Inhalt

VGH München, Urteil v. 16.05.2022 – 24 B 22.317
Titel:

Erfolgreiche Klage auf Erteilung einer Waffenbesitzkarte

Normenkette:
WaffG § 4 Abs. 1 Nr. 2, § 5 Abs. 1 Nr. 2 lit. a, lit. b, § 8
Leitsätze:
1. "Reichsbürgertypische" Verhaltensweisen, insbesondere die Beantragung eines "Staatsangehörigkeitsausweises bringen eine verfassungsfeindliche Gesinnung zum Ausdruck, die zur waffenrechtlichen Unzuverlässigkeit führt (Übertragung von BVerwG BeckRS 2021, 47865). (Rn. 15 – 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Tatbestand des § 5 Abs. 1 Nr. 2 WaffG stellt hinsichtlich der festgestellten Tatsachen nicht auf starre Fristen ab, sondern erfordert eine aktuelle Gefahrenprognose, bei der auch zu berücksichtigen ist, ob die festgestellten Tatsachen auch die Annahme anderer Unzuverlässigkeitstatbestände rechtfertigen, aber die dortigen gesetzlich festgelegten Fristen möglicherweise schon abgelaufen sind.. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erteilung einer Waffenbesitzkarte für Sportschützen, Unzuverlässigkeit, Frühere Zugehörigkeit zur „Reichsbürgerszene“, Beantragung eines Staatsangehörigkeitsausweises, Langer Zeitablauf, Waffenbesitzkarte, Reichsbürgerszene, Staatsangehörigkeitsausweis, Zeitablauf
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 04.12.2020 – AN 16 K 19.689
Fundstelle:
BeckRS 2022, 13371

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 4. Dezember 2020 wird aufgehoben.   
II. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Versagungsbescheids vom 25. Februar 2019 verpflichtet, dem Kläger die begehrte Waffenbesitzkarte für Sportschützen zu erteilen.     
III. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.     
IV. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.     
V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

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Der Kläger begehrt die Erteilung einer Waffenbesitzkarte als Sportschütze. Er ist seit 2012 im Bewachungsgewerbe tätig und Inhaber eines Sicherheitsdienstes.
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Das Landratsamt A.lehnte seinen diesbezüglichen Antrag nach Anhörung mit Bescheid vom 25. Februar 2019 ab. Dem Kläger fehle die waffenrechtliche Zuverlässigkeit gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a und b sowie nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a WaffG, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass er der sog. „Reichsbürgerszene“ nahestehe bzw. nahegestanden habe. Er habe im September 2014 unter Verwendung von „Reichsbürger-Vokabular“ einen Staatsangehörigkeitsausweis beantragt. Die Begründung, er wolle deutsche Seeschiffe bewachen, überzeuge nicht. Zudem habe er in den Jahren 2012 bis 2013 einige Veranstaltungen der „Republik Freies Deutschland“ besucht und habe am 7. März 2013 eine „Geheimhaltungsvereinbarung“ unterschrieben.
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Aus der in der Behördenakte enthaltenen „Geheimhaltungsvereinbarung“ ergibt sich, dass der Kläger sich damit verpflichtet hat, alle Informationen und Daten von jeder Verwaltung der „Republik Freies Deutschland“ geheim und vertraulich zu halten sowie zur Verfügung gestellte Unterlagen auf Aufforderung der zuständigen Verwaltung, spätestens jedoch bei Beendigung der Zusammenarbeit zurückzugeben. Die Vereinbarung und die Pflicht zur Geheimhaltung ende zwei Jahre nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst der zuständigen Verwaltung der „Republik Freies Deutschland“. Zudem wurde von einer E-Mail-Adresse des Klägers am 4. Juli 2013 eine Einladung zu einem Stammtisch der „Republik Freies Deutschland“ versandt. Am 10. Oktober 2014 stellte das Landratsamt A.dem Kläger einen Staatsangehörigkeitsausweis aus. In dem diesbezüglichen Antrag vom 5. September 2014 hatte der Kläger angegeben, er besitze neben der deutschen Staatsangehörigkeit noch die Staatsangehörigkeit des Königreichs Bayerns, habe die deutsche Staatsangehörigkeit durch Geburt gemäß § 4 Abs. 1 RuStAG (Stand 22.7.1913) erworben, sei im Geburtsstaat Bayern geboren und auch wohnhaft und habe sich zeitweise im Staat Bayern oder Preußen aufgehalten. Sein 19** geborener Vater besitze noch die Staatsangehörigkeit Bayerns. Einem polizeilichen Aktenvermerk vom 17. Mai 2017 ist zu entnehmen, dass der Kläger auf Vorhalt verneint habe, ein „Reichsbürger“ zu sein oder damit zu sympathisieren. Er müsse in seinem Beruf im Sicherheitsdienst häufig mit der Polizei zusammenarbeiten. Er gebe auch Vorbereitungskurse für die Sachkundeprüfung nach § 34 GewO und müsse hierbei die relevanten Gesetze unterrichten. Er zahle auch pflichtbewusst seine Steuern und Bußgelder. Die Polizei stufte ihn daraufhin als „Verdachtsfall“ ein.
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage auf Erteilung einer Waffenbesitzkarte mit Urteil vom 4. Dezember 2020 abgewiesen. Der Kläger habe „reichsbürgertypische“ Verhaltensweisen gezeigt und diese bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht glaubhaft widerlegt. Der Kläger habe nicht zu erklären vermocht, für welchen Zweck er den Staatsangehörigkeitsausweis benötigt habe. Sein Vortrag, er habe nach Ausfüllhilfen gegoogelt, sei nicht glaubhaft. Die Einträge im Formular würden auch dafürsprechen, dass er sich genau überlegt habe, was er dort einfüllen solle. Er habe nach Ansicht des Gerichts auch die Stammtische mit organisiert und nicht nur teilgenommen. Er habe die Gruppe nicht deshalb verlassen, weil er deren Gedankengut nicht teilte, sondern weil er dort keine geschäftlichen Kontakte hätte anbahnen können, so wie von ihm gewünscht. Sein erst nach Bescheiderlass bekannt gewordenes Verhalten gegenüber dem Gerichtsvollzieher betreffend die Zahlung der GEZ sei „reichsbürgertypisch“. Auch die lange Zeitdauer führe nicht dazu, dass der Kläger sich von dem Gedankengut entfernt habe. Er bagatellisiere sein Verhalten lediglich und setze sich nicht kritisch damit auseinander. Dass er mit seiner Sicherheitsfirma auch viele Kommunen als Auftraggeber habe, die Polizei ihn nur als Verdachtsfall geführt habe und er pünktlich seine Steuern zahle, ändere daran nichts.
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Mit seiner vom Senat zugelassenen Berufung macht der Kläger geltend, die geschilderten Vorfälle aus den Jahren 2013 und 2014 rechtfertigten die Annahme der Unzuverlässigkeit heute nicht mehr. Es gäbe keine neuen Tatsachen. In seiner Anhörung im Erörterungstermin vor der Berichterstatterin am 7. April 2022 brachte er vor, er habe durch einen Bekannten von den Stammtischen der „Republik Freies Deutschland“ erfahren und habe gehofft, dort Kunden gewinnen zu können. Nachdem er innerhalb von eineinhalb Jahren ca. vier bis fünf Mal die Stammtische besucht habe, habe er festgestellt, dass es dabei hauptsächlich darum gegangen sei, persönliche Differenzen mit Behörden und Verwaltungen zu besprechen und er dort keine Geschäftsbeziehungen anbahnen konnte. Er habe deshalb an diesen nicht weiter teilgenommen. Er könne sich nicht erinnern, die Einladungsmail vom 4. Juli 2013 versandt zu haben. Wie es dazu gekommen sei, könne er sich nicht erklären. An die Unterzeichnung der „Geheimhaltungsvereinbarung“ könne er sich ebenfalls nicht mehr erinnern. Den Staatsangehörigkeitsausweis habe er nie benötigt.
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Er beantragt,
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das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 4. Dezember 2020 wird aufgehoben.
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Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger unter Aufhebung des Bescheids des Landratsamts A.vom 25. Februar 2019 die beantragte Waffenbesitzkarte gemäß § 8 WaffG als Sportschütze zu erteilen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Es könne weiterhin (noch) nicht von einer Wiedererlangung der waffenrechtlichen Zuverlässigkeit des Klägers ausgegangen werden. Es seien noch keine zehn Jahre seit dem letzten Vorfall verstrichen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Der Senat konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung über die Berufung entscheiden, denn die Parteien haben im Erörterungstermin vom 7. April 2022 einer solchen Vorgehensweise zugestimmt.
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Die zulässige Berufung ist begründet, denn der Kläger hat gemäß § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO mittlerweile einen Anspruch auf Erteilung einer Waffenbesitzkarte nach § 8 des Waffengesetzes vom 11. Oktober 2002 (WaffG, BGBl I S. 3970), zuletzt geändert durch Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl I S. 1328). Gründe nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1, § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a und b sowie nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa WaffG, die zur Versagung der beantragten Waffenbesitzkarte führen müssen, liegen zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nicht mehr vor.
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1. Der Kläger ist nicht mehr unzuverlässig gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa WaffG, denn die festgestellten Vorfälle liegen schon mehr als fünf Jahre zurück. Nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa WaffG besitzen Personen, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie in den letzten fünf Jahren Bestrebungen einzeln verfolgt haben, die gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet sind, die erforderliche Zuverlässigkeit gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 2 WaffG nicht. Dabei muss nicht feststehen, dass der Betroffene tatsächlich solche Bestrebungen verfolgt oder verfolgt hat, sondern es reicht aus, wenn belastbare Tatsachen eine solche Annahme rechtfertigen.
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Hier lagen bezüglich des Klägers in den Jahren 2013 und 2014 Tatsachen vor, die die Annahme rechtfertigten, dass er Bestrebungen verfolgt hat, die gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet sind, denn er hat unbestritten an Stammtischen der zur „Reichbürgerszene“ zu rechnenden „Republik Freies Deutschland“ (vgl. z.B. die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 12.7.2016, Bt-Drs. 18/9161, S. 4 f.) teilgenommen und dort eine „Geheimhaltungsvereinbarung“ unterschrieben sowie einen Staatsangehörigkeitsausweis mit „reichsbürgertypischen“ Angaben beantragt. Solche Verhaltensweisen, insbesondere die Beantragung eines Staatsangehörigkeitsausweise unter fortgesetzter Verwendung der Angaben „Königreich Bayern“ und „gemäß § 4 Abs. 1 RuStaG Stand 1913“ bringen eine verfassungsfeindliche Gesinnung zum Ausdruck (vgl. im Beamtenrecht BVerwG, U.v. 2.12.2021 - 2 A 7.21 - juris Rn. 30 ff.).
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Allerdings liegen alle diese Vorfälle mittlerweile mehr als fünf Jahre zurück und nach Auskunft des Beklagten sind seit dem Jahr 2015 keine weiteren Vorfälle mehr bekannt geworden. Schon bei seiner Anhörung durch die Polizei im Jahr 2017 hat sich der Kläger von der „Reichsbürgerszene“ distanziert und wurde deshalb nur als „Verdachtsfall“ eingestuft. Auch die Anhörung des Klägers im Erörterungstermin vom 7. April 2022 ergab, dass keine Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen, dass er in den letzten fünf Jahren verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt hat. Der Kläger konnte glaubhaft berichten, dass er nach ca. vier bis fünf Besuchen der Stammtische der „Republik Freies Deutschland“ festgestellt hat, dass er die Auffassungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer dort nicht teilt, sein Ziel dort Kunden zu gewinnen, nicht zu erreichen war und er sich deshalb von diesem Personenkreis wieder zurückgezogen hat. Dabei ist insbesondere auch zu berücksichtigen, dass die sog. „Reichsbürgerszene“ zu diesem Zeitpunkt in der Öffentlichkeit noch nicht sehr breit wahrgenommen worden ist, in den Verfassungsschutzberichten nicht explizit erwähnt wurde (in Bayern erstmals im Verfassungsschutzbericht 2016) und damit einem durchschnittlich gebildeten Bürger, wie dem Kläger, zu diesem Zeitpunkt nicht zwingend sofort geläufig sein musste, was sich hinter der „Republik Freies Deutschland“ eigentlich verbirgt. Ob er dabei tatsächlich im Jahr 2013 einmal zu einem der Stammtische eingeladen hat, wie die von seiner E-Mail-Adresse versandte E-Mail vom 4. Juli 2013 nahelegt, kann dahinstehen. Der Kläger konnte überzeugend darlegen, dass er nach mehreren Stammtischbesuchen festgestellt hat, dass die dort vertretenen Meinungen seinen Auffassungen nicht entsprochen haben und er sich deshalb nach diesen Stammtischbesuchen in den Jahren 2013/2014 von der Gruppierung abgewendet hat. Wie tief er damals in die Organisation der Stammtische eingebunden war und ob sein Bekannter ihn auf diese Stammtische aufmerksam gemacht hat oder andersherum, ändert dran nichts. Ebenso ist unerheblich, aus welchen Gründen er im Jahr 2013 die „Geheimhaltungsvereinbarung“ unterschrieben hat. Er hat glaubhaft geschildert, dass er sich nicht mehr erinnern kann, dieses Dokument unterschrieben zu haben, die Unterschrift aber wahrscheinlich beim erstmaligen Besuch eines Stammtisches erfolgte. Diese Annahme wird von dem Vortrag des Beklagten gestützt, dass der Kläger sich im Verwaltungsverfahren an dieses Dokument nicht erinnern konnte und den Inhalt des Dokuments dann aus der Behördenakte zur Kenntnis genommen habe. Dass er sich nach Beendigung der Stammtischbesuche an diese, ihm nicht mehr präsente „Geheimhaltungsvereinbarung“ in irgendeiner Art und Weise gebunden gefühlt und sein Verhalten danach ausgerichtet hat, ist nicht ersichtlich. Auch die Schwierigkeiten des Klägers und seiner Ehefrau mit dem Einzug der Rundfunkgebühren im Jahr 2018 und dem dafür zuständigen Gerichtsvollzieher, führen nicht zu einer anderen Einschätzung. Zum einen hat das Landratsamt mit Schreiben vom 11. Juli 2019 bestätigt, dass der Gerichtsvollzieher angegeben habe, die Korrespondenz sei über die Ehefrau des Klägers gelaufen. Zum anderen hat der Kläger eine E-Mail vom 5. Juli 2018 vorgelegt, mit der nicht in querulatorischer oder „reichsbürgertypischer“ Art die Zahlung der Rundfunkgebühren verweigert wird, sondern in sachlichem Ton eine Aufstellung der geforderten und überwiesenen Beträge angefordert wird.
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Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die festgestellten Tatsachen trotz Ablaufs der Fünfjahresfrist im Rahmen der Anwendung des § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa WaffG noch Berücksichtigung finden könnten, da der Kläger sich von seinem Verhalten nicht hinreichend distanziert hat. Zwar trifft es grundsätzlich zu, dass nach dem Wortlaut der Norm nicht die Tatsachen, sondern die daraus gefolgerten Bestrebungen innerhalb der letzten fünf Jahren erfolgt sein müssen. Allerdings kann dem Kläger anhand der festgestellten Tatsachen keine über die Teilnahme an den Stammtischen hinaus fortdauernde „Mitgliedschaft“ in einer bestimmten Organisation vorgeworfen werden, die die Annahme einer nach Beendigung der Teilnahme an den Stammtischen fortdauernden Verfolgung verfassungsfeindlicher Bestrebungen rechtfertigen könnte. Die festgestellten Tatsachen erschöpfen sich im Wesentlichen in der fortgesetzten Teilnahme an den Veranstaltungen, die zwar eine gewisse Nähe und Sympathie für die dort geäußerten Theorien impliziert, da der Kläger ansonsten spätestens nach dem ersten Stammtisch kein Interesse mehr gezeigt hätte und die Stammtische nicht mehr besucht hätte. Nach Beendigung der Teilnahme an den Stammtischen ist aber die Annahme nicht mehr gerechtfertigt, dass er weiterhin verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt.
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2. Der Kläger ist auch nicht mehr gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a und b WaffG unzuverlässig. Danach liegt Unzuverlässigkeit vor, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Betreffende Waffen oder Munition missbräuchlich oder leichtfertig verwenden oder mit Waffen oder Munition nicht vorsichtig oder sachgemäß umgehen oder diese Gegenstände nicht sorgfältig verwahren wird. In Anbetracht des vorbeugenden Charakters der gesetzlichen Regelungen und der erheblichen Gefahren, die von Waffen und Munition für hochrangige Rechtsgüter ausgehen, genügt eine hinreichende, auf der Lebenserfahrung beruhende Wahrscheinlichkeit und ein Restrisiko muss nicht hingenommen werden (vgl. BayVGH, B.v. 22.12.2014 - 21 ZB 14.1512 - juris Rn.12; B.v. 4.12.2013 - 21 CS 13.1969 - juris Rn. 14; BVerwG, B.v. 10.7.2018 - 6 B 79.18 - NJW 2018, 2812 = juris Rn. 6; B.v. 12.10.1998 - 1 B 245.97 - Buchholz 402.5 WaffG Nr. 83 = juris Rn. 5; B.v. 31.1.2008 - 6 B 4.08 - juris Rn. 5).
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Dabei ist zu berücksichtigten, dass § 5 Abs. 1 WaffG die Fälle der obligatorischen Unzuverlässigkeit betrifft. Der Gesetzgeber umreißt hier Fallgruppen des Fehlverhaltens, welche als so gravierend eingestuft werden, dass eine positive Zuverlässigkeitsprüfung von Gesetzes wegen ausscheidet (vgl. Gade in Gade, Waffengesetz, 2. Aufl. 2018, § 5 Rn. 2). Im Gegensatz zu § 5 Abs. 1 Nr. 1 WaffG, der an ein konkretes strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Betroffenen anknüpft, wird in § 5 Abs. 1 Nr. 2 WaffG vom Gesetzgeber die Befürchtung regelwidrigen Verhaltens in der Zukunft auf Grund tatsächlicher Anhaltspunkte als zwingender Grund für die Annahme der Unzuverlässigkeit angeführt, soweit aus dem Verhalten „mit hoher Wahrscheinlichkeit der Eintritt von Schäden für hohe Rechtsgüter resultiert, sei es durch das Verhalten des Antragstellers selbst (Buchst. a und b, Alt. 1) oder anderer (Buchst. b, Alt. 2 und Buchst. c)“ (BT-Drs. 14/7758, 54; Gade a.a.O. Rn. 6).
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Hinsichtlich der Anhänger der „Reichsbürgerszene“ ist in der Rechtsprechung des Senats geklärt (stRspr vgl. BayVGH, B.v. 20.12.2021 - 24 ZB 20.1386 - juris Rn. 15 m.w.N.), dass diese als unzuverlässig gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 WaffG anzusehen sind, da mit der Verleugnung des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland zwangsläufig die Gefahr einhergeht, dass die Betreffenden die geltenden Gesetze der Bundesrepublik Deutschland, und damit auch das Waffengesetz, nicht als für sich verbindlich anerkennen und deshalb die Gefahr besteht, dass die Vorschriften nicht einhalten werden.
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Dabei ist aber zu berücksichtigten, dass als Anhänger der „Reichsbürgerszene“ nur jemand bezeichnet werden kann, der sich deren Gedankengut zu eigen gemacht hat (vgl. BayVGH, U.v. 27.1.2022 - 24 B 20.2539 - juris Rn. 20). Für die Annahme einer Unzuverlässigkeit nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 WaffG müssen daher Tatsachen vorliegen, die darauf hinweisen, dass der Betreffende tatsächlich Anhänger der „Reichsbürgerszene“ ist. Das ist nach der obergerichtlichen Rechtsprechung z.B. regelmäßig dann der Fall, wenn der Betreffende einen Staatsangehörigkeitsausweis mit „reichsbürgertypischen“ Angaben beantragt hat (vgl. BayVGH, B.v. 8.12.2021 - 24 ZB 20.1495 - juris Rn. 13).
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Darüber hinaus ist zu beachten, dass der Tatbestand des § 5 Abs. 1 Nr. 2 WaffG hinsichtlich der festgestellten Tatsachen nicht auf starre Fristen abstellt, sondern eine aktuelle Gefahrprognose erfordert. Dies ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut der Norm, der gerade keinen Zeitraum angibt, in dem die Tatsachen festgestellt worden sein müssen, als auch aus der Systematik der Unzuverlässigkeitstatbestände sowie aus Sinn und Zweck der Vorschrift. Der Gesetzgeber hat bei den verschiedenen Tatbeständen entweder keine (§ 5 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 5 WaffG) oder Fristen von zehn (§ 5 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2 WaffG) oder fünf Jahren (§ 5 Abs. 2 Nr. 1, 3 und 4 WaffG) festgelegt und damit konkrete Überlegungen angestellt, wie lange davon ausgegangen werden muss, dass aus einem bestimmten Verhalten Gefahren resultieren. Wenn auch bei § 5 Abs. 1 Nr. 2 WaffG eine solche Frist gelten sollte, dann hätte der Gesetzgeber dies deshalb auch ausdrücklich geregelt. Darüber hinaus lässt sich der Gesetzesbegründung (Bt-Drs. 14/7758, S. 54) entnehmen, dass für die Annahme einer Unzuverlässigkeit nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 WaffG eine aktuelle Prognose erforderlich ist und gerade nicht schematisch auf den Ablauf bestimmter Zeitspannen zurückgegriffen werden kann. Dies bedeutet für die Rechtsanwendung, dass die nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 WaffG festgestellten Tatsachen nach Schwere, Gefahrpotential, Zeitablauf und weiteren bekannten Umstände dahingehend bewertet werden müssen, ob sie zum Zeitpunkt der Entscheidung noch die Annahme rechtfertigen, dass der Betreffende mit Waffen nicht sorgfältig umgehen wird. Dabei ist auch in den Blick zu nehmen, ob die festgestellten Tatsachen auch die Annahme anderer Unzuverlässigkeitstatbestände rechtfertigen, aber die dortigen gesetzlich festgelegten Fristen möglicherweise schon abgelaufen sind. Denn die verschiedenen Tatbestände des § 5 WaffG stehen zwar grundsätzlich nicht im Verhältnis der Spezialität zueinander (vgl. zu den Tatbeständen des § 5 Abs. 2 BVerwG, U.v. 30.9.2009 - 6 C 29.08 - juris Rn. 13 ff.), aber der absolute Unzuverlässigkeitsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 2 WaffG kann auch nicht als Auffangtatbestand für sämtliche Verhaltensweisen dienen, die von den relativen Unzuverlässigkeitsgründen des § 5 Abs. 2 WaffG wegen Zeitablaufs nicht mehr erfasst sind.
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Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben liegen im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte (mehr) dafür vor, dass der Kläger derzeit noch der „Reichsbürgerszene“ zugehörig sein könnte und damit unzuverlässig gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 WaffG ist. Unabhängig davon, ob der Kläger sich zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses und zum Zeitpunkt des erstinstanzlichen Urteils die Vorfälle aus den Jahren 2013 und 2014 noch entgegen halten lassen musste, und zu diesen Zeitpunkten noch Tatsachen die Annahme rechtfertigten, dass er Waffen oder Munition missbräuchlich oder leichtfertig verwenden oder mit Waffen oder Munition nicht vorsichtig oder sachgemäß umgehen oder diese Gegenstände nicht sorgfältig verwahren wird, ist dies zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nicht mehr der Fall.
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Der Kläger hat sich nach seinen übereinstimmenden Angaben im Verwaltungsverfahren, im erstinstanzlichen Verfahren und vor dem Senat schon vor über sieben Jahren von der Gruppierung „Republik Freies Deutschland“ abgewendet und spätestens seit dem Jahr 2015 keine Stammtische mehr besucht. Die bekannt gewordenen Beiträge des Klägers zu den damaligen Stammtischen waren zwar nicht völlig untergeordnet, wenn man davon ausgeht, dass er gemäß der E-Mail vom 4. Juli 2013 selbst einmal zu einem Stammtisch eingeladen hat und er möglicherweise die „Geheimhaltungsvereinbarung“ bei der Unterzeichnung, an die er sich zwar glaubhaft nicht mehr erinnern kann, die er aber auch nicht bestreitet, sogar überzeugend fand. Allerdings hatte er schon im Jahr 2014 seine Teilnahme an den Stammtischen aufgegeben und hat sich bei der polizeilichen Anhörung im Mai 2017 von der Szene ausdrücklich distanziert, obwohl damals noch kein waffenrechtliches Verfahren anhängig war. Dass der Kläger heute noch solchem Gedankengut anhängen könnte, kann aus diesen Vorfällen nach der Überzeugung des Senats nicht mehr abgeleitet werden.
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Auch die Beantragung eines Staatsangehörigkeitsausweises im Jahr 2014 mit Angaben, die damals die Annahme einer verfassungsfeindlichen Gesinnung rechtfertigten (s.o. Nr. 1), führt heute nicht mehr dazu, dass eine Unzuverlässigkeit des Klägers gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a und b WaffG anzunehmen wäre. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Tatsachen nicht innerhalb der letzten fünf Jahre aufgetreten sind und deshalb im Rahmen des § 5 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa WaffG nicht mehr verwertet werden können (s.o. Nr. 1). Dies führt zwar nicht zwangsläufig zu einer Unverwertbarkeit im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a und b WaffG. Es müssen aber besondere Umstände vorliegen, die in einem solchen Fall weiterhin die Annahme rechtfertigen, dass der Betreffende Waffen oder Munition missbräuchlich oder leichtfertig verwenden oder mit Waffen oder Munition nicht vorsichtig oder sachgemäß umgehen oder diese Gegenstände nicht sorgfältig verwahren wird. Solche Umstände können z.B. darin liegen, dass der Betreffende in „reichsbürgertypischer“ Manier auch noch nach Ausstellung des Staatsangehörigkeitsausweises gefordert hat, dass darin bestimmte, gesetzlich nicht vorgesehene Eintragungen vorgenommen werden, dass Eintragungen im Register EStA (Entscheidungen in Staatsangehörigkeitsangelegenheiten) entsprechend bereinigt werden oder der Betreffende eine Bezahlung der angefallenen Verwaltungsgebühren verweigert hat. Solche Umstände liegen hier nicht vor, sondern der Kläger hat den Staatsangehörigkeitsausweis erhalten und keine weitere Korrespondenz mit den Behörden geführt. Nach seinen eigenen Angaben hat er auch nie davon Gebrauch gemacht. Den bekannten Umständen kann daher nicht entnommen werden, dass nach Ablauf von mehr als fünf Jahren noch eine erhebliche Gefahr für hohe Rechtsgüter vom Kläger ausgehen könnte.
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3. Auch im Übrigen sind vom Beklagten keine Umstände benannt oder sonst bekannt geworden, die es rechtfertigen würden, dem Kläger die Erteilung einer Waffenbesitzkarte für Sportschützen zu verweigern.
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4. Demzufolge war auf die Berufung des Klägers das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben und der Beklagte unter Aufhebung des Versagungsbescheids zu verpflichten, die begehrte Waffenbesitzkarte zu erteilen. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 709 ff. ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).