Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 22.03.2022 – AN 18 K 20.02169
Titel:

Verfristete Klage gegen Beihilfebescheid

Normenketten:
VwGO § 73 Abs. 3, § 74
VwZG § 4
ZPO § 416
BGB § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 1
VwVfG § 31 Abs. 1
Leitsätze:
1. Die 3-Tages-Fiktion nach § 4 Abs. 2 S. 2 VwZG kann an einem Sonntag enden, ohne dass sie bis zum nächsten Werktag zu verlängern wäre. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Zustellung eines Übergabeeinschreibens kann an einen Ersatzempfänger, hier den Pförtner im Eingangsbereich einer Kanzlei, erfolgen; dann ist es unerheblich, dass die Kanzleimitarbeiterin das Schreiben erst am nächsten Werktag mit dem Kanzleistempel versehen hat. (Rn. 25 und 27 – 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Klagefrist für eine Verpflichtungsklage, ordnungsgemäße Zustellung eines Widerspruchsbescheids, Übergabeeinschreiben, 3-Tages-Fiktion, Ersatzzustellung, Beweiswert eines Sendungsnachweises, Privatkunde, Entgegennahme durch einen Pförtner, Kanzleistempel, Klagefrist, Zustellung, Sendungsnachweis, Privaturkunde, Pförtner, Sonntag
Fundstelle:
BeckRS 2022, 12630

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.  Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.
3. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten über die Beihilfefähigkeit von ärztlichen Aufwendungen im Zusammenhang mit der operativen Behandlung einer sogenannten Schlafapnoe. Der Kläger ist Versorgungsempfänger und als solcher in Höhe von 70 v.H. gegenüber dem Beklagten beihilfeberechtigt.
2
Mit Beihilfeantrag vom 23. Juni 2020 beantragte der Kläger die Gewährung von Beihilfe u.a. für die Aufwendungen auf Grund der Rechnung vom 22. Juni 2020 der …Clinic …, … …, … … in Höhe von insgesamt 10.907,89 EUR.
3
Mit Beihilfebescheid vom 29. Juni 2020 setzte der Beklagte beihilfefähige Aufwendungen in Höhe von 4.073,66 EUR und unter Zugrundelegung eines Beihilfebemessungssatzes in Höhe von 70 v.H. eine Beihilfe von 2.851,56 EUR fest.
4
Mit Schreiben vom 27. Juli 2020 ließ der Kläger Widerspruch erheben.
5
Unter dem 9. September 2020 half die Beihilfestelle dem Widerspruch insoweit ab, als nunmehr beihilfefähige Aufwendungen in Höhe von 8.056,33 EUR anerkannt und eine Beihilfe in Höhe von 5.639,43 EUR festgesetzt wurden (Bl. 38 ff. der Behördenakte). Auf dem als „Entwurf“ gekennzeichneten Bescheid ist folgender handschriftlicher Vermerk vorgenommen worden:
„v: 9.9.“, welcher mit einem Namenszeichen versehen ist. Unter Blatt 45 der Behördenakte findet sich der „Einlieferungsbeleg Zusatzleistungen national und international für vorbereitete Sendungen“. Darauf ist handschriftlich folgender Vermerk angebracht: „vers. 10.09.20“. Unter der „Lfd. Nr.“ 8 der „Versandliste - nur für Ihre interne Dokumentation“ ist die Adresse des Klägerbevollmächtigten eingetragen und folgende Sendungsnummer vermerkt: „…“. Dahinter ist handschriftlich folgendes Aktenzeichen angebracht worden: „…“. Blatt 47 der Behördenakte enthält unter der Sendungsnummer … eine Empfangsbestätigung unter dem 12. September 2020, welche unterzeichnet worden ist durch den „Empfangsberechtigten“: „Herr W* …“.
6
Mit bei Gericht am 14. Oktober 2020 eingegangenem Schriftsatz ließ der Kläger Klage erheben und begründen. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Klageschrift Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 24. November 2020 nahm der Beklagte Stellung und führte aus, dass die Klage bereits unzulässig sei, da der Kläger die Klagefrist versäumt habe. Der mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrungversehene Widerspruchsbescheid vom 9. September 2020 sei dem Klägerbevollmächtigten ausweislich des Auslieferungsbelegs am 12. September 2020 zugestellt worden. Die Klagefrist von einem Monat habe daher am Montag, den 12. Oktober 2020 um 24.00 Uhr geendet. Die Klage sei jedoch erst mit Schriftsatz vom 13. Oktober 2020, eingegangen bei Gericht am 14. Oktober 2020, mithin nach Ablauf der Frist erhoben worden. Selbst wenn gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG davon auszugehen sei, dass die Zustellung erst am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bewirkt anzusehen sei, sei diese spätestens am 13. September 2020 erfolgt. Für die Zustellungsfiktion sei unerheblich, dass der 13. September 2020 ein Sonntag gewesen sei (unter Hinweis auf BPatG München, B.v. 25.5.2020 - 11 W (pat) 39/19 - juris Rn. 20. VG Augsburg, B.v. 20.2.2020 - Au 6 20.30213 - juris Rn. 24). Sofern die Drei-Tages-Fiktion bestritten werde, müsse substantiiert ein abweichender Geschehensablauf dargelegt werden. Der auf dem Widerspruchsbescheid angebrachte Eingangsstempel vom 14. September 2020 sei nicht geeignet, den gegenüber der Post bestätigten Empfang am 12. September 2020 und damit spätestens am 13. September 2020 in Frage zu stellen.
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Die Klägerseite erwiderte darauf mit Schriftsatz vom 6. April 2021, dass der Widerspruchsbescheid erst am 14. September 2020 zugestellt worden sei. Der Beklagte könne sich nicht mit Erfolg auf die Drei-Tages-Fiktion des § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG berufen. Zwar habe der Beklagte richtig ausgeführt, dass die reine Behauptung, der Bescheid sei zu einem späteren Zeitpunkt zugestellt worden, nicht ausreiche, diese Fiktion zu entkräften. Durch den Kanzleistempel sei vorliegend belegt, dass der Widerspruchsbescheid am 14. September 2020 eingegangen sei. Nach dem ständigen kanzleiinternen Verwaltungsablauf sei es ausgeschlossen, dass der Bescheid zu einem früheren Zeitpunkt zugegangen sei. Die Post werde stets noch am selben Tag von der allein für die Post zuständigen Rechtsanwaltsfachangestellten kanzleiintern erfasst. Hierzu werde die Post mit dem Eingangsdatum abgestempelt und anschließend die Fristen notiert.
9
Auf Nachfrage des Gerichts teilte der Klägerbevollmächtigte mit, dass ein Herr W* … kanzleiintern nicht beschäftigt sei. Kanzleiintern sei auch ein Empfangsbekenntnis vom 12. September 2020 nicht dokumentiert worden.
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Insoweit führte der Beklagte aus, dass die Angaben des Klägerbevollmächtigten nicht überprüft werden könnten. Diese stünden der Tatsache nicht entgegen, dass ausweislich der vorgelegten Nachweise (Bl. 45 bis 47 der Behördenakte) der Widerspruchsbescheid am 12. September 2020 an die Adresse des Klägerbevollmächtigten zugestellt worden sei. Der als Empfänger bezeichnete Unterzeichner des Empfangsbekenntnisses könne auch, ohne in einem Beschäftigungsverhältnis zur Kanzlei zu stehen, zur Annahme der für die Kanzlei bestimmten Post berechtigt sein. Angaben, wie der Widerspruchsbescheid in den Machtbereich der Kanzlei habe gelangen können, ohne dass ein dort beschäftigter Mitarbeiter den Empfang gegenüber dem Postdienstleister quittiert habe, seien bislang nicht gemacht worden. Der lediglich kanzleiinterne Eingangsstempel könne die quittierte Zustellung nicht entkräften.
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In der mündlichen Verhandlung am 22. März 2022 gab der Klägerbevollmächtigte an, dass die Kanzlei samstags nicht besetzt sei. Die Kanzlei befinde sich in einem Geschäftsgebäude, im „… Center“ in … Dort gebe es einen Eingangsbereich mit Pförtner, wo sich auch die Briefkästen befänden. Postzusteller gelangten als erstes in diesen Eingangsbereich, in dem sich links ein Tisch befinde, an dem der Pförtner sitze. Ob am Samstag, den 12. September 2020 ein Pförtner anwesend gewesen sei, wisse er nicht. Ob es sich bei Herrn W* … um den Pförtner handle, könne er nicht sagen, es könne aber sein. Der Klägerbevollmächtigte wies ausdrücklich darauf hin, dass der Pförtner nicht berechtigt sei, Postsendungen für die Kanzlei entgegenzunehmen. Insbesondere dürfe der Pförtner keine Empfangsbestätigung für die Kanzlei abgeben. An einem Samstag könne man das Gebäude nur betreten, wenn einem von innen geöffnet würde. Auf ein Klingeln öffne der Pförtner die Tür. Als angestellter Rechtsanwalt habe er mit dem konkreten Postlauf innerhalb der Kanzlei bislang nichts zu tun gehabt. Er wisse daher nicht, wer Postsendungen annehme und auch annehmen dürfe.
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Nach Vertagung der Entscheidung trug der Klägerbevollmächtigte durch Schriftsatz vom 4. April 2020 vor, dass am 12. September 2020 Frau B* … S* … von 8:00 Uhr bis 12:00 Uhr Dienst an der Pforte gehabt habe. Ein Herr W* … sei bei den Mitarbeitern im Eingangsbereich nicht bekannt.
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Der Beklagte erwiderte mit Schriftsatz vom 14. April 2020, dass es sich bei der Empfangsbestätigung um eine private Urkunde im Sinne von § 416 ZPO handle, welche den vollen Beweis der Auslieferung begründe, jedoch durch den Gegenbeweis der unrichtigen Beurkundung widerlegt werden könne. Diesen Beweis habe die Klägerseite nicht erbringen können, weil insbesondere der Eingangsstempel der Kanzlei für den Gegenbeweis ungeeignet sei. Zudem sei nach wie vor nicht nachvollziehbar, wie eine weiterhin unbekannte Person in der Lage gewesen sei, für den Klägerbevollmächtigten Post anzunehmen. Dies zeuge von einem Organisationsverschulden der Kanzlei, welches diese sich zurechnen lassen müsse, da für einen Rechtsanwalt als einem unabhängigen Organ der Rechtspflege gesteigerte Verpflichtungen bestünden, Vorkehrungen für einen zeitnahen und ordnungsgemäßen Zugang von Schriftstücken zu treffen.
14
Die Beteiligten verzichteten übereinstimmend auf weitere mündliche Verhandlung.
15
Der Kläger ließ zuletzt beantragen,
den Bescheid des Beklagten vom 29. Juni 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. September 2020 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger Beihilfe in Höhe von 1.996,00 EUR zu gewähren.
16
Der Beklagte beantragte
Klageabweisung.
17
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

18
Über den Rechtsstreit konnte aufgrund des schriftsätzlich erklärten Verzichts der Beteiligten auf weitere mündliche Verhandlung nach Vertagung der Entscheidung in der mündlichen Verhandlung am 22. März 2022 im schriftlichen Verfahren entschieden werden, § 101 Abs. 2 VwGO.
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Gegenstand der vorliegenden Klage ist der Widerspruchsbescheid des Bayerischen Landesamts für Finanzen mit dem Geschäftszeichen … vom 9. September 2020, soweit der Beklagte darin dem am 27. Juli 2020 erhobenen Widerspruch gegen den Beihilfebescheid vom 29. Juni 2020 nicht abgeholfen hat. Es handelt sich demnach um eine Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage, § 42 Abs. 2 Alt. 2 VwGO.
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Die am 14. Oktober 2020 erhobene Klage erweist sich jedoch bereits als unzulässig und war daher abzuweisen, da gemäß § 74 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 VwGO die Verpflichtungsklage innerhalb eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheids erhoben werden muss.
21
Nach Auffassung der Kammer gilt der streitgegenständliche Widerspruchsbescheid als am 13. September 2020 zugestellt, so dass die Klagefrist durch Erhebung der Klage erst am 14. Oktober 2020 nicht gewahrt wurde.
22
I. Ein Widerspruchsbescheid ist gemäß § 73 Abs. 3 Satz 1 VwGO zuzustellen, und zwar gemäß Satz 2 von Amts wegen nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes des Bundes (VwZG). Dies gilt auch, wenn wie vorliegend eine Landesbehörde Widerspruchsbehörde ist. Gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 VwZG hat die Behörde dabei die Wahl zwischen den einzelnen Zustellungsarten. Vorliegend hat sich die Widerspruchsbehörde für die Zustellungsform des Einschreibens durch Übergabe gemäß § 4 Abs. 1 Alt. 1 VwZG entschieden und mit Hilfe des eingesetzten Postdienstleisters (Deutsche Post) ordnungsgemäß durchgeführt, so dass die Zustellung bereits als am 13. September 2020 bewirkt anzusehen ist. Insbesondere enthält die behördliche Akte auf Blatt 45 den handschriftlichen Vermerk darüber, wann die Sendung zur Post gegeben wurde, und entspricht damit der Vorgabe gemäß § 4 Abs. 2 Satz 4 VwZG („vers. 10.09.20“).
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II. Gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG gilt ein Dokument am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als zugestellt, es sei denn, dass es nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Ausweislich der vorgelegten Behördenakte wurde der Widerspruchsbescheid vom 9. September 2020 mit dem Geschäftszeichen … am 10. September 2020 zur Post aufgegeben. Der Tag der Aufgabe zur Post ist dabei das fristauslösende Ereignis zur Berechnung der 3-Tages-Fiktion im Sinne von § 187 Abs. 1 BGB i.V.m. § 31 Abs. 1 VwVfG und wird bei der Berechnung nicht mitgerechnet (Sadler/Tillmanns, VwVG/VwZG, 10. Aufl. 2020, § 4 - juris Rn. 20 m.w.N.). Die 3-Tages-Fiktion endete somit am 13. September 2020, § 188 Abs. 1 BGB i.V.m.§ 31 Abs. 1 VwVfG.
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1. Der 13. September 2020 war zwar ein Sonntag, was jedoch bereits nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG unerheblich ist. Die 3-Tages-Fiktion begründet zudem einen - ggf. fristauslösenden - Zeitpunkt und gerade keine Zeitspanne. Bei einer Zeitspanne, welche eine gesetzliche oder behördliche Frist umfasst, ist in der Regel vorgesehen, dass für den Fall, dass das Fristende auf einen Sonntag fällt, die Frist bis zum nächsten Werktag zu verlängern ist, so beispielsweise § 31 Abs. 3 Satz 1 VwVfG. Dafür besteht im Rahmen der Fiktion eines Zeitpunkts jedoch kein Bedürfnis und ist dementsprechend dem Wortlaut des § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG nach auch nicht vorgesehen. Diese Sichtweise entspricht der überwiegenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung (u.a. Sadler/Tillmanns, a.a.O. - juris Rn. 19, unter Hinweis auf VGH München, B.v. 23.7.1990 - GRS 1/90, VGHE 43, 147; BSG, U.v. 19.3.1957 - 10 RV 609/56, BSGE 5, 53 und weitere Nachweise).
25
2. Die Zustellung eines Übergabeeinschreibens hat grundsätzlich an den Adressaten der Sendung zu erfolgen. Zwar verweist § 4 VwZG anders als beispielsweise § 3 VwZG nicht auf die Vorschriften zur Ersatzzustellung gemäß § 177 ff. ZPO. Dennoch ist allgemein anerkannt, dass auch im Rahmen eines Übergabeeinschreibens, welches nicht mit der Zusatzoption „eigenhändig“ versandt wird, die Zustellung an bestimmte Ersatzempfänger möglich ist. Unabhängig von der Frage, ob sich dies aus den allgemeinen Geschäftsbedingungen des privaten Postdienstleisters (§ 2 Abs. 2 Satz 1 VwZG) ableiten lässt oder aus dem Rechtsgedanken des § 130 Abs. 1 BGB (so beispielsweise BeckOK, VwVfG, Bader/Ronellenfitsch, 54. Edition, Stand: 1.10.2019, § 4 VwZG - Beckonline Rn. 8), ist richtigerweise von der Möglichkeit der Ersatzzustellung auszugehen. Andernfalls wäre eine effektive Verwaltungspraxis im Bereich des Übergabeeinschreibens nicht gewährleistet, und aus dem einfachen Übergabeeinschreiben würde ohne zwingenden gesetzlichen Grund letztlich regelmäßig ein sog. eigenhändiges Übergabeeinschreiben.
26
3. Nach dem Gesamtergebnis der mündlichen Verhandlung und dem schriftlichen Vorbringen der Beteiligten steht zur Überzeugungsgewissheit der Kammer fest (§ 108 Abs. 1 Satz VwGO), dass der Widerspruchsbescheid vom 9. September 2020 bereits am 12. September 2020 in den Machtbereich des Klägerbevollmächtigten gelangt und die 3-Tages-Fiktion damit nicht widerlegt ist. Das Gericht bezieht sich insoweit maßgeblich auf den in der Behördenakte auf Blatt 47 enthaltenen Sendungsstatus über die Sendungsnummer …, welches die Sendungsnummer für das an die Deutsche Post übergebene Einschreiben des Beklagten darstellt. Ausweislich dessen ist der eingeschriebene Widerspruchsbescheid am 12. September 2020 zugestellt worden. Die seitens des Klägerbevollmächtigten erhobenen Einwände sind nicht geeignet, die 3-Tages-Fiktion zu widerlegen (im Folgenden Buchst. a) bis b)).
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a) Soweit der Klägerbevollmächtigte vorträgt, der auf dem Einschreiben angebrachte Stempel belege, dass der Widerspruchsbescheid erst an diesem Tag, also am Montag, den 14. September 2020 eingegangen sei, ist dem Folgendes entgegenzuhalten: Bei dem in der Behördenakte befindlichen Sendungsstatus handelt es sich um eine Privaturkunde im Sinne von § 416 ZPO, welche den vollen Beweis dafür begründet, dass die in ihr enthaltene Erklärung, nämlich, dass Herr W* … die Sendung am 12. September 2020 entgegengenommen hat, von diesem tatsächlich abgegeben worden ist. Der Beweiswert ist damit zwar gegenüber einer öffentlichen Urkunde insoweit geringer, als diese den vollen Beweis ihres Inhalts bzw. der darin bezeugten Tatsachen begründen würde (§§ 417, 418 ZPO), also, dass Herr W* … nicht nur die Erklärung abgegeben hat, sondern auch, dass er die Sendung entgegengenommen hat. Eine solche öffentliche Urkunde mit dem geschilderten Beweiswert liegt gerade nicht vor. Allerdings ist der bloße Vortrag des Klägerbevollmächtigten, ein Herr W* … sei nicht bekannt und am 12. September 2020 habe Frau B* … S* … Dienst an der Pforte gehabt, nicht geeignet den Beweis, dass Herr W* … unterschrieben und die Erklärung abgegeben hat, zu widerlegen. Denn unabhängig von der Frage, wer Herr W* … ist und in welcher Funktion dieser die Erklärung, dass er die Sendung entgegengenommen habe, abgegeben hat, stellt die bewiesene und nicht widerlegte Tatsache der Abgabe der Erklärung ein starkes, durch die Einlassungen des Klägerbevollmächtigten nicht erschüttertes Indiz dafür dar, dass der Widerspruchsbescheid am 12. September 2020 an einen Ersatzbevollmächtigten der Kanzlei des Klägerbevollmächtigten zugestellt worden ist.
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Insbesondere der ins Feld geführte Kanzleistempel datierend auf den 14. September 2020 stellt keinen Gegenbeweis für die Tatsache dar, dass Herr W* … die Erklärung abgegeben hat. Hier wäre der volle Gegenbeweis zu führen. Es erscheint zwar wiederum nachvollziehbar, dass nach normalem Geschäftsgang eine an einem Samstag eingegangene Sendung dem jeweiligen Bearbeiter erst am darauffolgenden Arbeitstag vorgelegt wird. Darauf kommt es jedoch vorliegend nicht an. Denn maßgeblich ist im Rahmen von § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG allein, ob die Übergabe an eine im Empfangsbereich befindliche Person dem Kläger zurechenbar ist. Zwar bleibt nach dem Vorbringen der Beteiligten und nach Aktenlage - auch nach Durchführung der mündlichen Verhandlung und der nachgelassenen Schriftsatzfrist - unklar, wer die Person gewesen ist, welche unter dem Namen W* … die Empfangsbestätigung vom 12. September 2020 unterzeichnet hat. Da an dem Tage nach Angaben des Klägerbevollmächtigten eine (bereits im Ruhestand befindliche) Beschäftigte mit dem Namen S* … Dienst an der Pforte gehabt habe, liegt aufgrund der Namensähnlichkeit die Vermutung nahe, dass der Postzusteller den Namen und das Geschlecht des oder der Empfangsberechtigten wohl versehentlich falsch notiert hat. Auf der anderen Seite erinnert die Unterschrift auf dem Sendungsstatus deutlicher an den Namen W* … als an den Namen S* … Darauf kommt es vorliegend jedoch nicht an. Denn in Ermangelung hinreichend konkreten und substantiierten Sachvortrages seitens des Klägerbevollmächtigten steht zur Überzeugungsgewissheit des Gerichts fest, dass das Einschreiben am 12. September 2020 im Machtbereich des Empfängers an eine Person, welche sich im Bereich der Pforte aufgehalten hat, gelangt ist. Diese Person hat das Einschreiben offenbar dem üblichen Geschäftsablauf entsprechend an die Kanzlei des Klägerbevollmächtigten weitergeleitet, so dass die Kanzleiangestellte das Schreiben am nächsten Arbeitstag öffnen und an den zuständigen Sachbearbeiter weiterleiten konnte. Der verwendete Stempel mit dem Datum 14. September 2020 entspricht nicht dem tatsächlichen Tag des Zugangs und weicht auch von dem Datum unter Anwendung der 3-Tages-Fiktion ab. Diese Abweichung muss sich der Kläger jedoch zurechnen lassen.
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b) Doch auch der Inhalt der Urkunde, dass jemand, der nicht zwingend den Namen W* … tragen muss, die Sendung am 12. September 2020 im Machtbereich der Kanzlei des Klägerbevollmächtigten entgegengenommen hat, steht zur Überzeugung der Kammer fest. Denn nach den Schilderungen des Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung am 22. März 2022 entspricht es dem in der Kanzlei üblichen bzw. ihr zurechenbaren Geschäftsgang, dass Postzusteller zunächst in den Eingangsbereich des Geschäftsgebäudes gelangen. In diesem Eingangsbereich sitzt nach den Angaben des Klägerbevollmächtigten werktags in der Regel ein Pförtner an einem ihm zugewiesenen Tisch, der sich wohl im Bereich der Briefkästen befindet. An einem Samstag, an dem die Kanzlei üblicherweise nicht besetzt sein soll, erhält ein Postzusteller durch Klingeln nach Öffnen durch den Pförtner Zutritt zu dem Gebäude. Ein Pförtner ist bereits nach allgemeinem Sprachgebrauch dafür zuständig, alle Angelegenheiten, welche mit dem Zugang zu einem Gebäude („Pforte“) zu tun haben, abzuwickeln. Eingangs- und Empfangsbereich fallen in der Regel, aber auch im vorliegend Fall, funktional und räumlich zusammen. Dass ein Pförtner, der zudem seinen Arbeitsplatz direkt neben den Briefkästen hat, nicht auch für die Entgegennahme von Postsendungen befugt sein soll, wie dies seitens des Klägerbevollmächtigten behauptet, aber nicht hinreichend konkret und substantiiert dargelegt wurde, widerspricht bereits allgemeiner Lebenserfahrung und den in einem Geschäftshaus üblichen Gepflogenheiten. Der Klägerbevollmächtigte hat seine Darstellung nicht etwa mit einer schriftlichen Anweisung der Kanzleiinhaber oder durch Vorlage einer entsprechenden vertraglichen Regelung belegt, so dass auch diese Darstellung nicht geeignet ist, die 3-Tages-Fiktion zu entkräften.
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Nach alledem steht zur Überzeugungsgewissheit des Gerichts fest, dass das Einschreiben am 12. September 2020 in den Machtbereich des Empfangsberechtigten, also des Klägerbevollmächtigten, gelangt ist.
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4. Zwar tritt die Zustellfiktion gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG nicht ein, wenn das eingeschriebene Dokument nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Ein früherer Zugang wie vorliegend schadet indes nicht; vielmehr ist auch in einem Fall, wenn wie vorliegend ein früherer Zugang dokumentiert ist, vom Eintritt des fristauslösenden Ereignisses erst mit Ablauf des dritten Tages nach der Aufgabe zur Post auszugehen.
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III. Die Zustellung gilt damit als am 13. September 2020 bewirkt. Der Widerspruchsbescheid ist zudem mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrungversehen, insbesondere ist richtigerweise von der Zustellung des Widerspruchsbescheids und nicht nur von dessen Zugang die Rede. Ausgehend von dem fristauslösenden Ereignis, der Zustellung des Widerspruchsbescheids am 13. September 2020, begann die einmonatige Klagefrist am 14. September 2020 zu laufen und endete am 13. Oktober 2020. Mithin erfolgte die Klageerhebung erst am 14. Oktober 2020 einen Tag zu spät und damit außerhalb der Klagefrist des § 74 VwGO.
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IV. Nach alledem erweist sich die erhobene Verpflichtungsklage bereits als unzulässig und war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO, die Streitwertfestsetzung aus§ 52 Abs. 3 GKG.