tennenanbaus mit einem abgeschleppten Dach anstelle des bisherigen Quergiebels.
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Am … August 2020 hat der Kläger zudem einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz (M 1 S 20.3797) gestellt. Das Verfahren ist nach übereinstimmender Erledigterklärung mit Beschluss vom 10. Mai 2022 eingestellt worden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten, auch im Verfahren M 1 S 20.3797, sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die streitgegenständliche, zulässige Anfechtungsklage, § 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO, hat Erfolg. Der angefochtene Baugenehmigungsbescheid vom 9. September 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger aufgrund der Rechtswidrigkeit der erteilten Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften in seinen Rechten, sodass dieser aufzuheben war, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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1. Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die Baugenehmigung rechtswidrig ist und die Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Normen beruht, die gerade dem Schutz des betroffenen Nachbarn zu dienen bestimmt sind. Die angegriffene Baugenehmigung verletzt den Kläger in seinen Rechten, da die Vorschriften des Abstandsflächenrechts (Art. 6 BayBO), die gemäß Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. c BayBO 2018 (zur Frage der maßgeblichen Rechtslage s.u. 2.), ebenso wie die beantragte Abweichung gemäß Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO 2018, im vereinfachten Genehmigungsverfahren zu prüfen waren und diesen nachbarschützende Wirkung zukommt. Die gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO erteilte Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften ist rechtswidrig.
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2. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit vorliegender Nachbarklage gegen die Baugenehmigung vom 9. September 2019 ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Behördenentscheidung maßgeblich, mithin die Bayerische Bauordnung in der Fassung vom 10. Juli 2018 (BayBO 2018). Hinsichtlich späterer Änderungen ist zu differenzieren: solche zu Lasten des Bauherrn haben außer Betracht zu bleiben. Insofern vermittelt die erteilte Baugenehmigung dem Bauherrn nämlich eine Rechtsposition, die sich gegenüber im Rechtsmittelverfahren eines Dritten eintretenden Änderungen der Sach- und Rechtslage durchsetzen kann (BVerwG, U.v. 13.12.2007 - 4 C 9.07 - juris Rn. 13). Nachträgliche Änderungen zu seinen Gunsten sind dagegen zu berücksichtigen. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass es mit der nach Maßgabe des einschlägigen Rechts vermittelten Baufreiheit nicht vereinbar wäre, eine zur Zeit des Erlasses rechtswidrige Baugenehmigung aufzuheben, die sogleich nach der Aufhebung wieder erteilt werden müsste (BVerwG, B.v. 23.4.1998 - 4 B 40/98 - juris Rn. 3).
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Dementsprechend sind für die vorliegend maßgebliche Frage, ob das Vorhaben zu beachtende abstandsflächenrechtliche Vorschriften einhält, insbesondere, ob die gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO erteilte Abweichung von den nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsflächen rechtmäßig erteilt wurde, grundsätzlich die jeweiligen Regelungen der BayBO 2018, aber auch die zugunsten des Beigeladenen eingetretenen Rechtsänderungen zu berücksichtigen, s. hierzu jeweils unten.
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3. Die Neuerrichtung des abgerissenen Teils des Hauptgebäudes ist abstandsflächenpflichtig. Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind von oberirdischen Gebäuden Abstandsflächen vor den Außenwänden einzuhalten. Dies gilt bei der erstmaligen Errichtung eines Gebäudes, aber auch bei der Errichtung eines Ersatzbaus für ein abgerissenes Bestandsgebäude. Ein etwaiger Bestandsschutz ist mit dem Abriss verloren gegangen. Ein nachwirkender Bestandsschutz kann, weil er in der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) nicht angelegt ist, nur kraft besonderer, hier fehlender gesetzlicher Regelung anerkannt werden (BayVGH, U.v. 13.2.2001 - 20 B 00.2213 - juris Rn. 17).
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Entgegen der in der mündlichen Verhandlung vertretenen Auffassung des Beklagtenvertreters entfällt diese Pflicht auch nicht aufgrund eines Vorrangs des Bauplanungsrechts, wie er in Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO vorgesehen ist. Danach ist eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf. Ein solcher Fall liegt hier schon deswegen nicht vor, weil das Vorhaben nicht unmittelbar an der Grenze, sondern in einem Abstand von 1m zu dieser errichtet worden ist. Eine Errichtung an der Grenze, wie sie Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO schon nach seinem eindeutigen Wortlaut fordert (BayVGH, U.v. 22.11.2006 - 25 B 05.1717 - NVwZ-RR 2007, 512) ist daher nicht gegeben.
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4. Für den vorliegenden Rechtsstreit kann dahinstehen, welche Abstandsflächentiefe vom Vorhaben einzuhalten ist, denn das in 1m von der Grundstücksgrenze errichtete Gebäude hält unstreitig nicht einmal die gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO erforderliche Mindestabstandsflächentiefe von 3m ein. Es bedurfte also in jedem Fall einer Abweichung gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO 2018. Zwar dürfte der Beigeladenen hinsichtlich der Tiefe der erforderlich werdenden Abstandsflächen nach oben (2.) Gesagtem wohl die Änderung des Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO 2018 zugutekommen, wie sie der Landesgesetzgeber mit Gesetz vom 23. Dezember 2020 vorgenommen hat. Danach beträgt die Tiefe der Abstandsflächen nun nicht mehr 1 H, sondern lediglich 0,4 H (Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO in der Fassung vom 23. Dezember 2020 - im Folgenden: BayBO 2021). Zudem kann die jeweilige Gemeinde durch städtebauliche Satzung oder eine Satzung nach Art. 81 BayBO ein abweichendes Maß der Tiefe der Abstandsfläche zulassen oder vorschreiben, Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO. Für den vorliegenden Rechtsstreit kann dies aber offenbleiben, weil auch nach dem neuen Rechtsstand jedenfalls ein Mindestabstand von 3m einzuhalten wäre (Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO 2021).
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5. Die gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO erteilte Abweichung ist rechtswidrig. Der Beklagte hat hinsichtlich des ihm bei der Erteilung der Abweichung obliegenden Ermessens die Anforderungen des Art. 40 BayVwVfG nicht beachtet. Gemäß § 114 Satz 1 VwGO prüft das Gericht, wenn die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, auch, ob der Verwaltungsakt deswegen rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.
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Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von Anforderungen dieses Gesetzes und auf Grund dieses Gesetzes erlassener Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 vereinbar sind. Der Beigeladenen könnte zudem der mit Gesetzesänderung vom 23. Dezember 2020 eingefügte Art. 63 Abs. 1 Satz 2 BayBO (2021) zugute kommen, wonach von den Anforderungen des Art. 6 Abweichungen insbesondere zugelassen werden sollen, wenn ein rechtmäßig errichtetes Gebäude durch ein Wohngebäude höchstens gleicher Abmessung und Gestalt ersetzt wird. Hierbei handelt es sich ausweislich der Gesetzesbegründung um einen Fall intendierten Ermessens als sog. Regelbeispiel (LT-Drs. 18/8547, Begründung zu Nr. 22 Buchst. a (Art. 63 Abs. 1 Satz 2 neu), S. 20). Allerdings braucht auch diese Frage für die vorliegende Entscheidung nicht geklärt zu werden, genauso wie offenbleiben kann, ob die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Abweichung überhaupt vorgelegen haben. Jedenfalls hat der Beklagte das ihm zustehende Ermessen nicht in einer Art. 40 BayVwVfG entsprechenden Weise ausgeübt. Es liegt ein Ermessensnichtgebrauch vor.
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Art. 40 BayVwVfG regelt, dass, so die Behörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, diese ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten hat. Sie ist damit verpflichtet, das ihr eingeräumte Ermessen auszuüben.
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Ob die Verwaltung von der Ermessensermächtigung Gebrauch gemacht hat, ist anhand aller erkennbaren Umstände zu beurteilen (Wolff in Sodan/Ziekow VwGO, 5. Auflage 2018, Rn. 114b zu § 114). Als Indiz für eine Ermessensunterschreitung dient regelmäßig, wenn die Begründung der Entscheidung die Gesichtspunkte der Abwägung nicht erkennen lässt (Geis in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 1. EL August 2021, Rn. 97 zu Art. 40 VwVfG). Daneben sind aber auch sonstige Umstände zu berücksichtigen (Wolff a.a.O.), sodass sich auch aus dem Gesamtzusammenhang ergeben kann, dass die Behörde eine Ermessensentscheidung getroffen und welche Ermessenserwägungen sie angestellt hat (Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, Rn. 18 zu § 114).
35
Im streitgegenständlichen Bescheid ist zur Begründung der Abweichungsentscheidung in bloßer Wiedergabe des Gesetzeswortlauts ausgeführt, diese habe erteilt werden können, da sie unter Berücksichtigung der ausreichenden Belüftung und Belichtung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Weitere Ausführungen enthält die Begründung indes nicht. Insbesondere fehlt es an jeglichen Ausführungen zu den aus Sicht des Beklagten abwägungsrelevanten Gesichtspunkten und infolgedessen an einer Darlegung des Abwägungsvorgangs. Obschon aus der Formulierung „konnte erteilt werden“ gefolgert werden könnte, dass die Behörde das ihr zustehende Ermessen erkannt hat, ergeben sich mangels weiterer Ausführungen im Bescheid keine Anhaltspunkte für eine Ausübung. Dass der Beklagte sein Ermessen nicht ausgeübt hat, wird zudem dadurch bestätigt, dass sich dieser im Laufe des vorliegenden Verwaltungsstreitverfahrens zwar darauf berufen hat, die Abweichung sei im Hinblick auf denkmalschutzfachliche Belange erfolgt, sich hierzu jedoch aus den - nach Auskunft des Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung vollständig - vorgelegten Akten keine Anhaltspunkte ergeben. Aktenkundig ist allein die Stellungnahme der Unteren Denkmalschutzbehörde vom 8. März 2019 (Bl. 46f. der Behördenakte) zum Bauantrag. Eine Forderung dahingehend, dass die Wiedererrichtung aus denkmalfachlichen Gründen nur in der von der Beigeladenen beantragten Form erfolgen dürfe, enthält diese Stellungnahme nicht. Eine Stellungnahme der Fachbehörde (Landesamt für Denkmalschutz) ist nicht aktenkundig geworden.
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Dabei hat die Zulassung eines grenznahen (Wohn-)Gebäudes durch Erteilung einer Abweichung erhebliche Auswirkungen auf die öffentlich-rechtlich geschützten Belange eines betroffenen Nachbarn. Dieser wird aufgrund dessen gezwungen, ein Heranrücken der Bebauung an die Grenznähe zu dulden und die damit einhergehenden nachteiligen Auswirkungen auf die Belichtung, Belüftung, Besonnung und den Brandschutz und damit für sein grundgesetzlich geschütztes Eigentumsrecht (Art. 14 GG) hinzunehmen. Auch diesbezüglich finden sich keinerlei Ausführungen zu Ermessenserwägungen im angefochtenen Bescheid.
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Eine Ergänzung der Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, § 114 Satz 2 VwGO, schied damit mangels Ermessensbetätigung im angefochtenen Bescheid aus.
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6. Gemäß § 154 Abs. 1 und Abs. 3 VwGO tragen der Beklagte und die Beigeladene, die einen eigenen Klageabweisungsantrag gestellt hat, die Kosten je zur Hälfte. Es entsprach der Billigkeit, § 162 Abs. 3 VwGO, die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen zu lassen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 709 Satz 1 ZPO.