Inhalt

AG Nürnberg, Beschluss v. 05.04.2022 – 101 F 1216/22
Titel:

Unanfechtbarkeit der einstweiligen Anordnung der Kindesherausgabe 

Normenkette:
FamFG §§ 49 ff., § 57, §§ 151 ff.
Leitsatz:
Entscheidungen im Verfahren der einstweiligen Anordnung in Kindschaftssachen sind nur dann anfechtbar, wenn das Gericht des ersten Rechtszugs auf Grund mündlicher Erörterung über die Herausgabe eines Kindes entschieden hat. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kindesherausgabe, einstweilige Anordnung, mündliche Erörterung, Anfechtbarkeit, Unanfechtbarkeit
Rechtsmittelinstanz:
OLG Nürnberg, Beschluss vom 28.04.2022 – 7 UF 330/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 12894

Tenor

S. hat das Kind R., nebst den zum persönlichen Gebrauch des Kindes bestimmten Sachen unverzüglich an den Ergänzungspfleger Jugendamt der Stadt N. herauszugeben.
Diese Verpflichtung triff auch jede dritte Person, bei der sich das Kind aufhält.
Die zur Herausgabe berechtigte Person darf sich bei der Erwirkung der Herausgabe der Hilfe des zuständigen Gerichtsvollziehers bedienen. Dieser ist ausdrücklich beauftragt und ermächtigt, bei der Vollstreckung unmittelbaren Zwang gegenüber der zur Herausgabe verpflichteten Person auszuüben. Er ist in diesem Fall befugt, zu seiner Unterstützung Polizeibeamte hinzuzuziehen. Eine Vollstreckung darf nur durchgeführt werden, wenn die zur Herausgabe berechtigte Person mit der Vollstreckung auch nach Ort und Zeitpunkt einverstanden ist und sie ein herauszugebendes Kind an Ort und Stelle übernimmt.
Der Gerichtsvollzieher ist bei der Vollstreckung der Herausgabeverpflichtung beauftragt und ermächtigt, die Wohnung der zur Herausgabe verpflichteten Person auch gegen deren Willen zum Zwecke der Kindesauffindung zu durchsuchen. Er darf dazu verschlossene Haustüren, Zimmertüren und Behältnisse gewaltsam öffnen.
Die Vollstreckung der einstweiligen Anordnung vor Zustellung an die zur Herausgabe verpflichtete Person ist zulässig. Die Anordnung wird mit Erlass wirksam.

Gründe

1
Das Kind R. lebt derzeit im Haushalt ihrer Großmutter S.
2
Mit Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 19.06.2020 (Az. 101 F 1841/20) wurden der allein sorgeberechtigten Mutter J. im Wege der einstweiligen Anordnung das Recht zur Aufenthaltsbestimmung, die Gesundheitsfürsorge, das Recht zur Beantragung von Leistungen gemäß den Sozialgesetzbüchern und die Vertretung gegenüber Einrichtungen zur Kindesbetreuung als Teilbereiche der elterlichen Sorge für das Kind R. entzogen, Ergänzungspflegschaft angeordnet und das Jugendamt der Stadt N. als Ergänzungspfleger ausgewählt. Nach Durchführung der mündlichen Verhandlung hat das Amtsgericht Nürnberg mit Beschluss vom 20.07.2020 den Beschluss vom 19.06.2020 aufrechterhalten. Die Kindsmutter hatte gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt, diese jedoch am 29.09.2020 zurückgenommen.
3
Eine Vollstreckung des Beschlusses vom 19.06.2020 war zunächst nicht möglich, da das Kind, die Mutter und die Großmutter unauffindbar waren. Im Anschluss an die im Termin am 20.07.2020 durchgeführte Kindesanhörung wurde das Kind an den Ergänzungspfleger herausgegeben und in der Kindernotwohnung untergebracht.
4
Im weiteren Verlauf kehrte das Kind im August 2020 in den Haushalt der Großmutter zurück. Aufgrund der zunächst positiven Entwicklung des Kindes im Haushalt der Großmutter wurde die Großmutter ab November 2020 als Pflegemutter geprüft und erhielt seit November entsprechenden Leistungen durch das Jugendamt.
5
Bereits ab September 2020 begann das Kind eine Therapie in der Praxis D. zur Verarbeitung traumatischer Erlebnisse, u.a. wegen des Verdachts sexuellen Missbrauchs im Frauenhaus (Mai/Juni 2020). Diese Praxis war von der Großmutter selbst ausgesucht worden.
6
Die Kinder- und Jugendpsychiaterin Frau D. kam mit zunehmender Dauer der Behandlung zu der Überzeugung, dass ein (teilstationärer) Aufenthalt des Kindes in der Tagesklinik der Kinder- und Jugendpsychiatrie Nürnberg erforderlich sei, um eventuelle Angstzustände des Kindes zu erfassen, zu bewerten und ggf. andere oder wirkungsvollere Behandlungsmöglichkeiten zu erkennen und zu empfehlen.
7
Zunächst hatte die Großmutter selbst einen ersten Termin in der Tagesklinik im September 2021 vereinbart. Der Termin wurde dann wegen der Kindergarteneingewöhnung im Kinderhaus H. auf November verschoben. Dieser Termin wurde dann von der Großmutter ohne weitere Rücksprache mit der Ergänzungspflegerin endgültig abgesagt und die Vereinbarung eines neuen Termins verweigert.
8
In der fachärztlichen Stellungnahme vom 21.12.2021 sprach sich die Kinder- und Jugendpsychiaterin Frau D. nunmehr dringend für einen stationären Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Erlangen aus. Es bestehe eine Anpassungsstörung und der Verdacht eines Münchhausen-by-Proxy-Syndroms.
9
Die Ergänzungspflegerin hält eine sofortige Herausnahme aus dem Haushalt der Großmutter für erforderlich. Nur in einer neutralen Umgebung ohne Einflussnahme der Großmutter und der Eltern könne herausgefiltert werden, welche Störungen und Panikattacken das Kind aufweist und welchen Anteil möglicherweise die betreuende Person hieran hat.
10
Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit aller beteiligter Fachkräften – Erzieher der Kindergärten, Betreuer des begleiteten Umgangs, ASD-Mitarbeiter, Ergänzungspfleger, Ärzte und Therapeuten – mit der Großmutter sei nicht mehr möglich. Die Großmutter entziehende das Kind dem Zugriff der Fachkräfte, den empfohlenen Behandlungen sowie der neutralen Einschätzung der tatsächlichen Schädigungen des Kindes.
11
Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf den Bericht der Ergänzungspflegerin vom 01.04.2022 sowie auf die Verfahrensakten 101 F 1841/20, 101 F 1478/20, 101 F 712/20 Bezug genommen.
12
Die Herausgabeverpflichtung beruht auf § 1632 Abs. 1 BGB.
13
Die Ergänzungspflegerin (Jugendamt der Stadt N.) ist Inhaberin des Aufenthaltsbestimmungsrechts für das Kind. Dieses beinhaltet das Recht, die Herausgabe des Kindes von jedem zu verlangen, der es widerrechtlich vorenthält.
14
Die Ergänzungspflegerin kann daher die Herausgabe des Kindes von der Großmutter und jedem Dritten, bei dem sich das Kind aufhält, verlangen.
15
Aufgrund des Verhaltens der Großmutter, welche derzeit eine Zusammenarbeit mit dem Jugendamt verweigert und den Geschehnissen in der Vergangenheit ist davon auszugehen, dass die Großmutter sich der Herausnahme des Kindes aus ihrem Haushalt widersetzen wird, sodass gegebenenfalls auch die Hinzuziehung der Polizei notwendig werden wird. Im Mai 2020 musste das Kind bereits schon einmal aus dem Haushalt der Großmutter herausgenommen werden, um es anschließend mit der Kindsmutter im Frauenhaus unterzubringen. Hier hatte die Großmutter massive Gegenwehr geleistet, weshalb Polizeikräfte hinzugezogen werden mussten.
16
Die Anordnung des unmittelbaren Zwangs beruht auf § 90 FamFG. Die Anordnung war zu treffen, weil eine alsbaldige Vollstreckung der Entscheidung unbedingt geboten ist und die Festsetzung von Ordnungsmitteln keinen ausreichenden Erfolg verspricht.
17
Die Durchsuchungsanordnung hat ihre Grundlage in § 91 FamFG. Sie erscheint notwendig, um durch das Auffinden die Vollstreckung zu ermöglichen.
18
Die Entscheidung über die Zulässigkeit der Vollstreckung der einstweiligen Anordnung vor Zustellung an die verpflichtete Person beruht auf § 53 Abs. 2 FamFG.